editorial

the times they are a-changin‘

| Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

Liebe Leserinnen und Leser,

die Stromausfälle im November 2005 (vgl. GWR 305) brachten es ans Licht: In Zeiten neoliberaler Schlamperei lassen Atomkonzerne ihre Anlagen verrotten und marode Strommasten fallen unter der Schneelast in sich zusammen.

Das war vor 20 Jahren anders. Ab April 1986 sägten radikale Anti-Atom-AktivistInnen in wenigen Monaten mehr als 100 Strommasten um, ohne dass Menschen dabei zu Schaden gekommen wären. Aufgrund des in der GWR Nr. 110 (Dezember 1986) abgedruckten Artikels unter der Überschrift „Wenn der Strommast fällt … – Überlegungen zu Sabotage als direkte gewaltfreie Aktion“ wurde damals ein Ermittlungsverfahren wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ (§111 StGB) gegen die GWR eingeleitet. In dem inkriminierten Text hatte der Graswurzelrevolutionär „G. Waltfrei“ seine Erfahrungen beim Aufbau einer der – nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in vielen Orten entstandenen – „Sägefisch“-Gruppen beschrieben: „Wir haben einen Hochspannungsmasten umgesägt. Ich verstehe diese Aktion als gewaltfrei und will von meiner Erfahrung ausgehend eine Einschätzung des Verhältnisses von persönlichem Risiko zum Nutzen geben.“ Mit dem Artikel wolle er u.a. die Frage der „Perspektive von Sabotage“ diskutieren, für eine Einbettung von Sabotageaktionen als Unterstützung von gewaltfrei-libertären Kampagnen Zivilen Ungehorsams plädieren und die für die Widerstandsperspektiven problematischen und fruchtbaren Seiten von Sabotage benennen. Im Juli 1987 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt.

Nachdem bei einer Strommastsprengung 1988 eine Aktivistin schwer verletzt wurde, kam das „Strommastfällen“ zu Recht aus der Mode.

Es hat neben vielen anderen Aktionen die Kosten für den Atomstaat in die Höhe getrieben. Der Bau der Plutoniumfabrik WAA in Wackersdorf wurde 1989 gestoppt, von der Atomindustrie offiziell begründet mit „gestiegenen Kosten“.

Die Zeiten ändern sich. Wo steht die internationale Anti-Atom-Bewegung heute, 20 Jahre nach Tschernobyl? Das ist eine der Fragen, mit denen sich drei Artikel zum Schwerpunkt Tschernobyl beschäftigen.

Weitere Themen dieser GWR sind z.B. die militaristische EU-Politik (S. 1, 13 f.), die rassistische deutsche Anti-MigrantInnenpolitik und der realsatirische „Einbürgerungstest“ (S. 1-3). Die in GWR 307 begonnene Diskussion um den „Karikaturenstreit“ wird in dieser Ausgabe fortgesetzt. Weitere Diskussionsbeiträge zum Thema sind erwünscht.

Li(e)bertäre Grüße,

P.S.: Der Verlag Graswurzelrevolution nimmt mit dem Buch "Krieg ist der Mord auf Kommando" an dem Online-Wettbewerb des Bertha-von-Suttner-Kunst- und Medienpreises "Die Waffen nieder!" teil:

www.bertha-von-suttner-preis.de

Dort kann jedeR noch bis 15. April 2006 mit abstimmen.