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Russische Revolution, 32 Jahre zu spät

| Sal Macis

Dieses Buch wäre ein gutes und wichtiges gewesen, wenn es denn 1974 publiziert worden wäre, in jenem Jahr, in dem diese Uniarbeit von Rudolf Naef verfasst wurde. Das Buch hätte das Verdienst gehabt, große Teile der noch jungen Forschungsarbeiten von Paul Avrich zur anarchistischen Bewegung in der russischen Revolution einem deutschen Lesepublikum vorgestellt und sie mit Zitaten aus den damals schwer erhältlichen Klassikern von Souchy, Goldman, Berkman, Rocker, Volin usw. bereichert zu haben. Im Jahre 2006 aber eine 32 Jahre alte Arbeit zum Thema zu veröffentlichen, ist ein Ärgernis und inhaltlich ein Rückschritt.

Der des Russischen kundige Autor hat damals immerhin drei in den zwanziger Jahren in Berlin und Paris erschienene Exilzeitschriften russischer AnarchistInnen zur Kritik der Bolschewiki ausgewertet, aber phasenweise auf jeder vierten Seite (z.B. S. 152, 158, 164, 166) darauf hingewiesen, dass in den sowjetischen Archiven „offenbar eine riesige Menge Material über den russischen Anarchismus“ liegt, das es noch durchzusehen gelte. Diese Archive sind nun immerhin auch schon 15 Jahre lang zugänglich. Anstatt dass sich interessierte ForscherInnen einmal nach Moskau und Petrograd aufmachen, um die anarchistischen Zeitungen und die Dokumente über die Repression durch die Bolschewiki vor Ort zu konsultieren, wird uns LeserInnen diese Mottenkiste präsentiert.

Eine Seite Vorwort ist dem Autor die Erklärung wert, sich „in den letzten dreißig Jahren aus beruflichen Gründen nicht mehr intensiv mit der Forschung zu diesem Thema befasst“ (S. 9) zu haben. Das ist sein gutes Recht, warum dann aber jetzt diese Veröffentlichung?

So wird uns als russischer Anarchismus vorgesetzt, was 1974 eben als solcher wahrgenommen wurde: der arbeiterbewegte Anarchosyndikalismus und noch ein wenig die ukrainische Nabat-Bewegung. Seither wird zwar Leo Tolstoj in jeder halbwegs Ernst zu nehmenden Einführung in die Anarchie als „Klassiker“ genannt, in diesem Buch kommen aber weder Tolstoj noch die tolstojanische Bewegung, weder ihr Einfluss auf die Bauernschaft noch die Verfolgung der russischen Kriegsdienstverweigerer durch die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution vor. Die Machno-Bewegung und Kronstadt werden nur ganz am Rande erwähnt, ihre Entstehung und ihr Verlauf ausgespart und ihr anarchistischer Charakter in Zweifel gezogen (S. 37). So wird eine anarchistische Bewegung wieder dem Vergessen übergeben, aus dem sie doch eigentlich hervorgeholt werden sollte. Wer das Buch liest, erfährt von der Vielfalt des russischen Anarchismus nur einen kleinen Ausschnitt.

Rudolf Naef: Russische Revolution und Bolschewismus 1917/18 in anarchistischer Sicht, Verlag Edition AV, Lich 2005, 190 Seiten, ISBN 3-936049-54-8, 14 Euro