Als am 31. August Staatsgäste aus aller Welt auf dem Platz vor der ehemaligen Leninwerft in Gdansk (Danzig) des 25. Jahrestages der Unterzeichnung der sogenannten "Danziger Verträge" und der Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc gedachten, blieb die nunmehr privatisierte Werft aus Sicherheitsgründen geschlossen. Die WerftarbeiterInnen verloren einen Tageslohn und werden den Verdienst durch Überstunden an anderen Tagen ausgleichen müssen.
Bereits am 14. August, dem Datum des Streikbeginns vor 25 Jahren, protestierten vor den Toren der Danziger Werft mehr als 1000 WerftarbeiterInnen für bessere Arbeitsbedingungen und „ein würdiges Leben“.
Wie vor 25 Jahren brachten sie an dem Werfttor Nummer 2 ein Schild mit ihren Forderungen an und unterschrieben es als Komitee zur Verteidigung der Danziger Werft NSZZ „Solidarnosc“.
Der für seine antisemitischen Ansichten bekannte Pfarrer Henryk Jankowski hielt in der Hl. Brigide eine Messe, in der er, anknüpfend an seine damaligen Gottesdienste zur Unterstützung der Streikenden, mit den „Feinden“ Polens abrechnete:
„Ein Schauer überkommt mich, wenn uns Gesetze aufgezwungen werden, die in katholisch-feindlichen Freimaurer-Kammern, von jüdischen Bankiers oder atheistischen Sozialisten erschaffen werden.“
Als die WerftarbeiterInnen nach der Messe vor das Denkmal der im Dezember 1970 ermordeten Arbeiter zogen, begrüßten sie dort anwesende Gründer der Solidarnosc, Bronislaw Geremek, Tadeusz Mazowiecki und Bogdan Lis mit: „Da kommen die Juden – Fort nach Brüssel!“
Keine Genugtuung brachte dabei die Erklärung des einstigen Gewerkschaftsführers Lech Walesa, er wolle aus der Solidarnosc austreten: „… weil es sich nicht mehr um die Organisation von früher handelt“.
Die Feierlichkeiten, welche am 31. August ihren Höhepunkt erreichen sollten, werden von einer Debatte um das Copyright für die Revolution und deren Erbe überschattet. Eine nüchterne Bilanz wird nur von den Arbeitslosen gezogen. Sie ist jedoch durch den starken Einfluss der katholischen Kirche nicht von antisemitischer Hetze befreit.
Aus der Revolution der ArbeiterInnen wurde eine Restauration des Kapitalismus und der Vor-Kriegsverhältnisse in Polen. Die Logik eines solchen Evolutionsprozesses hat bekanntlich Karl Marx bereits in seiner Broschüre „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ untersucht.
Der Streit zwischen Mitgliedern der Solidarnosc ist fast so alt wie die Gewerkschaft selbst. Er resultiert aus der Notwendigkeit, nach den Niederlagen der Arbeiterproteste 1956, 1970 und 1976 eine breite gesellschaftliche Erneuerungsbewegung zu gestalten. Der Kompromiss zwischen ArbeiterInnen und Intellektuellen ging einher mit der Bündelung heterogener und widersprüchlicher Kräfte. Die verschiedenen Gruppen der Gewerkschaft besaßen unterschiedliche Zielvorstellungen, die sie auch auf eine eventuelle System- und Gesellschaftsumwälzung projizierten. Die Stärke der Gewerkschaft begründete somit zugleich deren Schwäche.
Den gegenwärtigen Deutungs-Diskurs der Evolution der Solidarnosc untersuchte auf Einladung der Zeitschrift „telegraph“ Przemys³aw Wielgosz, polnischer Schriftsteller, Journalist und Mitherausgeber der Zeitschrift „Lewa Noga“. Das Instytut Pamieci Narodowej, die polnische Gauck-Behörde, veröffentlichte zu den Gedenkveranstaltungen ein Sonderbulletin mit allen Ausgaben der Gewerkschaftszeitschrift „Tygodnik Solidarnosc“ von 1981. Es fehlt lediglich die Ausgabe Nummer 29 mit dem dort veröffentlichten „Programm zur Selbstverwaltung der Betriebe“, die auf dem I. Gewerkschaftstag der Solidarnosc, entgegen den Vorschlägen des damaligen Gewerkschafts-Vorstands, angenommen wurde. Das Dokument war das wichtigste der Gewerkschaft und ein bedeutungsvolles Zeitdokument für die revolutionäre Stimmung im ganzen Land.
Damit soll, so Wielgosz, die einstige Massenbewegung, die um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kämpfte, in eine zahnlose religiöse Prozession umdefiniert werden, und es soll so von den heutigen sozialen Problemen abgelenkt werden.
So wie die Februartage 1848 den Sturz Louis-Philippes und eine Wahlreform bezweckten, wodurch der Kreis der politisch Privilegierten unter der besitzenden Klasse selbst erweitert und die bisherige ausschließliche Herrschaft gestürzt werden sollte, hofften die polnischen ArbeiterInnen 1980, wieder das zu erreichen, was der Sozialismus ihnen versprochen hat: die Qualität eines gesellschaftlichen Subjekts. In dem erwähnten Aufsatz schreibt Marx mit beachtenswerter Aktualität: „Als es aber zum wirklichen Konflikt kam, das Volk auf die Barrikaden stieg, die Nationalgarde sich passiv verhielt, die Armee keinen ernstlichen Widerstand leistete und das Königtum davonlief, schien sich die Republik von selbst zu verstehen.
Jede Partei deutete sie in ihrem Sinn. Von dem Proletariat, die Waffen in der Hand, ertrotzt, prägte es ihr seinen Stempel auf und proklamierte sie als soziale Republik.“
Die zweite Periode der von Marx untersuchten Revolution vom 4. Mai 1848 bis Ende Mai 1849 war die Periode der Konstituierung, der Begründung der bürgerlichen Republik. Diese Phase wurde in Polen durch die Ausrufung des Kriegszustandes 1981-83 und der Internierung der Gewerkschaftsführer zeitlich um einige Jahre (bis zur Aufnahme erster geheimer Gespräche zwischen Regierenden und Opposition in der Villa Magdalenka bei Warschau im September 1988) verschoben.
Darauf folgten offizielle Gespräche am Runden Tisch im Frühjahr 1989 und die ersten halb-freien Wahlen im Juni.
Marx notiert:
„Die Nationalversammlung, die am 4. Mai 1848 zusammentrat, aus den Wahlen der Nation hervorgegangen, repräsentierte die Nation. Sie war ein lebendiger Protest gegen die Zumutungen der Februartage und sollte die Resultate der Revolution auf den bürgerlichen Maßstab zurückführen. (…) Der 15. Mai hatte bekanntlich kein anderes Resultat, als Blanqui und Genossen, d.h. die wirklichen Führer der proletarischen Partei, für die ganze Dauer des Zyklus, den wir betrachten, vom öffentlichen Schauplatz zu entfernen.“
Das Auseinanderbrechen der einst so starken Arbeiterbewegung war damit in Polen bereits vollzogen. Als sich die ArbeiterInnen gegen diese Zumutungen dennoch im Sommer noch einmal aufrafften und sich mit einer Streikwelle wehrten, wurden sie durch die Eliten der nunmehr etablierten Solidarnosc pazifisiert. Karl Marx diagnostizierte: „Der Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft bildet schließlich die heilige Phalanx der Ordnung, und Held Krapülinski zieht in die Tuilerien ein als ‚Retter der Gesellschaft‘„.
Die Niederlage der InsurgentInnen des heißen Sommers 1988 hatte nun allerdings das Terrain vorbereitet und geebnet, worauf die bürgerliche Republik begründet und aufgeführt werden konnte; aber sie hatte zugleich gezeigt, dass es sich in Europa um andere Fragen handelt als um ‚Demokratie oder Diktatur‘.
Schon 1984 protestierte die sich noch im Untergrund befindende Solidarnosc, dass mit polnischer Steinkohle Margaret Thatchers Kampf gegen die britischen Bergarbeiter geführt werde. Polen war nur das erste Opfer der Globalisierung, die nach dem Ende das Kalten Krieges mit der europäischen Lissabon-Strategie, der Bolkestein-Richtlinie und mit Hartz IV ihren Siegeszug fortsetzt.
Der Autor
Kamil Majchrzak ist Mitarbeiter der ostdeutschen oppositionellen Zeitschrift "telegraph" (ehem. "Umweltblätter")