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Die Situationistische Internationale

... und ihre Revolutionstheorie

| Oliver Walkenhorst

Was war eigentlich die Situationistische Internationale (SI)?

Für die meisten eine KünstlerInnenavantgarde, die irgendwie Kunst und Revolution zusammenrühren wollte und an der höchstens noch ihre Kunst von Interesse ist. Für manche ein lustiger Haufen, der die Bewegung im französischen Mai 1968 mit radikalen Sprüchen wie „Arbeitet nie“, „Verbieten ist verboten“ und „Unter dem Pflaster – der Strand“ versorgte. Für eher wenige eine Gruppe, die eine umfassende Gesellschaftskritik und die bis heute höchstentwickelte proletarische Revolutionstheorie vorlegte.

Zu diesen wenigen gehören Biene Baumeister, Zwi und Negator, die der Vereinnahmung der SI als innovative KünstlerInnentruppe zu Recht etwas entgegensetzen und mit ihrem Buch „Situationistische Revolutionstheorie“ das gesellschaftskritisch-revolutionäre Gedankengut der SI aus der Verschüttung herausholen wollen.

Der Buchtitel kann dabei leicht irreführen, denn die SI hatte nie einen fertigen Masterplan für die Revolution. Ihr Leitmotto war vielmehr „Die Revolution aufs neue zu erfinden – das ist alles“, und zwar nicht am einsamen Schreibtisch, sondern im gesellschaftlichen Handgemenge. Ihren Beitrag sah sie dabei in der Konstruktion von Situationen zur revolutionären Erhebung, daher das S in ihrem Namen. Mit dem I war es nicht so weit her, denn die SI blieb eine sehr westeuropa-lastige Organisation, der während ihres Bestehens 1957-1972 kaum mehr als 70 Personen angehörten.

Die AutorInnen konzentrieren sich bei der Darstellung der heterogenen SI auf die Linie um Guy Debord, dem bis heute bekanntesten SI-Mitglied. Debord lieferte – anknüpfend an Marx, Lukacs, Freud und Benjamin – mit der „Gesellschaft des Spektakels“ eine aktuelle Kritik des modernen Kapitalismus. Demnach befänden sich die modernen Gesellschaften seit den 1920ern im Zustand des Spektakels, der sich dadurch auszeichne, dass „neben der entfremdeten Produktion der entfremdete Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für die Massen“ geworden sei. An die Stelle von aktiver Lebensgestaltung trete passiver Konsum von bloßen Bildern des Lebens und vorgefertigten Lebensstilen. Jegliche Bedürfnisse würden mehr und mehr vom Spektakel vorgegeben und seien somit am Ende nur noch Pseudobedürfnisse.

Was also tun? Für die SI lag der Schlüssel im Aufspüren des unbewussten, systematisch verdrängten revolutionären Begehrens und der „radikalen Bedürfnisse“. Dieses Aufspüren versuchte sie durch spezielle Techniken zu unterstützen: Zu den Bekanntesten zählen das Detournement (Zweckentfremdung kultureller Gegenstände, z.B. Einsetzen neuer Dialoge in altbekannten Comics) und das Dérive (kollektives Umherschweifen im städtischen Raum zur Erkundung subversiver Nutzungsmöglichkeiten im Bestehenden). Ein großes Verdienst der SI war das Starkmachen des Individuums und die Betonung des Bewusstseins zu einer Zeit, als weite Teile der marxistischen Linken an hierarchische und ökonomistische Planungsutopien glaubten. Entsprechend stand für die SI fest, dass eine Revolution nicht von oben herbeiorganisiert werden kann, sondern durch Selbstorganisation des Proletariats von unten entstehen muss.

Damit verbunden war die Überzeugung, dass jegliche Art von Repräsentation keine Befreiung bringen kann und Staat, Parteien und Parlamente auf die Müllhalde der Geschichte gehören. Folgerichtig hatte sie für alle Staatssozialismen von Lenin bis Mao nicht mehr als beißenden Spott übrig und hegte große Sympathien für den Anarchismus.

Allerdings sparte sie auch dort nicht mit Kritik, angefangen bei Bakunins „unsichtbaren Piloten“ bis hin zum – ihrer Meinung nach oft leeren und abstrakten – anarchistischen Freiheitsbegriff. Letztlich kann die SI am ehesten in der Nähe eines antiautoritären Rätekommunismus angesiedelt werden.

Die Aufarbeitung vergangener Kämpfe und Niederlagen war – gerade angesichts der wirksamen Verdrängung des historischen Bewusstseins durch das Spektakel – eine wichtige Aktivität für die SI: Man konnte aus ihr lernen und eventuell abgeschnittene Fäden wiederaufnehmen.

Insbesondere die Einsichten aus dem Spanischen Bürgerkrieg haben die SI geprägt, und Debord war der Ansicht, der Anarchismus habe 1936 „den fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat“. Besondere Aufmerksamkeit hat die SI der Vereinnahmung (Rekuperation) von einstmals revolutionären Ansätzen zur Modernisierung des Spektakels geschenkt. Dieser Gefahr sind revolutionäre Bewegungen stets ausgesetzt, ein besonders prägnantes Beispiel ist die Integration vieler 68er-Forderungen in einen modernisierten Kapitalismus, wie etwa die Räte-Idee nach 1968 zu mehr Mitbestimmung in den Betrieben und Komitees aller Art führte.

Der vorliegende Doppelband bietet eine brauchbare Einführung in die politische Theorie und Praxis der SI. Dabei bekommt man nicht unbedingt easy listening serviert, sondern muss stellenweise einige theoretische Anstrengungen in Kauf nehmen. Und am Ende sollte man nicht enttäuscht sein, wenn man eher eine historische Rekonstruktion verdaut als praktische Handlungsempfehlungen für hier und heute in der Hand hat. Aber passiver Konsum fertiger Lösungen ist ja eh scheiße. Jedenfalls haben die AutorInnen Lust gemacht, sich den abgeschnittenen Faden der SI mal genauer anzugucken.

Biene Baumeister, Zwi, Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-89657-585-6, 2 Bände, jeweils 10 Euro