Die Geschichte des gewaltfreien Anarchismus ist noch nicht in Ansätzen geschrieben.
Aber es sind nicht wenige Einzelgänger, die ganz für sich Befreiung von Herrschaft und Gewalt suchten und einen Weg auch öffentlich vorschlugen, der Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung verbinden sollte.
Einen von ihnen stellt uns Reinhard Müller in seinem vorbildlich recherchierten und schön illustrierten Band (1) vor: Franz Prisching (1864-1919), einen aus ärmsten Verhältnissen stammenden Autodidakten. Der Sohn eines Schuhmachers und Kräutersammlers muss den Eltern von früh an bei der Arbeit helfen. Für den Schulbesuch bleiben in seinem ganzen Leben nur wenige Wintermonate, in denen er unter dem Hohn der Kinder reicher Leute und unter der Prügelstrafe des Pfarrers leidet.
Vielleicht war er aber nicht trotz, sondern gerade wegen seiner mangelnden Schulbildung zeitlebens an Bildung interessiert und nicht gebrochen – wohl aber entschieden gegen die Einschüchterung, die sich dagegen richtet, dass Menschen sich ihres eigenen Verstandes bedienen.
Als Franz 13 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, und er muss als Tagelöhner arbeiten, um den Vater zu unterstützen, der an Lungenschwindsucht erkrankt war und daran 1885 stirbt. Franz wechselt häufig seinen Wohnort, und er trinkt unmäßig. Aber es gelingt ihm, der ein begeisterter Leser ist und als Außenseiter der Gesellschaft Erfahrungen der Ausgrenzung erlebt, sich von den herrschenden Ideologien zu befreien, die Armut und Rechtlosigkeit als „göttliche Weltordnung“ beschönigen.
Etwa 1891 findet er Anschluss an die sozialistische Arbeiterbewegung, und er kann eine Handwerkerlehre beginnen: Der Maurerberuf soll ihm das nötige Geld und die Freizeit verschaffen, sich zu bilden. Schnell wendet er sich den Anarchisten („Unabhängige Socialisten“) zu und erlebt deren Verfolgung durch die Behörden, was nicht selten von der Sozialdemokratie begrüßt wird. In diesen prägenden Jahren tritt Prisching auch aus der Kirche aus und schließt sich den Freireligiösen an. Ab 1897 agiert er öffentlich, auch durch Zuschriften an deutsche anarchistische Zeitungen. Er beginnt, anarchistische Agitationstexte zu veröffentlichen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeistert er sich für theosophische Überzeugungen. Elemente dieser Weltanschauung bleiben auch später seinem Anarchismus erhalten, vor allem, dass der Mensch sich selbst verändern müsse, um eine bessere Gesellschaft zu erreichen. Er verbindet anarchistische und lebensreformerische Konzepte, wird Vegetarier und hat kein Bedürfnis mehr nach Alkohol.
1903 veröffentlicht er im Selbstverlag seine auf dem absoluten Tötungsverbot aufbauenden sozialen Ideen. Es ist der Beginn langer Jahre öffentlicher Agitation für einen christlichen und lebensreformerischen Anarchismus, der sich schnell von der Klassenbindung löst und sich an „alle Freunde der Gewaltlosigkeit, der Freiheit“ richtet.
Bis 1914 bringt Franz Prisching dann unter großen Opfern und immer um Geld verlegen seine Zeitschrift heraus: „Der g’rode Michl“. Es ist ein selbstbewusstes Organ des autodidaktischen Arbeiters, das eine direkte, ungekünstelte Sprache spricht. Bis 1905 versucht er, mit den „Freien Sozialisten“ zusammenzuarbeiten, danach bricht er mit ihnen und bekämpft noch stärker jedes Führertum und jede Parteipolitik, weil sie die Selbstbewusstseinsentwicklung, den Idealismus und Kampfesmut der Arbeiter lähmen.
Aber natürlich werden seine Ideen auch von manchen Anarchisten herablassend behandelt oder durch den Kakao gezogen, so dass auch zu den anarchistischen Gruppen die Distanz nach 1907 größer wird. Die Siedlungsfrage beschäftigt Franz Prisching zunehmend, ebenso der Tierschutz und der Kampf gegen Tierversuche; 1910/11 versucht er, eine „Hilfsstation für Tiere“ zu errichten. Der „g’rode Michl“ bekommt 1913 die Beilage „Recht den Rechtlosen. Organ für den gesamten Tierschutz“, die jedoch bald wieder eingestellt werden muss.
All die Jahre leiden Franz Prisching, seine Frau Johanna Struckl und deren Kinder Not; zeitweise versuchen sie, sich als Selbstversorger von einem kleinen Stück Land zu ernähren.
Diese Armut mag der Hintergrund dafür sein, dass Franz 1913 in die Evangelische Kirche eintritt (seine Frau hatte diesen Schritt schon früher getan) und beide sich kirchlich trauen lassen. Sie sind auf materielle Unterstützung angewiesen.
1913 öffnet Prisching den „G’roden Michl“ der „Neu-Jesus-Bewegung“, die ein antikonfessionelles und pazifistisches Reich-Gottes-Christentum propagiert.
1914 muss der „G’rode Michl“ das Erscheinen einstellen. 1919 stirbt Franz Prisching kurz nach seiner am 21. Mai geborenen Tochter wie diese an den Pocken.
„Als Tagelöhner, Maurergehilfe und selbstversorgender Landwirt schuf er eine der interessantesten Zeitschriften der deutschsprachigen alternativen Bewegungen, als Anarchist und Pazifist versuchte er, Menschen zu einem besseren Leben zu führen und zu einer glücklicheren Gesellschaft. Betrachten wir unsere gegenwärtige Gesellschaft, scheint wenig von seinen Ideen geblieben zu sein, doch niemand von uns kann sagen, wie die Welt heute aussähe, hätte es nicht solche Menschen gegeben wie Franz Prisching.“
Der Band dokumentiert ausführlich die Leserschaft und die Mitarbeiter des „G’roden Michl“, die Verbreitung der Zeitschrift – und ihre Finanzsorgen.
Das Buch enthält eine sorgfältig bearbeitete Bibliographie von bewundernswürdiger Genauigkeit und last but not least das „AbeCe des G’roden Michl“, eine Sammlung charakteristischer Passagen, die alphabetisch von „Anarchie“ bis „Zum Schluß“ einen sehr guten Einblick in die Gedankenwelt und die eigenwillige Sprache Prischings gibt.
(1) Eine Ausstellung über Leben und Schriften Franz Prischings ist in Hart bei Graz geplant.
Reinhard Müller: Franz Prisching: G'roder Michl, Pazifist und Selberaner. Verlag Graswurzelrevolution und Verlag der Gemeinde Hart bei Graz, Nettersheim und Graz, Oktober 2005, ca. 300 Seiten, 17,80 Euro, ISBN 3-9806353-8-4