Eine Befürchtung der Anti-Atom-Bewegung hat sich nicht bewahrheitet: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist auch 20 Jahre danach nicht vergessen.
In unzähligen TV-Dokus und Zeitungsberichten wurden die grausigen Fakten dargestellt; in LeserInnen-Interviews kam klar rüber, dass die Mehrheit der Bevölkerung noch heute weiß, was der „Super-GAU“ damals bewirkte; und die mehreren hundert lokalen Infoveranstaltungen waren bundesweit oft sehr gut besucht. Damit ist es gelungen, dem Verdrängen und Verharmlosen seitens der Atomindustrie und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) einen Riegel vorzuschieben. Zu tief ist das Unbehagen der Bevölkerung gegenüber den Risiken und Gefahren der Atomenergie verankert, als dass dies durch die hochpolierten Image-Kampagnen der Atomlobby wegzuretuschieren wäre.
Das ist die positive Seite der Medaille.
Es zeigte sich aber auch, dass die Medien zum Tschernobyl-Jahrestag die Anti-Atom-Bewegung als „Experten“ nicht wirklich anerkannt hat. Das Wort bei den Kritikern wurde Strahlungsbiologen, Umweltverbänden u.ä. erteilt. Dies ist eine interessante Erfahrung: Während bei Castor-Protesten die Anti-Atom-Bewegung von den Medien angesprochen wird, gelten die Bürgerinitiativen und AktivistInnen bei Reaktorkatastrophen offensichtlich nicht als kompetent genug.
Hinter dieser medialen Differenzierung steckt natürlich ein zweiter Gesichtspunkt. 20 Jahre nach Tschernobyl soll die Erfahrung der Katastrophe von der aktuellen politischen Diskussion um die Zukunft der Atomenergie abgekoppelt werden. Um sich vor unliebsamen politischen Forderungen zu schützen, fragt man lieber „Experten“ zu den Gesundheits-Folgen von Tschernobyl als Anti-Atom-Initiativen zu den politischen Schlussfolgerungen, die tagespolitische Konsequenzen nach sich ziehen. So blieb es dabei: Erinnern ja – Konsequenzen nein.
Diese Tendenz wird von der Atomlobby gerne unterstützt und gefördert. So waren die altbekannten Lügen zu hören, dass „im Westen“ alle AKWs sicher seien, dass „hier“ nichts verheimlicht werde wie damals in der UdSSR, dass Atomenergie gegen den Klimawandel hilft.
Während diese Thesen seit Jahren bekannt sind und sehr inhaltlos klingen, ist eine neue These viel gefährlicher: „Der Atomausstieg ist in Deutschland doch beschlossen, wir müssen nur daran festhalten.“ Vor allem in rot-grünen Bevölkerungskreisen hat sich diese Mär eingebürgert, mit fatalen Konsequenzen. Denn wenn der Atomausstieg schon beschlossen ist, muss man dafür nicht mehr auf die Straße gehen. Ganz nach dem Motto: Wir haben doch aus Tschernobyl die Konsequenzen gezogen.
Nichts ist falscher als diese Behauptung. Fakt ist aber, dass viele überhaupt keine Ahnung haben, was im Atomgesetz wirklich drin steht oder eben nicht. Selbst im Münsterland und im Ruhrgebiet konnte mensch z.B. rund um den Tschernobyl-Jahrestag immer wieder feststellen, dass die Urananreicherungsanlage Gronau weitgehend unbekannt ist, also auch, dass sie gar nicht im Atomgesetz erwähnt wird und deshalb unbegrenzt weiterbetrieben werden darf. Gleiches gilt für die Brennelementefabrik in Lingen. Vielleicht erklärt sich so auch, warum vergleichsweise so wenige Menschen bundesweit auf Mahnwachen, Kundgebungen oder Demonstrationen waren.
Schätzungsweise 6.000-7.000 Menschen demonstrierten für den sofortigen Atomausstieg. Das ist gemessen an der bundesweiten Demo in Lüneburg letzten Herbst (7.000 Leute) anscheinend das Mobilisierungspotenzial. Gemessen an der Anti-Atom-Demo im französischen Cherbourg (20-30.000 Leute) ist es aber eher wenig. Wie der ehemalige GWR-Redakteur Jochen Stay treffend anmerkte, die Anti-Atom-Bewegung ist hierzulande derzeit keine Massenbewegung. Weil zudem eine zentrale und/oder gemeinsame Mobilisierung fehlte, wurden selbst die größten Demos in Biblis und Freiburg (jeweils 1.000 Leute) überregional in den Medien kaum wahrgenommen.
Hier gilt es deshalb, in den kommenden Monaten und Jahren anzusetzen. Zum einen ist massiver Druck gegen die „Renaissance“-Pläne der Atomlobby nötig, zum anderen muss die Mär vom „beschlossenen Atomausstieg“ durch verstärkte Aufklärungsarbeit zerstreut werden. Zum dritten müssen wir dafür sorgen, dass die Atomanlagen, die 2008/09 offiziell abgeschaltet werden sollen, auch tatsächlich abgeschaltet werden.
Um erfolgreich zu sein, muss sich die Anti-Atom-Bewegung auch überregional wieder stärker vernetzen und gemeinsam die politische Offensive suchen. Denn wie gesagt: In der Bevölkerung sitzt der Schrecken über die Atomenergie auch 20 Jahre nach Tschernobyl noch tief. Das ist eine gute Basis für die anstehenden Aufgaben (s. GWR 308). Es darf nicht beim Erinnern bleiben.