Ich werde umreißen, was "Ehr"-Verbrechen sind, die in den Medien gern als islamische Eigenart dargestellt werden, wie der traditionell-patriarchalische Begriff der Ehre Mord innerhalb der Familie nicht nur legitimiert, sondern zum Teil zwingend notwendig macht und wie die Ritterehre zur Menschenwürde wurde.
Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann keinesfalls das persönliche komplexe Ehrgefühl jedes Menschen aus Ländern mit unterschiedlicher ethnisch-kultureller Genese und religiösen Strömungen beschreiben. Man denke nur an die gesellschaftlichen Umwälzungen in den letzten 500 Jahren allein in Europa: vom Niedergang des Feudalismus, Hexenverfolgungen, das Erstarken des Bürgertums, die Französische Revolution, diverse Kriege, der Kapitalismus mit einer anderen Art des Broterwerbs und dem Bedarf an der weiblichen Arbeitskraft bis zu den verschiedenen Einflüssen von Religion und Philosophie.
Dennoch gibt es quer durch die Geschichte und Regionen bestimmte Gemeinsamkeiten in traditionell patriarchalen Gesellschaften, die in vielen Ländern auch heute noch Männern wie Frauen keine individuelle Wahl ihres Lebensstils lassen.
Bevor wir uns aber über Ehrbegriffe unterhalten, sollte der Unterschied zwischen Scham- und Schuldkulturen erwähnt werden. „Der Begriff Schamkultur steht im Gegensatz zur Schuldkultur, die dem westlichen Abendland zugeschrieben wird, und besagt, dass Unrecht, das niemand bemerkt, nicht belastet, wohl aber ein erkennbares Vergehen, das der eigenen Gruppe Schande bringt. Scham hat zu empfinden, wem Unrecht zugefügt wurde. In einer Schuldkultur sollte Scham empfinden, wer Unrecht begangen hat. In einer schamorientierten Kultur gilt nicht ein ruhiges Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut.“ (de.Wikipedia.org)
Ehr-Verbrechen
Derzeit spielen „Ehr-Verbrechen“ in den Medien eine große Rolle.
Dabei wird in der Regel hervorgehoben, dass Morde aus Gründen der Familienehre auch (sic) in einigen islamischen Ländern vorkommen oder üblich sind und Beispiele brutaler Misshandlung oder Ermordung von Musliminnen angeführt.
Nun werden im Islam tatsächlich stark hierarchische patriarchale Familienstrukturen beschrieben. Die Gehorsamspflicht der Frauen gegenüber den Männern ist im Koran in aller Deutlichkeit nachzulesen, ebenso die Sanktionen, die Allah gestattet hat: „… vermahnt sie, meidet sie im Bett und schlagt sie! Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt weiter nichts gegen sie!“ [3,4]
Von Mord und Totschlag ist in diesem Zusammenhang aber keinesfalls die Rede. Diese Sanktionen stammen von regionalen Traditionen (insbesondere im Nordwesten Indiens), die der Islam während seiner Ausbreitung vorgefunden hat, so dass es islamische Länder gibt, in denen diese vor-islamischen Traditionen unbekannt sind.
Wenn diese Verbrechen also nicht religiös begründet sind: Was bringt Männer dazu, ihre weiblichen Familienangehörigen umzubringen? (1)
Zu den „Verbrechen im Namen der Ehre“ gehören nicht nur Mord, sondern auch Misshandlung, Unterdrückung und Verstoßung eines Mädchens oder einer Frau. Auch „Zwangsverheiratungen sind bis heute in islamischen und hinduistischen Gesellschaften verbreitet, aber auch in jesidischen, buddhistischen und christlichen Kulturen zu beklagen.“ (2)
Ehrverbrechen kommen in mindestens 13 Ländern der Welt vor, u.a. Indien, Bangladesh, Pakistan, Jordanien, Marokko, Türkei, Brasilien, Ecuador; in Deutschland als Migrationsproblem.
Die Ehre
„Ein Ehrenmann darf drei Dinge nicht aus der Hand geben: das Pferd, das Gewehr und die Frau.“ (türkisches Sprichwort)
Der Brockhaus betont: „Ehre gilt (..) häufig nicht so sehr dem persönlichen Wert eines Menschen als vielmehr seiner Stellung in der Gesellschaft.“
Wenn die Gesellschaft nun eine kriegerische Stammesgesellschaft in einer feindlichen Umwelt ist, in der eine Einzelperson sehr wahrscheinlich ausgeraubt, entführt, vergewaltigt und umgebracht wird und die Frage nach der nächsten Mahlzeit oft nur kurzfristig beantwortet werden kann, sind die Leute auf Selbsthilfe und -justiz angewiesen. Der Mann verteidigt seine Ehre, wenn es gilt, seinen Haushalt, seine Frauen und sein Eigentum zu schützen, weil es sonst niemand tut und der Zusammenhalt der Gruppe lebenswichtig ist.
Der patriarchalische, traditionelle Ehrenkodex legt u.a. die „Rangordnung“ fest, grenzt die eigene Gruppe anderen gegenüber ab und generiert Kollektividentität. Er betrifft immer die jeweilige Gruppe (Familie, Clan, Stamm, Dorfgemeinschaft, …) und ist vom Bekanntheitsgrad des ehrenhaften oder -verletzenden Verhaltens abhängig.
Während die persönliche Ehre des Mannes von seinen Handlungen, insbesondere von seiner Verteidigungsfähigkeit und der Sicherstellung der Vaterschaft abhängt, zeichnen sich die Frauen durch den Zustand der Jungfräulichkeit / unbedingten sexuellen Treue, durch schamhaftes Verhalten und Gehorsamkeit dem Mann gegenüber aus.
Die Frau besitzt selbst keine Ehre, sie ist die Trägerin der Mannes- und Familienehre. Der Verlust ihrer Ehre trifft den Mann, dem sie (an)gehört. Selbst wenn sie ohne eigenes Zutun (Entführung, Vergewaltigung) oder auch nur gerüchtehalber (!) entehrt wird, kann die Familienehre durch keine Handlung ihrerseits wiederhergestellt werden. Dabei liegt die Schande insbesondere bei den männlichen Angehörigen des jeweiligen Opfers, weil sie den Übergriff nicht verhindert haben. Und „Bevor man mit gebeugtem Kopf geht, stirbt man besser.“ (türkisches Sprichwort) „Untersuchungen in der Türkei haben ergeben, dass Männer bzw. Väter oder Brüder von als ehrlos abgestempelten Frauen, Töchtern oder Schwestern viel häufiger angegriffen und in Querelen hinein gezogen werden, als ehrbare Männer. (..) Frauen mit verletzter Ehre leben mit einem ständigen Risiko sexueller Belästigung und Gewalt durch fremde Männer.“ (Prof. Dr. E. Kürsat, Zur Verpflichtung der Ehre)
Erst wenn die Frau tot oder auch verstoßen ist, gilt die Familienehre als re-etabliert, die Schande als getilgt.
Der innere, individuelle Ehrbegriff, bei dem die Achtung, die man sich selbst gegenüber hat, unabhängig von der gesellschaftlichen Anerkennung ist (z.B. Kriegsdienstverweigerer, denen ja auch viel zu oft die „Männlichkeit“ abgesprochen wird), hat sich in Europa erst im Lauf des Mittelalters entwickelt.
Die Ritter
Im 13. Jahrhundert bedeutete „ere“ (mhd) „era“ (ahd) u.a. Ansehen, Anerkennung, Erfolg. Damit waren Verpflichtungen vom Feudalherrn und Lehnsmann wie Achtung, Schutz, Ansehen, Besitz verbunden, wie immer diese in der Praxis auch gehandhabt wurden. Der Schutz, von dem hier die Rede ist, bezieht sich auf Übergriffe Dritter und ist keinesfalls mit „guter Behandlung“ zu verwechseln (es gab z.B. das Recht eines Gutsherren bei der Heirat von Hörigen auf die erste Nacht mit der Braut). Mit der Verhöflichung der Kriegerschicht (vgl. Minnesang) durch den König fand im Laufe der Zeit eine Verinnerlichung der Ehre statt, was zur Folge hatte, dass nicht mehr ausschließlich kriegerische Kriterien eine Rolle für das Ansehen eines Mannes spielten. Als die Ehre zur ritterlichen Standesehre wurde, entwickelte sich ein deutlich individuelleres Pflichtgefühl. Bei einer Ehrverletzung war nicht mehr die Ehre der gesamten Gruppe bedroht, sondern zunehmend nur noch die einzelne Person betroffen.
Die Menschenrechte für die Frau
Das Konstrukt der „Geschlechtscharaktere“ stammt aus dem 18. Jahrhundert und wird mit der „Natur des Menschen“ begründet. Für ihn: Rationalität, Kraft, Würde, Tapferkeit; für sie: Schönheit, Bescheidenheit, Schwäche, Abhängigkeit, Emotionalität.
Erst im 20. Jahrhundert wurde als Folge der Aufklärung die Idee des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben für alle (auch für Frauen) mit der Erklärung der Menschenrechte 1948 zur „universal gültigen“ Ethik erklärt.
Dass es für weitere Teile der weiblichen Bevölkerung die Möglichkeit gibt, als mündige Einzelperson mit eigenem Haushalt unabhängig von der Familie zu sein, ist ein neues Phänomen. Viele Frauen leben noch, die bis zur Änderung des Eherechts der BRD 1977 nicht ohne Einwilligung ihres Ehemannes/Vaters eingestellt wurden. Die Abschaffung der „Hausfrauenehe“ mit der Verpflichtung der Frau zur Hausarbeit wurde in der Bevölkerung kontrovers diskutiert.
In Deutschland ist Mord aus Leidenschaft aus dem Strafgesetzbuch verschwunden, und seit 1997 muss sich auch ein Ehemann wegen Vergewaltigung vor Gericht verantworten, falls es denn zu einer Anzeige kommt.
Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in keiner friedlichen Welt leben, in der auch nur „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ verwirklicht ist. Um dies zu ändern, gibt es UNO-Aktionspläne und Konventionen, die von den Unterzeichnerstaaten nach der Ratifizierung umgesetzt werden müssen. Die „Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen“ (CEDAW) wurde von 180 Staaten z.T. nur mit (m.E. massiven) Vorbehalten ratifiziert, nicht aber vom Iran, Sudan, Somalia und den USA.
Man merkt auch heute noch, daß in vielen Religionen Frauen keinesfalls gleichberechtigt, sondern dem Mann untergeordnet sind. Einige Staaten mit islamisch oder katholisch orientierter Regierung (Iran, Vatikan) waren sich bei der Weltbevölkerungskonferenz der UN in Kairo 1994 u.a. bei Themen wie der Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln einig.
Familienplanung, Bildung, Berufstätigkeit und die Wahl des Ehemanns: nicht nur, aber gerade bei diesen Themen werden oft Vorbehalte angemeldet.
Oder anders ausgedrückt: Spätestens, wenn über die Entscheidungsfreiheit von Frauen bzgl. ihrer Sexualpartner und Zahl der Kinder diskutiert wird, verstehen sich die Traditionalisten der Welt mit den verschiedensten Begründungen ganz hervorragend.
(1) Blutrache ist ein eng verwandtes Thema, kann hier aber nicht behandelt werden.
Literatur
Reinsdorf, Salam oder Dschihad?, Aschaffenburg 2003
Duby, Die Geschichte der Frauen, Frankfurt 1994
Der Brockhaus Philosophie