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Zahlungsbereitschaft

| Rüdiger Haude

Eine Agenturmeldung huscht über die Ticker, mit einem ökonomischen Thema. Sie verursacht zehnzeilige Meldungen der Tageszeitungen, man liest darüber hinweg, ist schon bei der nächsten Meldung, hat sie fast vergessen. Oder war da was? In Wahrheit hat sich für einen Augenblick ein ethischer Abgrund aufgetan, ein schwarzes Loch der Moral. Darf denn das wahr sein?

„Aids schadet Osteuropa mehr als Afrika“. So etwa lautete die Überschrift, unter welcher Anfang Oktober die Ergebnisse einer Studie gemeldet wurden, die u.a. vom Kieler Institut für Weltwirtschaft verantwortet wird.

So weit, so schlimm. Aber die Forscher ließen dpa auch noch melden, wie sie denn die „sozialen Kosten“ ermittelt hatten, die in Osteuropa größer als in Afrika sein sollten – eine nicht ganz unwichtige Frage, wenn man bedenkt, dass im subsaharischen Afrika nach den neuesten Zahlen immer noch mehr als sechzehn mal so viele Menschen mit HIV infiziert sind wie in Osteuropa einschließlich Zentralasien.

Man muss diese Formulierung zweimal lesen, aber so stand sie wirklich in fast jedem Provinzblatt:

Die überraschende Einsicht der Forscher war mit Hilfe „eines auf individuellen Zahlungsbereitschaften für ein AIDS-freies Leben basierenden intertemporalen Optimierungsmodells“ gewonnen worden.

Was heißt das?

Die „sozialen Kosten“ der Krankheit AIDS sind umso höher, je mehr Geld der Infizierte für ein AIDS-freies Leben auszugeben bereit wäre?

Das liefe ja darauf hinaus, das Leben eines reichen Menschen sei mehr „wert“ als das Leben eines Armen!

Undenkbar im 21. Jahrhundert!

Das fundamentalste von allen ethischen Prinzipien: dass kein Mensch mehr wert ist als ein anderer Mensch – sollte doch auch in der Bildungswüste Deutschland noch als Konsens unterstellt werden dürfen. Oder gerade in Deutschland, das sich doch vor noch nicht 70 Jahren mit der Selektion „lebensunwerten Lebens“ einen einsamen Spitzenplatz in der weltgeschichtlichen hall of shame erworben hat.

Ich schickte eine höfliche Email an den deutschen Koautor der Studie, Michael Stolpe, in der ich um Aufklärung über die doch sicherlich von der Presseagentur oder von meiner Heimatzeitung vermurkste Formulierung bat. Das war am 6. Oktober. Bis heute (26. Oktober) erhielt ich keine Reaktion auf die Anfrage. Nun gut, Stolpe mag nach Diktat verreist sein. Schauen wir also gleich in den Wortlaut der „Studie 1297“ des „Instituts für Weltwirtschaft“ in Kiel, die im Internet frei einsehbar ist (www.uni-kiel.de/ifw/pub/kap/2006/kap1297.pdf).

Frei einsehbar, obwohl sie recht eigentlich verfassungsfeindlich und womöglich auch jugendgefährdend, mit Sicherheit aber ein Verstoß gegen die guten Sitten ist. Wir befinden uns mit einem Schlag mitten in der Geisterbahn volkswirtschaftlicher Menschenverachtung. Wer bislang dachte, der Begriff „Humankapital“ sei abstoßend, der kannte nur die diskursive Vorhölle.

Stolpe und seine Koautorin, Julia Fimpel aus Budapest, machen von Anfang an klar, dass sie nichts Geringeres anstreben als eine exakte statistische Bestimmung des „Lebenswerts“ von Menschen in unterschiedlichen Ländern. Diese Aufgabe werde „immer dringlicher“, unter anderem für umweltpolitische Entscheidungen, Festlegungen von Geschwindigkeitsbegrenzungen, und zunehmend eben auch für gesundheitspolitische Maßnahmen. Während frühere Ansätze nur das Einkommen der Betroffenen oder einen „objektiven Gesundheitszustand“ berücksichtigt hätten, besitze der Zahlungsbereitschafts-Ansatz den Vorzug, die subjektive Einschätzung der Betroffenen selbst zum Maßstab zu machen. Wir lernen aus diesen wissenschaftlichen „Forschungsstand“-Referaten, welche Phantasie offenbar seit vielen Jahren in den Wirtschaftswissenschaften dafür aufgewandt wird, Menschen nach ihrem unterschiedlichen „Lebenswert“ zu sortieren.

Ersparen wir uns die spitzfindigen Erörterungen der Studie, wonach der Wert von Menschen mittleren Alters höher ist als der von Kindern oder Greisen. Notieren wir nur beiläufig, dass die Zahlungsbereitschaft im Falle des Todes auf Null sinkt, woraus offenbar geschlossen wird, dass sie in der Nähe des Todes eben auch schon in der Nähe von Null rangieren müsse. Nichtlineare Mathematik ist für die AutorInnen anscheinend von einem anderen Stern; um wie viel mehr dann die Wahrnehmung des Verhaltens und Fühlens wirklicher Menschen! (Selbstverständlich ist für die Ermittlung der „Zahlungsbereitschaft“ keine einzige Person befragt worden. Diese „Bereitschaft“ wird von den Wissenschaftlern verordnet.) Ignorieren wir all die kalten Erwägungen, unter welchen Bedingungen Menschen sogar dafür zahlen würden, zu sterben. Lassen wir den ganzen aus diesem Ansatz resultierenden Formel-Unsinn weg, von dem die Abbildung nur eine Kostprobe liefern möge. Die Menschenverachtung verbrämt sich hier nur pseudowissenschaftlich – das hat sie vor 92 Jahren, als das Kieler „Institut für Weltwirtschaft“ gegründet wurde, auch schon getan, damals darwinistisch, zur Rechtfertigung der deutschen Kolonialpolitik.

Würdigen wir nur die Grundprämisse unserer Formel-Virtuosen: „ein höheres Einkommen impliziert eine höhere Zahlungsbereitschaft für Verbesserungen des Gesundheitszustands“. Alleine deshalb sollen die „sozialen Kosten“ von AIDS in Osteuropa größer sein als in Afrika, „denn das derzeitige Pro-Kopf-Einkommen in diesen Ländern ist höher und der erwartete Einkommenszuwachs ist ebenfalls höher, weil die Menschen in Osteuropa mehr Humankapital akkumuliert haben“. Also ist der „Lebenswert“ der OsteuropäerInnen entsprechend höher als jener der AfrikanerInnen.

Der Blödsinn dieses Ansatzes liegt natürlich darin, dass als „Zahlungsbereitschaft“ rubriziert wird, was in Wahrheit Zahlungsfähigkeit ist. Wäre ich mit HIV infiziert, wäre ich selbstverständlich bereit, hundert Oktillionen US-Dollar für ein AIDS-freies Leben hinzublättern. Nur dummerweise hätte ich das Geld nicht. Und gerade dieses kleine Handicap soll nun rechtfertigen, dass mir von außen erst recht nicht geholfen wird!

Denn diese Selektionsphantasien wollen nicht im Elfenbeinturm bleiben. Sie wollen praktisch werden. So empfiehlt man der Europäischen Union: „In die Länder mit den größten Wohlfahrtsverlusten sollte natürlich mit Priorität investiert werden.“ Geholfen werden sollte also zuvörderst jenen Ländern, wo das Pro-Kopf-Einkommen am höchsten ist. Nun sagt man ja, der Teufel scheiße immer auf den größten Haufen. Ob dieses Sprichwort unsere Forscher in ihrem heimlichen Anspruch, Gott zu spielen, beirren kann?

Und es ist nur gut, dass Makro-Ökonomen und Mikro-Ökonomen einander nicht mögen! Fallen die Lebenswert-Gleichungen erst in die Hände der letzteren, dann könnten diese das Verfahren unserer Formelkünstler mit demselben Recht auf Individuen anwenden und würden zu dem Ergebnis gelangen, dass der wirtschaftliche Schaden einer AIDS-Erkrankung von, sagen wir: Graf Koks von der, sagen wir: Deutschen Bank, inzwischen vierhundertmal so groß ist wie bei derselben Krankheit, wenn sie Erika Mustermann betrifft. (Man müsste dann vielleicht den klammheimlichen Gedanken beiseite schieben, dass manchmal besonders „zahlungsbereite“ Individuen einen beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten, solange sie am Leben sind.)

Aber vorerst wird das Selektionsverfahren ja auf Länder und ganze globale Regionen angewandt; das macht dieses Verfahren, obwohl es echt neoliberal bleibt, objektiv rassistisch. Die AutorInnen schwadronieren ja gerade locker darüber, welche Menschen man denn nun lieber sterben lassen soll als andere! Und – abrakadabra! – es sind die Afrikaner. Wenn sich solcher Rassismus hinter esoterischen mathematischen Formeln versteckt, ist dies nur ein weiterer Beweis dafür, dass auch und gerade sich „objektiv“ gebende Wissenschaften anfällig für ideologische Verirrungen, ja: für kriminelle Gesinnung sind.

„Wegen der überregionalen Bedeutung“, schreibt Wikipedia, wird das Institut für Weltwirtschaft in Kiel „vom Bund, der Gemeinschaft der Länder und dem Land Schleswig-Holstein finanziert“. Hiermit bekunde ich als Steuerzahler, dass meine Zahlungsbereitschaft für ein Institut, das solche Studien wie die beschriebene nicht stoppt, sondern noch über dpa groß aufbläst, erschöpft ist. „MWP = 0“, meine Herrschaften!

"Grenzzahlungsbereitschaft": Hinter solchen Formeln verschanzt sich der zeitgenössische Rassismus der Mitte.