Ich will deutsche Staatsbürgerin werden! Endlich nehmen die hiesigen Politiker diesen meinen Wunsch ernst und mich an die Hand. Ihr Interesse an politischen Bekenntnissen von Menschen wie mir entwickelt sich zu einem äußerst lehrreichen Kapitel unserer politischen Kultur, und lernen will ich ja alles über diese Kultur.Leona Felix
Allerliebst zeigt sich zum Beispiel der Hundert-Fragen-Katalog, den der hessische Innenminister mit dem schönen französischen Namen Bouffier (zu bouffir = „anschwellen“, bzw. bouffon = „Hofnarr“) den Kandidaten vorlegen will. Der wichtigste Eindruck, den dieser Prüfungsbogen hinterlässt, ist, dass ein durchschnittlicher Politologe bei seiner Magisterprüfung daran wohl scheitern dürfte.
Wann beginnt und wann endet in Deutschland die Schulpflicht? Was bedeutet der Grundsatz des „freien Mandats“ in deutschen Parlamenten? Wie heißt das Organ der EU, das die Gemeinschaftspolitik plant und die Entscheidungen ausführt? Welches Detail der Insel Rügen stellt eines der Gemälde von C.D. Friedrich dar? Welcher deutsche Physiker hat mit seiner Entdeckung im Jahre 1895 die medizinische Diagnose bis zum heutigen Tag revolutioniert? – Na, alles gewusst? Nein? Dann aber Marsch, zurück nach Anatolien!
Aber ich will mich nicht beklagen über Fragen, die zu schwer sein könnten. Mich erstaunen umgekehrt jene Fragen, die jeden politisch gebildeten Menschen beleidigen. Vor allem die Verquickung von Faktenwissen und Gesinnung, die in vielen Fragen vorgenommen wird.
Zu welchem Zweck wurde die Bundeswehr gegründet? Wenn ich hier wahrheitsgemäß antworte: „Um mittels militaristischer Außenpolitik die Spaltung Deutschlands zu zementieren“ – habe ich meine Chancen auf Einbürgerung dann gefördert oder gehemmt?
Nun, in einem solchen Falle weiß ich als gewitzte Kandidatin: Ich muss den Status quo loben, sonst wird das nix! Aber was ist mit den „unpolitischen“, allgemein- und kulturhistorischen Themenbereichen? Z.B.: Wer hat die „Reformation“ eingeleitet? Eingeleitet! Hm. Der Tscheche Jan Hus. Durchgefallen?
Der frankophone Schweizer Jean Calvin. Gerade soeben bestanden? Der Deutsche Martin Luther. Eine Eins mit Sternchen?
Weiter: Was hat Johannes Gutenberg erfunden? Was wollen die jetzt hören? Den Buchdruck? Aber der wurde im 8. Jahrhundert von einem ziemlich unbekannten Inder erfunden.
Ah: Den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Nein, das war der Chinese Bi Sheng, im 11. Jahrhundert. Aber jetzt: Den Buchdruck mit beweglichen, aus Metall gegossenen Lettern. Das kommt der Wahrheit schon ziemlich nahe; aber weiß das der Bürokrat, der meinen Fragebogen auswerten wird, auch? Ist er so beweglich wie Gutenbergs Metalllettern?
Welche Personen gelten in Deutschland als Pioniere des Automobilbaus? Nennen Sie zwei Namen!
Darf ich jetzt sagen: „Gottlieb Daimler und Henry Ford“? Darf ein Ausländer in Deutschland als Pionier des Automobilbaus gelten? Gibt es für Ford einen Trostpunkt, weil er ein Deutschland-Verehrer war?
Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass der von ihm am meisten verehrte Deutsche der Regierungschef von 1933 bis 1945 war?
Vishnu sei Dank gibt es etliche Fragen, für die ich kraft meines Status als Einbürgerungskandidatin Expertin bin. Welche Voraussetzungen muss man erfüllen, um deutscher Staatsbürger zu werden? Historisch-politologische Fragebögen ausfüllen können. Das war einfach!
Aber jetzt: Welcher Deutsche komponierte in seiner 9. Sinfonie am Schluss die berühmte „Ode an die Freude“? Das ist knifflig! Die „Ode an die Freude“ stammt von Friedrich Schiller, aber er hat sie gedichtet, nicht komponiert. In seiner 9. Sinfonie hat Beethoven sie vertont (also auch nicht „komponiert“). Aber Beethoven war zu dieser Zeit schon lange in Wien ansässig. War er damit Deutscher oder Österreicher? Welcher Testbogen hatte ihm vorgelegen?
„Nennen Sie drei wichtige Artikel des Reichsdeputationshauptschlusses“? Was bedeutet die Abkürzung „AEIOU“? (Aller Erdkreis Ist Oesterreich Untertan)
Erst bei Frage 98 gelange ich wieder in sicheres Fahrwasser. Die letzten drei Fragen handeln von den deutschen Nationalsymbolen. Die Bundesflagge? Schwarz-rot-gold (nicht: gelb!). Wie heißt der Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland und wann
wird er begangen? Er heißt „Tag der deutschen Einheit“ und wird glücklicherweise überhaupt nicht begangen.
Aber jetzt, ganz zum Schluss, in Frage 100, hat der ausgebuffte hessische Innenminister doch noch eine Tretmine eingeschmuggelt: Wie heißt die deutsche Nationalhymne und mit welchen Worten beginnt sie? Ja, wie heißt sie denn? Die Hymne verwendet als Text einen Teil eines Gedichts, welches „Deutschlandlied“ oder „Lied der Deutschen“ genannt wird. Dieses beginnt mit den Worten „Deutschland, Deutschland über alles“; nicht aber so die Hymne. Was ist zu tun? Ich wusste schon vorher, dass ich mich in ein Land mit gebrochener und brüchiger Identität einbürgern wollte; aber die Politiker dieses Landes wissen das offenbar nicht! Sie legen einen Fragebogen vor, dessen Selbstgerechtigkeit peinlich ist, und aus jeder Pore tropft Verrat. Die Juden beispielsweise, jene Volksgruppe, ohne die die Deutschen vielleicht heute noch in Blockhütten wohnen und Met trinken würden (gewiss: eine ambivalente Vorstellung!), kommen in dem Fragebogen ausschließlich als Holocaust-Opfer vor (in Fragen, die, etwas beleidigend, mein Bekenntnis abchecken, dass ich dieses Menschheitsverbrechen nicht leugne). Die Frage aber z.B., welcher Deutsche die Relativitätstheorie entwickelt hat, fehlt auffallender weise. Nun ist Einstein freilich doppelt suspekt, denn er hatte ja auch pazifistische Anwandlungen. Nähme man so etwas erst einmal ins Bild des Deutschen auf, so landete man einen Schritt später gar noch bei jenem Deutschen, den wahrscheinlich jeder Einbürgerungswillige kennt, bei Karl Marx.
Wo soll das alles enden?
Anmerkungen
Der komplette Fragebogen ist downzuloaden unter www.hmdi.hessen.de