Die Bundesregierungen kommen und gehen. Aber egal wer regiert, schickt den Atommüll nach Gorleben. So auch die jetzt antretende große Koalition. Damit bildet der Widerstand gegen den Castor den Beginn des Widerstandes gegen die Politik von Merkel, Müntefering und Co. (Red.)
Das Timing ist perfekt: Nach bisherigen Planungen soll Angela Merkel am 18. November zur Bundeskanzlerin gewählt werden. Einen Tag später, am 19. November, soll der Zug mit zwölf Castor-Behältern aus dem französischen La Hague nach Gorleben starten.
So wird die Atommüllfuhre nach Gorleben zur ersten Amtshandlung für die neue Regierungschefin. Beweisen können sich auch Innenminister Wolfgang Schäuble und Umweltminister Sigmar Gabriel.
Einige der designiert Regierenden sind im Wendland ja alte Bekannte. Merkel war in den 90er Jahren Umweltministerin in Bonn und verteidigte die Castor-Transporte vehement.
Ihr berühmtes Zitat zu Beladungspannen: „Das kennt doch jede Hausfrau, dass mal etwas Backpulver daneben geht.“
Doch schließlich musste sie nach massivem Widerstand in Gorleben und Ahaus und dem Skandal um die Außenkontamination der Behälter 1998 den vorläufigen Stopp aller Castor-Transporte verkünden.
Aufgehoben hat diesen Transportestopp ihr Nachfolger Jürgen Trittin im Jahr 2001.
Seither rollen Jahr für Jahr zwölf Behälter in das oberirdische Zwischenlager in Gorleben.
Unter Schwarz-Gelb waren es 8, unter Rot-Grün 48. Für einen Teil war als niedersächsischer Ministerpräsident auch der neue Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) mitverantwortlich. In Sachen Castor und Atommüll gab es also schon immer die ganz große Koalition.
Der diesjährige Tag X an der Transportstrecke und im Wendland wird aber auch zur ersten Amtshandlung einer sich neu formierenden außerparlamentarischen Opposition gegen die CDU/SPD-Regierung. Ob in der Energie- und Umweltpolitik, ob in der Sozialpolitik oder im Bereich BürgerInnenrechte, ob bei Gentechnik oder Militär, Migration oder Studiengebühren, Globalisierung oder Verkehr, es gibt kaum ein Politikfeld, in der die Programme der beiden großen Parteien – und das, worauf sie sich in den Koalitionsverhandlungen einigen – nicht auf vehementen Protest stoßen müssten.
Der Castor als APO-Auftakt?
Warum nicht?
Das Wendland mit seiner fest in der Bevölkerung verankerten Widerstandskultur war schon oft ein gut funktionierender Durchlauferhitzer für Protestbiographien aller Art. Noch hängt vieles davon ab, wie die Bewertung der Entwicklung in der Parteienlandschaft auf die Motivation der Einzelnen wirkt.
Einerseits wurde im Wahlkampf erfolgreich der schwarz-gelbe Teufel an die Wand gemalt, und so führt die große Koalition bei einer ganzen Reihe von Leuten fast schon wieder zu Erleichterung, ganz nach dem Motto: Jetzt kommt es doch nicht so schlimm. Besonders tun sich hier die eben noch kämpferischen Gewerkschaften hervor, eingelullt vom angeblichen neuen sozialdemokratischen Mainstream der Merkel-Regierung.
Andererseits sind mit dem Ende von Rot-Grün eine Menge Leute aufgewacht, haben gemerkt, dass in den letzten Jahren vom einst Versprochenen wenig gehalten wurde. Das Vertrauen in die Parteien ist gesunken. Daran ändert auch der Wahlerfolg der Linkspartei nichts, kennt man doch ihr stromlinienförmiges Verhalten in den Landesregierungen von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Neue Atompolitik?
Während ich diesen Text schreibe, gibt es noch kein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Sachen Atompolitik. Ob sich die Union mit ihrer Forderung nach Laufzeitverlängerungen durchsetzt oder die SPD den für die Stromkonzerne komfortablen Status Quo aufrechterhalten kann, ist noch nicht absehbar. Ob die Arbeiten am Endlager im Salzstock Gorleben weitergehen sollen, ob es wieder staatliche Exportförderung für Atomtechnologie geben wird, wir werden sehen.
Möglich ist auch ein Verschieben der Thematik bis zum Jahr 2008. Denn so lange dauert es, bis nach dem rot-grünen „Atomkonsens“ das nächste AKW vom Netz gehen würde: Biblis A in Hessen. Vorher gibt es für Merkel eigentlich keinen Grund, den atompolitischen Burgfrieden aufzukündigen.
In diesem Zusammenhang ist es schon seltsam, dass eine Festlegung der großen Koalition auf eine Beibehaltung der bisherigen Atompolitik schon fast so etwas wie ein Erfolg der in den letzten Monaten mit zahlreichen Aktionen wiedererwachten Anti-AKW-Bewegung sein würde. Schlimmeres verhindert, könnten wir uns sagen und gleichzeitig wissen, dass E.on, RWE und Co mit dem derzeitigen Zustand nicht unzufrieden sind.
Um wirklich erfolgreich zu sein, um den Atomkonsens im Sinne eines wirklichen Ausstiegs platzen zu lassen, müsste es der Bewegung gelingen, den Schwung der letzten Monate mitzunehmen, um Merkel, Müntefering, Stoiber und Gabriel weiter unter Druck zu setzen. Gelegenheiten gibt es dazu in der nächsten Zeit genügend, von der bundesweiten Demonstration am 5. November in Lüneburg über den Widerstand gegen den Castor bis zu den unzähligen Aktivitäten, die zum 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe im nächsten Frühjahr geplant werden.
Auch die von X-tausendmal quer im Sommer gestartete und inzwischen in einer Kooperation mit BUND und dem Online-BürgerInnen-Netzwerk campact weitergeführte Anti-Atom-Kampagne „.ausgestrahlt“ kann ein möglicher Ansatzpunkt zum Handeln sein. Inzwischen haben gut 2.000 Menschen die .ausgestrahlt-Erklärung (siehe Beilage in GWR 301) unterschrieben. Per Internet, E-Mails und Rundbriefen bekommen sie hin und wieder kleinere und größere Angebote zum Aktiv Werden.
5. November – Auf nach Lüneburg!
Die Lüneburger Demo „Atomkraft Nein Danke – Erneuerbare Energien Jetzt“ versucht einen Spagat zwischen Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden und den FörderInnen Erneuerbarer Energien. Ein erstaunliches Bündnis, wenn mensch bedenkt, dass es zwischen diesen AkteurInnen in Zeiten von Rot-Grün nicht nur eitel Sonnenschein gab.
Alleine schon Ort und Zeitpunkt dieser breit getragenen Demonstration stellen den unübersehbaren Bezug zur Widerstandstradition im Wendland her. Das ist in Zeiten, in denen sich die Atomindustrie massiv in die Windbranche einkauft und die CDU versucht, längere AKW-Laufzeiten an die verstärkte Förderung der Erneuerbaren zu koppeln, eine nicht hoch genug einzuschätzende Positionierung dieser Demo und ihrer TrägerInnen. Ich halte es in Zeiten der Klimadebatte für ein wesentliches strategisches Ziel der Anti-Atom-Bewegung, das aus gemeinsamen Wurzeln gründende Bündnis mit den AnhängerInnen von Strom und Wärme aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme zu erneuern – natürlich nur mit dem von den Atomkonzernen unabhängigen Teil.
Natürlich sollte jede/r auf so einer Demo weiterhin die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen fordern, nicht zuletzt auch deshalb, um MitdemonstrantInnen, die sich diese klare Position nicht mehr zutrauen, neu zu ermutigen, sich nicht mit kleinen Schritten zufrieden zu geben.
Eine solche „Bündnisdemo“ unterscheidet sich von der üblichen Castor-Auftaktdemo, bei der die Szene in den letzten Jahren mehr oder weniger unter sich war.
Manche befürchten dadurch Verwässerungen, andere freuen sich über neuen Zulauf und die Möglichkeit, den Kontakt mit und das Verständnis unter den BündnispartnerInnen zu halten, um in Zukunft besser abgestimmt politisch eingreifen zu können.
Der Demotermin 5. November liegt eine Woche vor dem geplanten Abschluss der Koalitionsverhandlungen in Berlin. Ein guter Zeitpunkt, um mit vielen Menschen gemeinsam klar zu machen, dass die dort verhandelte Atom- und Energiepolitik auf massiven Protest stoßen wird.
Glücklicherweise hat sich der TrägerInnenkreis der Demo entschieden, den Termin sehr frühzeitig festzulegen, unabhängig davon, ob in der Woche danach wirklich der Castor rollt. Denn in diesem Jahr hat es sehr lange gedauert, bis sich der genaue Tag X herauskristallisierte. Für eine breite Mobilisierung wäre das sonst sehr schwierig geworden. Noch während ich diese Zeilen schreibe, ist der Zeitraum 19. bis 22. November für den Castor-Transport nicht hundertprozentig sicher, wenn auch sehr wahrscheinlich.
Und wenn der Castor kommt?
Im Wendland wird schon seit Wochen an Widerstandskonzepten gebastelt. Neu ist in diesem Jahr die aus älteren Aktiven gebildete Aktionsgruppe „Graue Zellen“. In ihrem Aufruf unter der Überschrift „Die Grauen Zellen brechen auf“ wird zu einer häufig wiederkehrenden Aktion „Stuhlprobe“ eingeladen. Da heißt es:
„Der Gorleben-Widerstand hat uns grau gemacht – grau und schlau. Unbequem waren wir schon immer. Jetzt machen wir es uns bequem: auf der Strasse vor dem Verladekran. Und weil wir schon ein bisschen älter sind, bringen wir uns einen Stuhl mit und tun zusammen das, was wir sowieso gerne tun: wir reden, stricken, spielen Karten, trinken Tee, tauschen Koch- und Widerstandsrezepte aus… Jede/r wie er/sie mag. Wir setzen uns zusammen, wir setzen uns auseinander, rücken mit unseren Stühlen mal hierhin, mal dorthin und finden uns in immer neuen Gruppierungen. Graue Zellen geben der Polizei zu denken: Was tun die da? Was haben die vor? Graue Zellen sind immer in Bewegung. Sie verknüpfen und vermehren sich, bilden eine kritische Masse. Die Stühle zeigen: wir sind hier zuhause. Wir gehen hier nicht weg. Jetzt nicht und auch nicht, wenn der Castor kommt. Stuhlprobe, jeden Sonntag um 11 Uhr. Dannenberg – Strasse zum Verladekran.“
Ansonsten wird am Sonntag vor Tag X, also wahrscheinlich am 20. November, in der Nähe von Dannenberg eine große Kundgebung organisiert von der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Und wenn der Castor Richtung Gorleben rollt, werden Tausende an und auf Straße und Schiene unterwegs sein. Aus dem Umfeld der Kampagne „X-tausendmal quer“ wird es diesmal in beiden Bereichen Aktionen geben. Anlaufpunkt für Menschen, die dabei mitmachen wollen, ist Hitzacker. Die wendländische Aktionsgruppe „WiderSetzen“ mobilisiert nach Gorleben.
Camps gibt es in Metzingen und Hitzacker. Einen großen Infopunkt auf der Dannenberger Esso-Wiese.
Weitere Infos
Infos zur Demo am 5.11.2005: www.erneuerbare-statt-atom.de
Infos zum Castor-Widerstand:
www.x1000malquer.de
www.widersetzen.de
www.castor.de
www.graswurzel.net
Infos zur Kampagne .ausgestrahlt:
www.ausgestrahlt.de