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Ver.di für Atomkraft

Voll gegen die Leitplanke

| Horst Blume

In dem gemeinsamen Wunschzettel an die neue Bundesregierung "Leitplanken der Energiepolitik" forderten die vier größten Energiekonzerne am 26.10.2005 zusammen mit der IG Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) und ver.di eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke und eine Reihe von Maßnahmen, die einer ökologisch orientierten Energieversorgung widersprechen.

Wie kam es dazu, dass zwei DGB-Gewerkschaften mit den Atomkonzernen EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall gemeinsame Sache machen?

Die IGBCE tat dies schon immer und ist kaum noch als Gewerkschaft, sondern eher als rabiat-egoistische Ständeorganisation zur Sicherung der Interessen eines bestimmten Sektors von Kernbelegschaften zu bezeichnen. Bemerkenswerter ist das Verhalten von ver.di mit seinem Vorsitzenden Frank Bsirske, der Mitglied der Grünen ist.

Mit der Unterzeichnung dieses Forderungskataloges hat ver.di aufgehört, als Ganzes eine tendenziell atomkritische Organisation zu sein, und nähert sich wieder dem sattsam bekannten Zustand der 70er Jahre an, wo die DGB-Gewerkschaften willfährige Helfershelfer der Atomindustrie waren.

Diese Aussage ist keineswegs übertrieben, wenn man sich das Horror-Papier näher ansieht. In ihm wird einem „breiten Energiemix“ das Wort geredet, bei dem „einzelne Energieträger nicht aus ideologischen Gründen aufgegeben werden“ dürfen. Das ist im Detail genau die Sprachregelung, mit der die Atomindustrie gegen den – natürlich viel zu langsamen – „Atomausstieg“ von Rotgrün polemisierte: „Umso wertvoller ist der kostenstabilisierende Beitrag der Braunkohle und der Kernenergie … die in ihrer Wirkung nicht beeinträchtigt werden“ dürften!

Bsirske setzte in seinem Interview mit der Frankfurter Rundschau am 28.10.2005 noch eins drauf: „Allerdings kann es nötig sein, übergangsweise mehr Atomstrom zu produzieren, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren, wenn dadurch das Kyoto-Klimaschutzziel leichter erreichbar würde, das Deutschland unterschrieben hat.“

Durch eine trickreiche Uminterpretation des Ausstiegsgesetzes sollen AKW-Laufzeiten verlängert werden. Die bisher vorgesehenen Reststrommengen sollen von neueren Atomkraftwerken auf ältere Anlagen umgeschichtet werden, um Abschaltungen in der neuen Legislaturperiode zu verhindern. Im Deutschlandradio machte der IGBCE-Vorsitzende Hubertus Schmoldt am 31.10.05 zusätzlich Front gegen alternative Energien: „Durch die massive Förderung von Windenergie haben sich die Endenergiepreise in unserem Land verteuert.“

Als Krönung fordert das „Leitplanken“-Papier dann noch eine verstärkte Atomenergieforschung für den Export, „damit deutsche Unternehmen auch in Zukunft Energiespitzentechnologien für den Weltmarkt anbieten können“. Auch hier werden von den beiden DGB-Gewerkschaften originalgetreue Forderungen der Atomindustrie übernommen.

Noch vor zwei Jahren beteuerte Bsirske auf Nachfragen von Bürgerinitiativen, er würde sich im Rahmen seiner Mitarbeit in Forschungsgremien gegen die Förderung angeblich sicherer Reaktorlinien wie den Hochtemperaturreaktor einsetzen. Heute sagt er das Gegenteil und beklagt einträchtig mit den Energiekonzernen den unter Rotgrün angeblich betriebenen „fortschreitenden Abbau der Energieforschung an den Hochschulen“.

Um das Maß voll zu machen, fordert diese neoliberale Allianz im Rahmen der Liberalisierung der EU-Energiemärkte, dass den Konzernen vom deutschen Gesetzgeber keine „zusätzlichen Belastungen“ zugemutet werden dürfen. „Ein Höchstmaß an Kosteneffizienz“ und das gemeinsame Bekenntnis für die Erreichung der „Lissabonziele“ richtet sich direkt gegen die Interessen der ArbeiterInnen in Europa. Bekanntlich wurde auf dem Lissabonner EU-Sondergipfel 1999 das größte neoliberale Massenverelendungsprogramm nach dem 2. Weltkrieg beschlossen, damit das EU-Kapital in Zukunft auf Kosten der Armen in Konkurrenz zu den USA und Asien noch größere Profite einstreichen kann. Die Agenda 2010 und die Hartz IV-Gesetze sind nur die erste Stufe.

Mit dem „Leitplanken“-Papier hat es die Atomindustrie zum ersten Mal seit Jahren wieder geschafft, die DGB-Gewerkschaften zu 100 % für ihre Interessen einzubinden, und dieses gezielt eingesetzt, um die SPD bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU in der Frage der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zum Einknicken zu bringen. Wenn diese Strategie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht voll greift, liegt das zum Teil an der berechtigten Angst vor neuen Anti-Atom-Protesten und der Festlegung des langsamen „Atomausstieges“ im Atomgesetz, das SPD-Bundeskanzler Schröder selbst unterschrieben hat. Ein hundertprozentiger Durchmarsch der Atomenergiefreunde innerhalb nur weniger Wochen ist zur Zeit noch nicht möglich. Die opportunistischen DGB-Gewerkschaften sind etwas zu früh vorgeprescht.

Es gab sogar innerhalb der eigenen Reihen gewisse „Irritationen“. Die (Frankfurter Allgemeine) Zeitung, die weiß, was für das Kapital gut ist, schrieb folglich am 27.10.2005: „Die Verbände und Gewerkschaften, die nun für längere Kraftwerkslaufzeiten plädieren, hatten sich offensichtlich auf einen kompletteren Regierungswechsel eingestellt.“

Der erfolgt etwas später. Aber dann kriegen sie richtig Ärger.