Am 10. August 2005 wurde der türkische Kriegsdienstverweigerer und gewaltfreie Anarchist Mehmet Tarhan (s. GWR 297-301) vom Militärgericht in Sivas zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Karin Fleischmann und Rudi Friedrich (Connection e.V.) nahmen an zwei Verhandlungen als internationale BeobachterInnen teil. Wir sprachen mit ihnen über ihre Motivation und ihre Erfahrungen.
Graswurzelrevolution (GWR): Ihr seid als BeobachterInnen zu dem Prozess gegen Mehmet Tarhan gefahren. Mit welcher Motivation habt Ihr an dem Verfahren teilgenommen?
Karin Fleischmann: Wir waren zu zwei Prozessterminen dort, am 4. und am 10. August. Uns ging es darum, Mehmet zu vermitteln, dass seine Kriegsdienstverweigerung wahrgenommen wird, dass Solidarität aus anderen Ländern kommt. Dort anwesend zu sein, bedeutet, ihn in seiner Entscheidung zu stärken und ihm Mut zu machen. Wir sehen, wie er sich persönlich für die Kriegsdienstverweigerung einsetzt, und vermitteln dies auf internationaler Ebene.
Rudi Friedrich: Darüber hinaus hat sich immer wieder gezeigt, dass internationale Öffentlichkeit auch ein Schutz für die Betreffenden darstellt.
Nach dieser hohen Haftstrafe mag man daran zweifeln. Aber vielfach konnten über die internationalen Aktivitäten Folter verhindert, die Gefängnisbedingungen verbessert oder die erneute Einberufung verhindert werden. Zudem wird in der Türkei die kleine Bewegung der Kriegsdienstverweigerer von den Medien praktisch nicht wahrgenommen. Es gibt zwar mehrere Hunderttausend Wehrpflichtige, die sich dem Militärdienst entziehen. Aber nur etwa 50 Personen haben ihre Verweigerung öffentlich erklärt und sich damit ganz bewusst gegen das Militär und die Militarisierung der Türkei gestellt. Da ist es ungeheuer wichtig, ihnen zu vermitteln, dass ihr Anliegen wichtig und bedeutungsvoll ist.
GWR: Was waren Eure Eindrücke in Sivas?
Karin Fleischmann: Sivas liegt etwa acht Stunden Busfahrt östlich von Ankara – mitten in der Provinz. Kurz vor den beiden Prozesstagen trafen wir dort die bunte Solidaritätsgruppe aus Istanbul.
Rudi Friedrich: Am 4. August machte Mehmet deutlich, dass er das Gericht als nicht zuständig ansah. Ein Militärgericht könne nicht über einen Kriegsdienstverweigerer urteilen. Der Staatsanwalt und das Gericht sahen das anders. Hier stellt sich sogar die Frage, ob das Militär nicht bewusst dafür gesorgt hat, dass Mehmet den Befehl „vor versammelter Mannschaft“ verweigerte, also man die Einheit erst versammelt hat, bevor er die Uniform anziehen sollte. Das hat nämlich eine wesentlich höhere Strafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zur Folge.
Eine „einfache“ Befehlsverweigerung wird hingegen mit bis zu sechs Monaten Haft bestraft.
Karin Fleischmann: Nach dem Urteil am 10. August war die Solidaritätsgruppe richtiggehend geschockt. Niemand von ihnen hatte ein solch hohes Urteil erwartet. Einige hatten sogar darauf gehofft, dass Mehmet freikommen könnte.
GWR: Mehmet versteht sich als Totalverweigerer. Welche Rolle spielte das in der Strategie der Verteidigung?
Rudi Friedrich: Mehmet hat ein umfassendes Verständnis von Kriegsdienstverweigerung. Er sagte während des Prozesses, dass er keinen Militärdienst ableisten, in keiner Armee dienen, für keine hierarchische Organisation arbeiten werde und nicht bereit sei, sich an der Verbreitung der militaristischen Kultur zu beteiligen.
Karin Fleischmann: In der Strategie der Verteidigung spielte das keine Rolle, weil es in der Türkei keinerlei Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, weder für das hiesige allgemeine Verständnis von Kriegsdienstverweigerung, noch für Totalverweigerer. Das macht in der Türkei praktisch keinen Unterschied. Wer den Kriegsdienst verweigert, verweigert damit jeden Dienst. Die Verteidigerinnen wiesen in ihrem Plädoyer auf internationale Beschlüsse zur Kriegsdienstverweigerung hin und folgerten daraus, dass es ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung gäbe und die Türkei Mehmet Tarhan als erklärten Kriegsdienstverweigerer daher nicht wegen Befehlsverweigerung verurteilen dürfe.
GWR: Glaubt Ihr, dass Mehmets öffentliches Bekenntnis, schwul zu sein, ein Grund für dieses maßlose Urteil ist?
Karin Fleischmann: Es ist schon offensichtlich, dass gegen Mehmet in besonderer Weise vorgegangen wird. Es kommt ja hinzu, dass er im Militärgefängnis in Sivas mit Wissen der Gefängnisleitung von anderen Gefangenen misshandelt und bedroht worden ist. Offensichtlich soll mit dem Urteil ein Exempel statuiert werden.
Rudi Friedrich: Die Frage ist nur, an wen richtet sich das? Nur an die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer oder etwa auch an die erstarkende Bewegung von Schwulen, die z.B. in Istanbul relativ aktiv und öffentlich für ihre Rechte einsteht?
Viele Schwule gehen anders als Mehmet mit der Wehrpflicht um und lassen sich ausmustern, was nach einem entwürdigendem Prüfungsverfahren in der Türkei möglich ist. Mehmet hatte sich aber geweigert, wegen seiner Homosexualität ausgemustert zu werden. So ist doch zu vermuten, dass das Militär Mehmet als leichteres Opfer begreift.
Weil er schwul ist, kann er einfacher ausgegrenzt und verfolgt werden, ohne dass das Militär eine größere Solidaritätswelle befürchten müsste. Er kann in doppelter Weise stigmatisiert werden, als Kriegsdienstverweigerer und als Schwuler.
GWR: Wie schätzt Ihr die Situation der Solidaritätsgruppen in der Türkei ein?
Karin Fleischmann: Bislang ist die Gruppe der Kriegsdienstverweigerer und ihrer UnterstützerInnen ein kleiner, vor allen Dingen anarchistischer Zirkel. Sie sind engagiert, stoßen aber sehr schnell an ihre Grenzen. Einige leben praktisch in der Illegalität, sie müssen ständig mit Repressionen des Militärs rechnen. Andere sind hilflos angesichts einer Situation, in der sie nicht wirklich wissen, wie sie Mehmet weiter unterstützen können.
Rudi Friedrich: Es wäre wohl wichtig, eine breitere Basis für die Unterstützung zu organisieren, z.B. die Schwulenbewegung stärker in die Soliarbeit einzubinden oder mehr Menschen zu finden, die sich öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung positionieren.
Karin Fleischmann: Es wäre ja schon hilfreich, wenn in der Türkei das Thema Kriegsdienstverweigerung wirklich diskutiert werden könnte. Es wird schon verstanden, dass es Männer gibt, die nicht zum Militär gehen wollen. Und mehrere Hunderttausend Männer haben sich dem Militärdienst entzogen, sind ins Ausland geflüchtet oder untergetaucht in der Türkei. Aber kaum einer diskutiert über die Verpflichtung zum Militärdienst. Das sei eben ein Muss, dem „mann“ sich zu fügen habe.
GWR: Gab es nach der Verurteilung weitere Aktivitäten der Solidaritätsgruppen in der Türkei?
Rudi Friedrich: Anfang September haben in Istanbul etwa 100 Personen eine Demonstration für Mehmet Tarhan durchgeführt. Zwei weitere haben dort ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt, über 30 Verweigerer, die schon in der Vergangenheit ihre Verweigerung öffentlich machten, bekräftigten diese in Solidarität mit Mehmet.
GWR: Wie können wir Mehmet konkret unterstützen?
Rudi Friedrich: Mehmet muss die Solidarität auch im Knast spüren. Deshalb ist es wichtig, ihm Briefe oder Karten zu schreiben. (1) Darüber hinaus benötigt die Gruppe in Istanbul Geld. Bei Connection e.V. gibt es dafür ein eigenes Konto. Als wir dort waren, konnten wir der Gruppe 1.000 Euro übergeben, ein sehr wichtiger Zuschuss für ihre Arbeit.
Karin Fleischmann: Auf unserer Homepage läuft noch eine Unterschriftenaktion – zumindest bis über die Berufung von Mehmet gegen das hohe Urteil entschieden worden ist. Darüber hinaus gibt es verschiedene Ideen, die wir verfolgen, aber noch nicht konkretisiert haben: Anzeigen in türkischen Zeitungen schalten, über das Europäische Parlament und die Parlamentarische Versammlung des Europarates Druck auf die Türkei ausüben, Aktive aus der Türkei einladen. Über unseren E-Mail-Verteiler informieren wir darüber.
GWR: Im Juli erschien in der GWR 301 ein Artikel von Rudi über die Türkei, die EU, Militarismus und Kriegsdienstverweigerung. Eine Chance auf Veränderungen werde es nur geben, wenn ein stärkerer Druck von unten mobilisiert und öffentlich gemacht werden könne, so Dein Resümee. Wie können wir diesen Druck für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung verstärken?
Rudi Friedrich: Wir sagten ja schon, dass die Gruppe in der Türkei noch relativ klein ist.
Nun steckt sie zudem noch in einer sehr schwierigen Situation, in der es darum gehen muss, längerfristige Perspektiven zu entwickeln. Wir haben erlebt, wie wichtig es für die Gruppe war, dass wir dort waren, an dem Prozess teilgenommen haben und sie auch weiter unterstützen wollen. Für Mehmet wie auch für eine Arbeit von unten ist es unbedingt notwendig, dass die Gruppe internationale Aufmerksamkeit und Solidarität erfährt, damit sie einen langen Atem entwickeln kann.
GWR: Ihr seid seit vielen Jahren in der antimilitaristischen Bewegung aktiv. Wie habt Ihr Euch politisiert?
Karin Fleischmann: Meine erste Auseinandersetzung mit diesen Themen entstand aufgrund der Einplanung von Frauen als Schwesternhelferinnen über die Notstandsgesetzgebung. Das geschieht mit einer Verpflichtung im Rahmen des „Freiwilligen Sozialen Jahres“. Wir haben dazu aufgerufen, dass Frauen ihre Beteiligung daran verweigern – auch nachträglich. Darüber kam ich in München zum Frauenarbeitskreis der DFG-VK und generell zur antimilitaristischen Arbeit.
Rudi Friedrich: Ich empfand es als Zumutung in ein Gewaltsystem eingebunden werden zu sollen: Der Job der Soldaten ist es, andere umzubringen. Deswegen war für mich schon früh klar, dass ich den Kriegsdienst verweigern wollte.
Darüber hinaus stellte ich fest, dass die Verweigerung oder Desertion gerade in einem Krieg ein ganz zentrales Element des Militärs angreift: das Befehls- und Gehorsamsprinzip. Daher kann die individuelle Entscheidung zur Verweigerung eine enorm große Bedeutung haben und ist ein wichtiger Teil der Arbeit gegen den Krieg.
GWR: Was war für Euch der Anlass, vor zwölf Jahren den Verein Connection zu gründen?
Rudi Friedrich: Wir haben gesehen, dass die internationale Arbeit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure zu umfangreich wurde, um sie ehrenamtlich zu leisten. Es ist ja auf der einen Seite die Solidaritätsarbeit mit Verweigerern in anderen Ländern wie mit Mehmet Tarhan. Auf der anderen Seite beraten und unterstützen wir Flüchtlinge, die vor der Rekrutierung geflohen sind und denen der asylrechtliche Schutz in der Regel verwehrt wird. Wir waren geradezu erstaunt, wie viele es sind: aus Russland, dem ehemaligen Jugoslawien, den USA, Algerien, Türkei usw. Das machen wir mit Connection e.V. gezielt zum Thema.
GWR: Herzlichen Dank.
(1) Mehmet freut sich über Post: Mehmet Tarhan, 5. Piyade Egitim Tugayi, Askeri Cezaevi, Temeltepe - Sivas, Türkei
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