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Anarchismus wird gemacht

Eine Einführung mit Auslassungen

| Jens Petz Kastner

Als eines der wichtigsten libertären Projekte der Gegenwart kann der zapatistische Aufstand im Süden Mexikos gelten – nicht nur wegen des Einflusses des Anarchisten Ricardo Flores Magón. Auch die basisdemokratischen Prinzipien und die Ablehnung politischer Parteien machen ihn dazu.

Seit der Abkehr von der Orientierung an Arbeits- und Klassenkämpfen um 1968 gab es aber auch andere, anarchistisch inspirierte Denkrichtungen und Bewegungen: Die libertäre Parole „das Private ist politisch“ fand in der zweiten Frauenbewegung eine radikalisierte Neuformulierung, alternative Lebensformen wurden – und werden bis heute – erprobt, und eine libertäre Presse etablierte sich, die mit den gewerkschaftspolitischen Inhalten, die den Anarchismus in den 1920er und 1930er Jahren dominierten, kaum mehr etwas gemeinsam hatte. In der Theorie griffen poststrukturalistische Ansätze die Autorität der Wissenschaft an und attackierten den Zusammenhang von Macht und Wissen. Nicht zu vergessen die Kritik an Repräsentationsmechanismen, die schon in den künstlerischen Avantgarden seit Dada formuliert und verstärkt in 1960er Jahren wieder aufgegriffen wurden. Oder Punk.

Nichts von alle dem kommt in der neuen Einführung in den Anarchismus vor. Oder, wenn es vorkommt, wird es kaum annähernd angemessen gewürdigt.

Auf den dreieinhalb Seiten, die den – freilich nicht als solchen bezeichneten – Bruch von 1968 behandeln, wird nur konstatiert, es habe damals nichts wesentlich Neues gegeben. Zum Anarchafeminismus gibt es einen Absatz, zum Neozapatismus auch, und der Postanarchismus taucht gar nicht auf. Ist die Auslassung des letzteren angesichts seiner Marginalität verzeihlich, kann das für Kämpfe von Frauen und auch für die globalisierungskritischen Bewegungen nach dem zapatistischen Aufstand wohl kaum gelten.

Auch anarchistische Geschichte wird gemacht. Zum Beispiel, indem Entscheidungen für herkömmliche, an den üblichen Verdächtigen orientierte Darstellungen getroffen werden: Godwin, Proudhon, Stirner, Bakunin, Kropotkin, Tolstoi, Landauer, Goldman, Rocker plus zentrale historische Ereignisse wie die Pariser Kommune, mexikanische und spanische Revolution sowie Münchener Räterepublik. Wer etwas über die gegenwärtige Relevanz anarchistischer Ideen und über libertär inspirierte soziale und kulturelle Bewegungen der letzten vierzig Jahre erfahren möchte, ist mit diesem Buch schlecht beraten. In dieser Hinsicht ist es eine vertane Chance.

Das hat, anders betrachtet, aber auch sein Gutes: Im Gegensatz zu anderen Bänden aus der löblichen Reihe „theorie.org“ – dem zum Feminismus oder der Einführung in die situationistische Revolutionstheorie beispielsweise – ergreifen die Autoren kaum Partei für eine der vorgestellten Strömungen. Sie liefern einen ausgewogenen Überblick. Dadurch haben sie ein für die Laien verständliches und für KennerInnen dennoch anregendes Buch geschrieben.

Einen Schwerpunkt macht dabei die sozusagen lebenslange Auseinandersetzung mit dem Marxismus aus. Das ist konsequent, stellten die Verbindungen und Zerwürfnisse zwischen beiden Ideengebäuden mit ihren unzähligen Abteilungen und Ausläufern doch Schlüsselmomente der Linken im 19. und 20. Jahrhundert dar. Legitim ist es auch, dabei die Feindschaft in den Vordergrund zu rücken, wie Degen und Knoblauch es tun. Waren Marx‘ Kritiken an Proudhon, Bakunin und Stirner nur symbolisch vernichtend, gaben die antirevolutionären Haltungen kommunistischer Parteien vom spanischen Bürgerkrieg bis zum Pariser Mai Libertären zu oft Anlass, um ihr Leben zu fürchten, sobald KommunistInnen die Macht hatten, es zu bedrohen. Hier werden die Auseinandersetzungen kenntnisreich geschildert und so zitiert, dass man Lust bekommt, wieder einmal nachzulesen.

Auf der anderen Seite gibt es auch die antistaatlichen Aspekte in den Schriften von Marx, und es gab und gibt neben stalinistischen auch rätedemokratische, operaistische oder wertkritische Marxismen. Von anarchistischer Theorie und Praxis waren und sind diese oft gar nicht so weit entfernt. Dass diese Gemeinsamkeiten nicht ausgebreitet werden, ist nicht unbedingt ein Manko. Da gibt es noch Forschungsbedarf. Anzukreiden allerdings ist, dass auch über die Widersprüche bei den Anarchismen selbst nicht viel zu lesen ist: Wie lässt sich denn Proudhons Frauenhass oder sein – von Bakunin geteilter – Antisemitismus mit den Idealen einer freien und sozialistischen Gesellschaft vereinbaren?

Dass sich das Buch an vermeintlichen oder echten Nebensträngen nicht aufhält, hat auch positive Seiten: Skurrile Strömungen wie der in den letzten Jahren verstärkt aufgetretene „Anarchokapitalismus“ werden dankenswerter Weise gar nicht erst ernst genommen. Der Anarchismus – den es im Singular und als Dogma nicht gibt, auch darauf weisen die Autoren zu Recht hin – verbindet und radikalisiert liberalistische und sozialistische Vorstellungen, ist antiautoritär und links. Die vom Anarchismus übernommene Freiheitsrhetorik des Neoliberalismus machen Degen und Knoblauch als „Täuschung und Verfälschung“ aus. Ob sie es sich damit nicht zu einfach machen, weil es vielleicht doch die offene Flanke des individualistischen Anarchismus hin zu neoliberalen Ideen und Politikkonzepten gibt, darüber lässt sich diskutieren.

Hans-Jürgen Degen und Jochen Knoblauch: Anarchismus. Eine Einführung, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2006, 216 Seiten, ISBN 3-89657-585-6, 10 Euro