Antisemitische Verschwörungstheorien haben in der Türkei Konjunktur. Die zum Islam konvertierten Juden werden als Fremdgruppe dargestellt, und ihre Loyalität wird bezweifelt.
Seit einigen Jahren geht ein Gespenst um in der Türkei – das Gespenst des Sabbataismus. Liberalen, DemokratInnen, LaizistInnen und SozialistInnen wird unterstellt, sie seien in Wirklichkeit Pseudo-Juden, Anhänger des Sabbataismus. Es wird angedeutet, sie besäßen eine geheime Agenda und stünden im Dienste des „israelischen Staates“.
Sie werden als eine kohärente Fremdgruppe dargestellt, ihnen wird eine kohärente Gruppenidentität angedichtet und Illoyalität gegenüber der türkischen Gesellschaft. In seinem neuesten Buch „Tekelistan“ (dt. „Kartellimperium“) schreibt der ehemalige Linksradikale Yalcin Kücük, dass der türkische Außenminister Abdullah Gül ein Sabbataist sei, woraufhin dieser Stellung nimmt und dementiert (vgl. Milliyet, 09.06.2005). Dies ist ein Beispiel für die Irritation, die diese Zuschreibung auslöst.
Antisemitische Verschwörungstheorien haben Konjunktur: Hitlers „Mein Kampf“ und „Die Protokolle der Weisen von Zion“ gehören zurzeit zu den Bestsellern. Gelesen werden sie überwiegend von Jugendlichen, die der nationalistischen Genc Parti (Junge Partei) und der national-rechtsradikalen Milliyetci Hareket Partisi (Nationale Aktionspartei) nahe stehen – was der Sache eine zusätzliche Brisanz verleiht (vgl. Radikal, 16.03.2005).
Die Gefahr, der die türkische Zivilgesellschaft ausgesetzt ist, liegt auf der Hand. Es geht im Folgenden darum, zu zeigen, dass es sich hierbei nicht um einen „islamischen“ Antisemitismus geht, denn die gängigen Klischees und Stereotypen stammen aus dem Arsenal des europäischen Antisemitismus.
Durch Konstruktion eines Feindbildes wollen Antisemiten ein nationales Bewusstsein erwecken.
Wie im Osmanischen Reich war Antisemitismus bisher in der Türkei eher eine Randerscheinung. Noch heute lobt das „Archiv für jüdische Kultur und Geschichte“ auf seiner Internetseite (http://www.juedisches-archiv-chfrank.de) die Sicherheit und großzügige Religionsfreiheit, der sich Juden im Osmanischen Reich erfreut haben sollen. Dennoch kam es in der türkischen Geschichte zu antisemitischen Vorfällen. In den 30er Jahren wurden in den ostthrakischen Provinzen Pogrome von den lokalen Organisationen der (heute linksliberalen, zu der Zeit staatstragenden) Republikanischen Volkspartei (CHP) organisiert.
Auch im Moment erstarkt der Antisemitismus wieder, doch richtet sich dieser nicht vorwiegend gegen Juden. Die Funktionen des traditionellen Antisemitismus bestanden darin, die Assimilation/ Islamisierung der Juden ideologisch zu forcieren oder die ökonomische Macht türkischer Juden in Frage zu stellen. Heute sind die türkischen Juden zahlenmäßig eine sehr kleine Gruppe, sind weder in den Medien präsent, noch fallen sie im Alltag besonders auf. Sofern handelt es sich heute um einen „Antisemitismus ohne Juden“.
Angestoßen wurde die Debatte vom islamistischen Publizisten Mehmet S. Eygi, der in Milli Gazete (13.02.1999, dt. Nationale Zeitung) die Sabbataisten als eine „geheim agierende, einflussreichste, politisch mächtigste“ Interessengruppe mit einer Doppelidentität bezeichnet. Sie seien im Besitz von „mindestens 40 %“ der türkischen Medien, einiger Universitäten und „zahlreicher“ privater höherer Schulen. Daher sei es höchste Zeit, diese Gruppe und ihre „Machenschaften“ ins Licht zu rücken. Eygi will aber auf keinen Fall in den Verruf des Antisemitismus kommen; er warnt vor „übertriebenen“ Reaktionen auf seine Enthüllungen – kann es aber nicht lassen, ihnen eine „Islamfeindlichkeit“ anzudichten. Dabei bezieht er sich auf religionskritische Äußerungen prominenter Sabbataisten wie Ahmet E. Yalman oder Sabiha Sertel, die sich in den Medien für Laizismus, eine weitere Modernisierung und Liberalisierung ausgesprochen hatten. An anderer Stelle (http://biriz.biz/sevi/svi22.htm) wird Eygis Tonfall deutlich aggressiver, und er nutzt alle zur Verfügung stehenden antisemitischen Klischees. Die „Konvertiten aus Thessaloniki“ hätten seit Jahrzehnten ihre politische, ökonomische und soziale Macht immer weiter ausgebaut. Heute sei es unmöglich, es in der Weltpolitik mit ihnen aufzunehmen. Es sei ein Skandal, dass eine „Handvoll Sabbataisten“ den Reichtum des Landes „verzerren“, während aufrichtige Menschen für ihr tägliches Brot schuften müssen. Den Höhepunkt seiner antisemitischen Polemik bildet eine Drohung: Die Nichtmuslime hätten durch eigene Kurzsichtigkeit ihr „Existenzrecht“ in Anatolien „verwirkt“. Den Sabbataisten drohe dasselbe Schicksal, sollten sie nicht Loyalität gegenüber der Türkei schwören und ihre feindseligen „Umtriebe“ einstellen.
In Wirklichkeit handelt es sich um die Nachfahren derjenigen, die im 17. Jahrhundert vom Judentum zum Islam übergetreten sind (Dönme, dt. Konvertiten). Ihren Namen erhielten sie nach dem jüdischen Mystiker Sabbatai Zwi, der sich zu dieser Zeit zum Messias erklärte und für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina plädierte. Bald darauf wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Um dem Tod zu entgehen, traten er und seine Gefolgsleute zum Islam über. Weil sie aber eine liberalere Religiosität praktizierten und angeblich bestimmte jüdische Gewohnheiten und Rituale beibehalten hätten, wurde ihre islamische Identität immer wieder in Frage gestellt, wurden Verschwörungstheorien über sie in Umlauf gebracht. Solche Verschwörungstheorien kursieren in islamistischen und ultranationalistischen Kreisen seit der Jungtürkischen Revolution (1908) wie eine Art türkische Dolchstoß-Legende, nach der jüdische Bankiers in Zusammenarbeit mit Sabbataisten und anderen „islamfeindlichen Elementen“ die Absetzung des Sultans II. Abdülhamids geplant hätten, weil dieser sich gegen jüdische Siedlungen in Palästina gewehrt hätte.
Besorgniserregend ist, dass solche Ansichten nun auch anderswo an Boden gewinnen. Prominente Beispiele sind hierfür die Polemiken und Publikationen von Yalcin Kücük, der sich sogar in einem offenen Brief an den Staatspräsidenten Ahmet N. Sezer wandte (Yeni Harman, 21.05.2004). Er fordert diesen auf, im Interesse der Nation Untersuchungen in der Gazi Universität anzuordnen. Die Sabbataisten hätten dort das Sagen und würden auf subtile Weise Menschen nicht-jüdischer Abstammung von wichtigen Lehrstühlen oder Verwaltungsgremien fernhalten. Der Beweis: Der ehemalige Chef des türkischen Geheimdienstes Sönmez Köksal und der ehemalige Außenminister Ismail Cem – beide Sabbataisten! – dozierten in dieser Universität, ohne die dafür notwendige Qualifikation zu besitzen. Zwei Wochen später unterstreicht Kücük in einem Interview mit der Tageszeitung Hürriyet (08.06.2004) erneut, dass die Sabbataisten ein die ganze Gesellschaft durchziehendes Netzwerk errichtet und die zentralen Stellen in Politik, Wirtschaft, Sport und Kulturindustrie besetzt hätten. Dabei verweist er als Gewährsautor immer wieder auf Soner Yalcin.
Dieser Populär-Historiker lieferte im vergangenen Jahr ein angeblich wissenschaftliches Buch (dt. „Efendi. Das große Geheimnis der weißen Türken“). Er versucht dort, den Einfluss der Sabbataisten auf die türkische Modernisierung zu konstruieren.
Als Fallbeispiel dient ihm eine Großfamilie aus Izmir, deren Mitglieder eine dominante Rolle in der modernen Türkei spielen. Zu ihr gehör(t)en Großunternehmer, Finanziers, Politiker, Intellektuelle, Künstler, Diplomaten und Wissenschaftler; beispielsweise der ehemalige türkische Premier Adnan Menderes (1899-1961) oder der ehemalige Außenminister Fatin RüStü Zorlu (1912-1961).
Das Buch gibt sich wissenschaftlich, steckt aber voller Andeutungen und Unterstellungen. Trotz radikalem Wandel in der Parteienlandschaft und Gesellschaft würde es dieser Großfamilie „merkwürdigerweise“ immer wieder gelingen, wie durch eine „unsichtbare Hand“ unterstützt, ihre Machtposition zu behaupten.
Mehrmals wird auf eine angebliche Endogamie hingewiesen. Im gleichen Atemzug wird erwähnt, dass der Messias Sabbatai Zwi seinen Gefolgsleuten die Annahme des islamischen Glaubens empfohlen, die Vermischung mit Moslems aber strikt verboten habe. Diese seien massenhaft in reformistische Orden eingetreten, um dort eine neue, dem „Wesen des Islams fremde Religiosität“ zu erschaffen. Sogar die pro-ungarische und pro-israelische Außenpolitik der Türkei werden auf sabbataistischen Einfluss zurückgeführt.
Wie ist das Aufflammen des Antisemitismus zu erklären?
Jede Nation erhebt Anspruch auf Einheit und Homogenität – so auch die türkische. Doch gegenwärtig zerbröckelt der nationale Mythos von der Einheitlichkeit und Homogenität der türkischen Nation: Kurden bestehen auf eigene ethnische, Aleviten auf eigene religiöse Identität, und Armenier drängen auf eine Re-Interpretation der offiziellen Geschichtsauffassung und verlangen nach offizieller Anerkennung ihrer Leiden. Hinzu kommen radikale Veränderungen, die im Zuge der Weltmarkt- und EU-Integration noch bevorstehen. All dies zusammen führt zu einer Identitäts- und Legitimitätskrise und ruft ein starkes Unsicherheitsgefühl hervor.
Islamisten und Konservative antworten darauf mit der Infragestellung der Modernisierung und Säkularisierung, national eingestellte Linke mit der Infragestellung der strategischen Partnerschaft mit Israel (quasi als „Vorposten“ der Neuen Weltordnung) und der Annäherung an die EU.
So entsteht eine „heilige“ Allianz, die Konservative, Religiöse, Nationalisten, Kemalisten, Aleviten, militärische wie politische Eliten und Linke umfasst. Mit dem Feindbild des Sabbataisten soll der antagonistische Charakter der Vergesellschaftung verschleiert, ein nationales Bewusstsein erweckt und dadurch die gesellschaftliche/ nationale Fragmentierung symbolisch aufgehoben werden.
Ob es den demokratischen Kräften gelingen wird, die antisemitischen Ressentiments in ihre Schranken zu weisen und eine demokratische Lösung anzubieten, bleibt abzuwarten.