S. Münster: Du arbeitest seit 1972 bei der Graswurzelrevolution mit. Gerade hast Du „ja! Anarchismus“ gelesen, den Band mit 24 Interviews und Gesprächen, den Bernd Drücke im Karin Kramer Verlag veröffentlicht hat. Wie steht es denn um die gelebte Utopie im 21. Jahrhundert?
Johann Bauer: Ich kannte vieles schon aus der Graswurzelrevolution, wo fast alles zuerst veröffentlicht worden ist. Trotzdem ist es etwas anderes, nun eine Sammlung mit den verschiedenen Gesichtspunkten und Lebensgeschichten und Zukunftshoffnungen zu betrachten. Ich gebe zu, dass mich immer noch begeistert, was ich auch in der GWR neu und überraschend fand und dass ich mir manchmal kritischere Nachfragen gewünscht hätte. Bei manchen Interviews wird für meinen Geschmack zuviel Reklame gemacht. Interessant finde ich eher die nachdenklichen, selbstkritischen, auch von Niederlagen und Enttäuschungen handelnden Antworten.
Wenn also Pit Budde von „Cochise“ darüber spricht, wie ausgebrannt sie waren, oder Horst Stowasser thematisiert, wie man aus den libertären Milieus herausfallen, aber auch wie man solche Milieus stabilisieren kann. Natürlich ist das Buch so gewollt, dass es Hoffnung macht und gerade auch Neugierige ermutigen soll, die bisher nicht viel Kontakt zu libertären Bewegungen hatten.
Und das gelingt?
Ich glaube schon. Ich sehe eigentlich nicht, wie jemand, der das Buch gelesen hat, vermeiden könnte, zumindest die Graswurzelrevolution zu abonnieren und sich einige Internetseiten anzusehen, auf die im Buch hingewiesen wird. Das Literaturverzeichnis am Ende finde ich allerdings beliebig. Besser wäre m.E. gewesen, wenn mehr davon gezielt den einzelnen Interviews zugeordnet worden wäre, so dass Leute, die mehr Informationen zu Konzepten, der Geschichte oder einzelnen Personen suchen, darauf hingewiesen werden.
Aber noch mal zurück: Was hat Dir besonders gefallen, was vielleicht auch gar nicht?
Interessant fand ich besonders die etwas „altersweisen“ Texte, also ganz besonders Peter Lilienthal, der mir sehr sympathisch ist und der witzig erzählt. Natürlich kannte ich seinen „Malatesta“-Film, den haben wir bei „anarchistischen Filmabenden“ zeigen können, aber dass er so sehr „einer von uns“ ist, war mir neu. Manchmal sind es Details der Interviews, die eigene Assoziationen aufrufen, alte Themen, Begegnungen. Wenn beispielsweise Peter Lilienthal Carlo Cafiero erwähnt, der in der Irrenanstalt war, fällt mir dazu ein, dass gesagt wurde, Cafiero habe sich gesorgt, mehr als den ihm zustehenden Anteil des Sonnenlichts zu beanspruchen. „Gerechtigkeit“ war ein zentrales Thema des alten Anarchismus.
Da fallen mir Menschen und Projekte ein, die hier fehlen. Bei aller Vielfalt ist der Anarchismus noch vielfältiger. Vielen wird auch der Zugang über Persönliches nicht liegen. Das Buch ist die absolute Antithese zu einer Konzeption, wie sie etwa der Katechismus für Revolutionäre im ersten Paragraphen aufstellt: „Der Revolutionär ist einer Sache geweiht. Er hat keine persönlichen Interessen, Geschäfte, Gefühle, Bindungen, Besitztümer, er hat nicht einmal einen Namen …“
Es handelt gerade von persönlichen Entwicklungen und Bindungen und das oft sehr sympathisch. Wann und warum wird jemand Anarchist – und was bedeutet das dann?
Noch ein Beispiel: Das Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg. Neben der Selbstkritik an Militantismus und hyperradikalen Abgrenzungsstilen in der Bewegung der 70er Jahre fand ich besonders wichtig, dass sie auf die schweren Fehler eingehen, die im Umgang mit den Altanarchisten gemacht wurden. Mich hat das oft gestört, mit welcher arroganten Selbstherrlichkeit Anfang der 70er Jahre gelegentlich die betrachtet wurden, die so viele schwere Niederlagen verkraftet hatten. Die Chance, viele Dinge zu begreifen, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen, wurde so verspielt. Viele Menschen und deren Erfahrungen, besonders betriebliche und familiäre, sind so für immer verloren gegangen. Zugelassen wurden so allenfalls die eher akzeptablen Erfolgsgeschichten wie Spanien 1936, hier die ersten Wochen.
Eine Korrektur in dieser Richtung, sich mit Alltag und Erfahrung auseinander zu setzen, wird in den Interviews häufig gefordert (Wolfgang Hertle, Weber-Zuchts, Osman Murat Ülke), nicht nur wenn es, wie im Interview mit Uwe Kurzbein, um Kommunen geht. Es mahnen doch viele die Beschäftigung mit sozialen Nöten und ökonomischen Problemen an, damit Anarchismus nicht auf ein paar Jugendjahre und studentische oder Boheme-Milieus begrenzt bleibt. Allerdings fehlt unter den Interviewten jemand, der über längere Zeit gleichzeitig einem normalen Beruf nachgeht und nebenher in anarchistischen Gruppen bleibt. Das ist der Spagat, der auf Dauer schwer auszuhalten ist, nur durch Distanz zu beiden Milieus oder zumindest einem letztlich gelingen kann.
Und was hat Dir wenig gefallen?
Du kannst doch von mir als bravem Parteisoldaten nicht erwarten, dass ich den Absatz des Buches behindere, in dem die Graswurzelrevolution endlich einmal erwähnt wird (es gibt ja viele Bücher und Aufsätze, bei denen man sich über die Virtuosität wundert, mit dem genau das vermieden wird!). Aber im Ernst: Ich bleibe ja jetzt noch beim 1. Teil: „Anarchismus und Kultur“. Da finde ich, dass zu große Nähe zu den Interviewten schädlich ist, das Gespräch in Selbstfeier oder Insiderwitze abzudriften droht. Ich kenne auch Leute, die z.B. beim Kabarett „Der Blarze Schwock“ mitmachen und finde sie sehr sympathisch, aber wenn ich das Interview lese, habe ich das Gefühl: Ich kenne solche Stimmungen, das findet aber nur richtig komisch, wer dabei war, der Funke springt nicht über, wenn man es liest. Es ist das alte Problem mit Situationskomik: Wenn darüber erzählt wird, ist es nicht mehr ganz so komisch.
In allen Interviews, auch mit Leuten, die ich gut kenne (wie natürlich die aus dem Graswurzel-Spektrum) oder die seit langen Jahren „dabei sind“, habe ich noch etwas Neues erfahren (Klaus der Geiger, Karin und Bernd Kramer, Marianne Enckell). Manchmal hätte ich mir weniger Werbung für das jeweils neueste Projekt, das gerade erschienene Buch usw. gewünscht (sogar die Kontoverbindung hätte ich u.U. auf anderem Wege erfahren können) und dafür mehr über die Antriebe und Erfahrungen, die weniger offensichtlich sind.
Besonders wenn Interviews per E-Mail geführt werden, haben die Leute ja ausreichend Zeit, sich ihre Antworten zu überlegen (und offensichtlich haben viele das getan). Wenn jemand dann überrascht tut, finde ich das ebenso unpassend wie Public Relations.
Es ist immer die Frage, wozu Leute bereit sind, worauf sie sich einlassen wollen.
Klar, verstehe ich. Ich wollte nur ein leises Unbehagen ausdrücken oder auch eine Skepsis gegenüber einer Erinnerungspolitik, die ausgrenzt oder Probleme vergisst. Vielleicht ist das ein überzogener Anspruch, ist mir selbst nicht recht geheuer.
Menschliche Erinnerung ist selektiv, und was uns wichtig erscheint, ist etwa von den letzten unmittelbaren Eindrücken abhängig. Dazu kommt etwas anderes: Die Interviewten sind meist Gründer von irgendetwas und werden dazu befragt; dadurch kommt manchmal ein Eindruck zustande, dass man frei nach Brecht fragen möchte „Hatte er nicht wenigstens eine selbstverwaltete Kochgruppe dabei?“
Das Buch ist vielfältig und keineswegs nur für „Einsteiger“ interessant. Jochen Knoblauch hat in seiner Besprechung in der Monatszeitung Contraste (September 2006, Nr. 264) (1) den Aspekt herausgestellt, dass Alter ein Thema ist, das in einigen Gesprächen angesprochen wird und dass hier Hoffnung entsteht, auch in der Bewegung in Würde zu altern. Ein wichtiges Thema, „Über das Altern der Revolution“. Außerhalb der Interviews steht ein sehr schöner und berührender Text von Marie-Christine Mikhailo zum Altwerden in der anarchistischen Bewegung, und wir lernen auch Bernd Drücke gut kennen, wenn wir seinen Nachruf auf sie lesen. Vielleicht sollte ich das auch sagen: Ich beneide ihn um den Optimismus, der in vielen der Gespräche ausgedrückt wird, ganz besonders in dem Interview, das Lea Hagedorn mit ihm gemacht hat, um seine Tatkraft und die starke Bereitschaft zu verbindender konstruktiver Arbeit.
Dazu gehört für mich auch: Humor. Wenn ich alles noch so ernst nehmen würde wie zwischen 1970 und 1980, wäre ich längst nicht mehr dabei.
Gibt es in den Interviews Aussagen, zu denen Du sagen würdest: Ich bin ganz und gar anderer Ansicht?
Einige. Es ist natürlich so, dass Bewegungen und Projekte, an denen man selbst beteiligt war, wo also genaue eigene Erinnerungen existieren, am ehesten solche Gegensätze aufbrechen lassen. Das wird allen so gehen. Am stärksten war mein Widerwille gegenüber dem Interview mit Ilse Schwipper, weil sie Anarcha-Feminismus propagiert (was wir schon Mitte der 70er taten und was unverändert richtig ist und viel häufiger und genauer und mit geschichtlichem Hintergrund geschehen sollte), aber nicht sehen will, dass bewaffneter Kampf für etwas ganz anderes steht und dass emanzipatorische Ziele Mittel ausschließen, die zu einer notwendigen Brutalisierung führen und Sexismen eher verstärken.
Ich bin aber, im Unterschied zu manchen Tendenzen in einigen Interviews, sehr dafür, an „Revolution“ festzuhalten. Anders kann mit der Herrschaft nicht gebrochen werden, es gibt zu viele Kooptationsprozesse und bürokratische Hindernisse, in denen Befreiung aufläuft. Man darf sich nur unter „Revolution“ nicht Guillotine und Barrikade vorstellen, keinen Wohlfahrtsausschuss und keine Diktatur, keine Tscheka und keinen Gulag. So etwas muss aktiv bekämpft werden, weil es zu noch schlimmeren Strukturen als den vorgefundenen führt. Aber Massenbewegungen, die einen radikalen Bruch machen und die Emanzipationserfahrungen verallgemeinern, bleiben unsere große Hoffnung. Es gibt gute Gründe und historische Erfahrungen dafür, „Revolution“ und „Gewalt“ nicht zu identifizieren. Indem das Buch sehr großen Wert auf Kultur, Emanzipation, antimilitaristische und gewaltlose Bewegungen legt, arbeitet es gegen die Auffassung, mit Gewalt seien schnelle Erfolge möglich oder sie sei die einzig effektive Abwehr.
(1) Siehe Nachdruck in der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ): www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=10125
Anmerkungen
Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche. Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, zahlreiche Abb., 280 Seiten, ISBN 3-87956-307-1, 19,80 Euro
Leseprobe: www.karin-kramer-verlag.de/lp/307-1-lp.html