gewaltfreiheit

„Die Gegenseitige Hilfe ist das Normale“

Ein Gespräch mit dem Friedensforscher Johan Galtung

| Interview: Torsten Bewernitz

Der norwegische Politologe Johan Galtung (* 24. Oktober 1930 in Oslo) gilt als einer der Gründungsväter der Friedens- und Konfliktforschung. In Oslo gründete er das Internationale Friedensforschungsinstitut, das erste seiner Art in Europa. Der Direktor des internationalen TRANSCEND-Netzwerks für Frieden und Entwicklung ist Begründer der Transcend-Methode. Im Jahre 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis, 1993 den Gandhi-Preis.

In über 40 Konflikten weltweit wirkte er als Vermittler, so in Sri Lanka, Afghanistan, Nordkaukasus und Ecuador.

Er prägte auch die Begriffe strukturelle Gewalt und positiver Frieden und war maßgeblich an der Entwicklung des Konzeptes der sozialen Verteidigung beteiligt. Für die Kommunikationswissenschaft bedeutsam sind die von ihm 1965 gemeinsam mit Mari Holmboe Ruge herausgearbeiteten Nachrichtenfaktoren.

Zur Theorie der Strukturellen Gewalt

Graswurzelrevolution (GWR): Bekannt geworden sind Sie insbesondere für den Begriff der Strukturellen Gewalt. Frieden, das halte ich in diesem Konzept für wesentlich, ist hier nicht das Gegenteil von Krieg, sondern das Gegenteil von Gewalt. Ist nicht, dieses Konzept vorausgesetzt, nahezu die gesamte Friedens- und Konfliktforschung heutzutage verkürzt, da sie nur auf Krieg oder weiter auf personale Gewalt orientiert ist?

Johan Galtung: Was ich bemerke, geht in diese Richtung. Das ist ja ganz klar, man kann nur einen Schwerpunkt haben. Was ich gemacht habe, ist eine Ausdehnung des Gewaltbegriffes und damit der Friedensproblematik. Aber das man einen Schwerpunkt hat und mehr in eine Richtung arbeitet als in andere, ist in allen Fachrichtungen so. Ich bin damit einverstanden, wie Sie das sagen. Das gilt aber für die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Wenn ich in einem Land wie Indien bin, dann finde ich dort sehr viel mehr Forschungen über Strukturelle Gewalt.

GWR: Ich sehe hier Parallelen zu einer Marxschen wie auch zu einer Foucaultschen Gesellschaftsanalyse. Beide argumentieren – zumindest zeitweise – mit einem strukturellen Kriegsbegriff, d.h. sie analysieren die Gesellschaft als konfliktförmig. Sind diese Argumentationen nicht nahezu identisch mit Ihrem Verständnis von Struktureller Gewalt?

Johan Galtung: Also, mein Strukturverständnis kommt nicht von diesen beiden Herren. Für mich war der Ausgangspunkt ganz einfach: Gewalt als etwas, das vor sich geht – und es steckt nicht notwendigerweise eine Absicht dahinter. Ich habe auch viel über Naturgewalt geschrieben und insbesondere über kulturelle Gewalt. Aber dann stellt sich natürlich das Problem: Wie versteht man Struktur? Und das verstehe ich anders als die beiden Denker.

Nach der bekannten Arbeit über Strukturelle Gewalt habe ich mit verschiedenen Modellen weitergearbeitet, und der Begriff „Gewalt“, wie ich damals darüber schrieb, war einfach nur die vertikale Strukturelle Gewalt. Deshalb habe ich eine andere Frage aufgeworfen: nach der strukturlosen Gesellschaft, wo die Gewalt darin besteht, dass es keine Struktur gibt. Teilweise hat das etwas mit Postmodernität zu tun. Es gibt Leute, die sagen, damit behaupte sich das Individuum: für starke Individuen ja, für die Schwachen bestimmt nicht.

Neben der vertikalen gibt es eine horizontale Gewalt, die so eingekreist ist, dass es keine Bewegungsfreiheit gibt. Und es gibt die Mischung von horizontaler und vertikaler Gewalt, wo das noch mehr der Fall ist. Also: Zu viel Struktur – zu wenig Struktur, zu vertikal – zu horizontal. Das wären die Dimensionen davon. Darüber haben Marx und Foucault nicht geschrieben. Das hat mit ihrem Strukturbegriff zu tun: Beide haben über Vertikalität geschrieben.

In Japan habe ich andere Formen der Gewalt gefunden. Eine Menge Japaner sind in den 70er Jahren aus Tokio verschwunden; es gab keine Leichen, keine Abmeldungen. Man könnte sagen: Es waren „Flüchtlinge“ der zu strukturierten Gesellschaft. Nun haben diese Leute teilweise im Südpazifik ihr Asyl gefunden, etwa in Höhlen gelebt. Das war das absolute Gegenteil, eine strukturlose Gesellschaft. Das Glück haben sie nicht gefunden. Denn es könnte sein, dass es einen Punkt gibt in der Mitte, mit etwas Vertikalität, mit etwas Horizontalität, nicht zu viel, nicht zu wenig. Der Begriff der Strukturellen Gewalt hat sich gegenüber der frühen Fassung, als ich ihn rein vertikal betrachtete, verändert.

Wichtig wurde auch der Begriff der Kultur. Da sind die Dimensionen: Zu wenig Kultur – zu viel Kultur, und nicht nur Horizontalität und Vertikalität. Kulturauflösung wäre dann Anomie und Strukturauflösung Atomie. Und dann gibt es keine gegenseitige Hilfe, aber auch keine Ausbeutung – weil es keine Struktur gibt.

GWR: Den Begriff der „gegenseitigen Hilfe“ hat der Anarchist Pjotr Kropotkin geprägt als Prinzip gegen die Theorie eines gesellschaftsimmanenten latenten Konflikts. Wirkt Ihrer Meinung nach den latenten Konflikten ein latenter Kooperationswille entgegen, in den eine entsprechende Hoffnung zu setzen wäre?

Johan Galtung: Konflikte wird es immer geben. Das hat mit Produktion und Zielsetzung zu tun. Es hat den Anschein, dass Menschen bescheiden sind und immer weniger Ziele haben und deswegen weniger Konflikte – das könnte sein. Aber das ist auch ein Modell. Und ich forsche jetzt genau darüber, die Produktion von Zielsetzungen. Die „Gegenseitige Hilfe“ ist, wie ich das sehe, das Normale. Das ist so normal, dass man es manchmal nicht sieht. Kropotkin hat das Offenbare und Normale gesagt, und Darwin hat einige Einzelfälle herausgeholt und daraus das „Typische“ gemacht.

Ich sehe keinen Widerspruch zwischen gegenseitiger Hilfe und Konflikt. Die Problemstellung ist immer: Wie geht man mit Konflikten um? Und gegenseitige Hilfe ist z.B. der Austausch von Erfahrungen, was beispielsweise Frauen machen, wenn sie zusammen sind und über die Beziehungen reden: Wie gehst du mit deinem Mann um, und wie tu ich es. Was auch Kinder aus Familien machen, wenn die Eltern geschieden sind: Wie gehst du mit einem neuen Vater um usw. Das ist das Normale. Aber wenn man Gesellschaft jetzt auflöst, so dass es keine Struktur gibt, verschwindet das. Deswegen existiert auch in einer strukturlosen Gesellschaft Strukturelle Gewalt.

Ich möchte betonen, da Kropotkin immer im Gegensatz zu Darwin dargestellt wird, dass es einen japanischen Ansatz gibt, den von Kinji Imanishi. Das ist eine völlig andere Evolutionstheorie. Er beschreibt ebenfalls die Zusammenarbeit, aber auch, dass die Natur sich immer verändert und die Natur sehr viel dynamischer ist, auch in einer kurzzeitigen Perspektive des Dynamischen, und da eröffnen sich neue Nischen. Diese Nischen sind leer. Es gibt keine Tiere, keine Pflanzen, es ist sozusagen wie im Himmelreich.

Und dann kommt ein Ei dazu oder ein Samen und fühlt sich ganz wohl und hat dort die Möglichkeit, sich zu entfalten.

Das ist weder Kooperation noch Streit, sondern ganz einfach eine Potentialität.

Man könnte sagen, dass eine Art, wie Darwin sie dargestellt hat, ein wenig ist wie die britischen Kolonialisten, und das war ja auch sein Modell: Er findet etwas Unterlegenes, und das wird dann ausgerottet. Bei Kropotkin dagegen sind diese Arten liebenswürdig und auf Kooperation eingestellt. Für Imanishi sind sie Entdecker, sie sind auf Entdeckungsreise und finden etwas, wo sie Möglichkeiten haben. Ich sage das nur, weil ich denke, in einer westlichen Ökonomie sind wir verloren.

GWR: Muss der Mensch, wie Sie es in „Strukturelle Gewalt“ (dt. Titel) dargestellt haben, für alle Zeiten gezwungen sein, andere Menschen zu klassifizieren? Sind also nur Klassengesellschaften denkbar?

Oder könnten nicht Wissenschaft und Selbstbetrachtung des Menschen sich dahin ändern, dass diese Klassifizierung der Subjekte – mithin der Subjektstatus als solcher – irgendwann verschwindet oder zumindest an Relevanz verliert? Denn ist hier nicht die Grundstruktur der Konfliktförmigkeit zu finden?

Johan Galtung: Da gibt es eine Menge von Einzelfragen. Dass Menschen andere Menschen nicht klassifizieren, halte ich für unmöglich, wenn man mehr als sieben Menschen in einem Zimmer hat. Das ist das logische Sieben-Gesetz. Es wurde erforscht, dass, wenn man in einem Restaurant sitzt und mindestens sieben Gerichte zur Auswahl hat, die Klassifizierung beginnt. Und ich glaube, es ist nicht so einfach, das aufzuheben. Denn das Gehirn ist nicht fähig, mit höheren Zahlen umzugehen, also klassifiziert man z.B. Fleisch – Fisch – Vegetarisches. Und dann entscheidet man: Ich wähle heute vegetarisch. Und dann gibt es plötzlich nur drei Gerichte zur Auswahl.

Dasselbe tun wir mit Menschen, und daher bin ich nicht überzeugt, dass es ein gangbarer Weg wäre, Klassifikationen aufzuheben. Da muss man vielleicht das Gehirn verbessern.

Was aber ein gangbarer Weg ist, wäre eine Veränderung des Strukturbewusstseins. Klassifizierung könnte ein Bestandteil davon sein, aber das Interessante ist ja, für jede Klassifizierung eine paritätische, egalitäre, horizontale Strukturmöglichkeit zu finden. Und das setzt ein Verständnis von Horizontalität und Vertikalität voraus. Das wäre eine gute Aufgabe für Soziologen.

GWR: Ich habe den Eindruck und mehrfach selber erfahren, dass in den modernen Sozialwissenschaften – zumindest in der BRD – das Konzept der Strukturellen Gewalt oftmals abgelehnt wird, u.a. mit dem Hinweis auf den 11.9.2001: Angeblich sei der Begriff „verharmlosend“ gegenüber direkter oder personaler Gewalt. Hat sich Ihr Gewaltkonzept durch das Ereignis in New York geändert?

Wenn nicht, wie reagieren Sie auf derartige Vorwürfe?

Johan Galtung: Das ist Geschichtslosigkeit. Die Leute denken überhaupt nicht über Vergangenes nach. Man kann über das, was von meinen Lehren eingetroffen ist, ohne Wissen über den März 1945 nichts sagen. Das war der Vertrag zwischen Roosevelt und Abdul Aziz von Saudi-Arabien, aufgesetzt auf einem Hangarschiff im Suez-Kanal, über Ölzugang und die Verpflichtung der Vereinigten Staaten, das arabische Königshaus gegen die eigene Bevölkerung zu schützen. Also, wenn man das nicht weiß, müsste man eigentlich sein Maul halten.

Ist das strukturelle Gewalt? Genau das ist es! Denn genau durch diesen Vertrag hat sich eine Unmenge von struktureller Gewalt und kultureller Gewalt und direkter Gewalt in Saudi-Arabien entwickelt: Man steht also in einem Kriegsverhältnis zu seinem eigenen Volk, das dies benannt hat, Proteste organisiert hat, und es gab auch Aufstände. Und das hat mit dem Wahabismus zu tun, dessen Form eines fundamentalistischen Diskurses ich im Rahmen einer Vorlesungsreihe über Rechtfertigungsstrategien von Krieg beleuchtet habe.

Die US-AmerikanerInnen dagegen nehmen an, dass die Geschichte am 11. September begann, als da plötzlich etwas hereingeflogen kam, ohne die vorherigen Tatsachen zu betrachten: Es gibt keine Vorgeschichte, und das ist ein causa sui, und man versteht es nur durch den Begriff „Übel“. Wenn dem so wäre, dann könnte man es personale, rein personale Gewalt nennen. Aber da ist man schief gewickelt. Mit genügend Geschichtslosigkeit kommt man vielleicht zu solchen Ansichten. Die sogenannten Experten dürfen sich schämen.

GWR: Ein vergleichbarer Vorwurf ist aus der mittlerweile zu recht beachteten feministischen Friedensforschung zu hören: Ihr Gewaltkonzept würde patriarchale Gewaltverhältnisse tendenziell ausblenden. Persönlich finde ich, ist gerade patriarchale Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen gut umschrieben. Wie ordnet sich patriarchale Gewalt in die von Ihnen konzeptionalisierte Gewaltstruktur ein?

Johan Galtung: Ich habe eine Unmenge darüber geschrieben. Ich habe genau darum den Begriff der Struktur eingeführt, und innerhalb derer gibt es eine phantastische Menge von Kategorien. Und Geschlechterverhältnisse sind da selbstverständlich enthalten.

Aber es gibt sehr viel Angst und sehr viele, die darauf insistieren, dass patriarchale Gewalt eigentlich die einzige Gewaltform sei. Damit bin ich nicht einverstanden.

Ich arbeite jetzt z.B. in meinem kommenden Buch über Tiefenstrukturen, mit acht oder eigentlich sogar zwei mal zehn parallelen Strukturen, wovon Geschlecht nur ein Strukturprinzip ist. Und das auf individueller und auf staatlicher Ebene, und die wiederholen und spiegeln sich. Und aus dieser Analyse entsteht ein Instrument, das man nutzen kann. Und dann habe ich, dem entgegenstehend, zwei Reduktionismen, Marxismus und Feminismus, die eindimensional sind, das wären also Extremmarxismus und Extremfeminismus, als Beispiel. Dieser Kritik entgegne ich mit dem bidimensionalen Vorschlag, die Marxsche und die feministische Betrachtungsweise zu kombinieren. Was kriegen wir dann?

Da finden wir eine Menge von neuen Sachen. Aber ich arbeite selber mit 20, nicht nur mit zwei.

In Deutschland haben einige Kollegen und viele Kritiker den selben Fehler gemacht, sie haben einen Artikel gelesen, aus dem Jahr 1965 oder 1968, mit der Annahme, das meine Produktion damit zu Ende gekommen ist. Das sind meine Jugendarbeiten! Und Jugend hat einen gewissen Charme, aber mittlerweile sind meine Forschungen weitergegangen.

Was tun gegen soziale Ungerechtigkeit?

GWR: Strukturelle Gewalt ist mehr als das Surrogat sozialer Ungerechtigkeit, diese ist aber manifester Bestandteil. Die hier zugrunde liegende Struktur – in einem Wort: Kapitalismus – erscheint eindeutig. Soziale Ungerechtigkeit im Weltsystem ist ein weiterer ihrer Forschungsschwerpunkte. In der BRD lässt sich von Seiten der KritikerInnen des globalisierten Kapitalismus eine Rückkehr zu den Thesen Keynes‘ beobachten. Lösen diese das globale Problem der sozialen Ungerechtigkeit bzw. vermindern sie es?

Johan Galtung: Soziale Ungerechtigkeit ist ein Bestandteil struktureller Gewalt. Ich benenne vor der Beantwortung der Frage zunächst einmal einige Definitionen, woraus Globalisierung besteht. Durch gewalttätige Globalisierung wird natürlich alles sehr viel schlechter. Aber das heißt nicht, dass man nicht einige andere Definitionen von Globalisierung nennen könnte. Ich habe in einem Vortrag über die interkommunale Zusammenarbeit auf die Globalisierung von unten hingewiesen.

In der heutigen Welt sind die Vereinten Nationen das beste Instrument für soziale Gerechtigkeit. Die Vereinten Nationen sind heute fast kaputt gemacht durch einen Konkurrenten: die USA. Der heutige Botschafter der UN hat ja den wunderbaren Vorteil, dass er so ehrlich ist, er redet Klartext. Und er sagt, was die USA versucht haben. Und er sagt, dass es ganz einfach wäre, globale Probleme zu lösen. Für die USA nicht, aber es könnte sein, dass es für uns anders aussieht. Das ist eine Frage der Ablösung. Dann werden die USA alles versuchen, die Möglichkeiten der Vereinten Nationen einzuschränken.

Dazu kommt eine ganz einfache Tatsache: Die Vereinten Nationen bestehen aus zwei Teilen, dem Sicherheitsrat und dem Ökonomisch-Sozialen Rat. Der Ökonomisch-Soziale Rat hat ungefähr 95 % des Geldes, der Sicherheitsrat 5 %. Der Sicherheitsrat bekommt 95 % oder sogar 99 % der Medienpräsenz – so in der Richtung. Und das geht meistens schief. Die Erfolge dieses Ökonomisch-Sozialen Rates sind kleine Veränderungen, sie gehen in allen möglichen Ecken der Welt vor sich, und es gibt keinen Bericht. Die US-Amerikaner wissen das, deswegen möchten sie gerne das Ökonomische und Soziale unter den anderen globalen Institutionen geregelt wissen, und das hat mit den Interessen der Weltbank zu tun. Also: die UNESCO still und leise auflösen, die Weltgesundheitsorganisation auflösen und deren Aufgaben den globalen Institutionen zuordnen und nur den Sicherheitsrat behalten. Mit einer klaren Dominanz der Vereinigten Staaten. So geht es vor sich. Ich weiß nicht, ob in Deutschland diese Diskussion aufgenommen wurde, ich habe es hier niemals gehört. Das hat etwas mit der Tabuisierung der Vereinigten Staaten zu tun. Man hat versucht, das Wort „Vereinigte Staaten“ nicht zu benutzen, und kommt damit nicht weiter.

GWR: Mir ging es mit der Frage nicht nur um das Weltsystem, sondern um soziale Ungerechtigkeit im Alltag, wie sie anhand der EU-Verfassung und der Hartz IV-Gesetze diskutiert wurde. Die Frage wäre also: Können neokeynesianische Forderungen Ihrer Meinung nach finanzielle ökonomische Ungerechtigkeit im Alltag vermeiden?

Johan Galtung: Das ist ein Fehler des Systems. Das hat freilich etwas zu tun mit einer hohen zunehmenden Arbeitsproduktivität und damit, dass es eine obere Grenze für den Absatz gibt. In der Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder weniger arbeiten – das nennt man Arbeitslosigkeit – oder weniger Arbeitsstunden. Und das ist diese Verkürzung, erst runter auf 35 Stunden, dann wieder hoch auf 45 oder 48 Stunden, dann wieder runter auf 30 Stunden usw. Ich würde sagen, die Lösung ist hier eine geldlose Ökonomie. Eine geldlose Nebenökonomie. Aber damit können Sie nicht unter Ökonomen werben, dann sind Sie kein Ökonom. Also: Hier kommt der für mich zentrale Gesichtspunkt. Das ist ein ganz offener, gangbarer Weg, er muss aber mit Talent begangen werden. Und ich muss betonen, das richtet sich nicht gegen den Markt als Ort des Austausches! Wenn ich oder sonst jemand eine Hilfskraft für die Reinigung meines Hauses gegen eine Stunde Vorlesung ausgetauscht habe, werde ich dennoch am Ende beurteilen, wie gut die Reinigung war. Und wenn sie nicht gut war, werde ich das nächste Mal einen anderen finden.

Dasselbe gilt für meine Vorträge.

In Japan hat sich das ganz häufig unter Rentnern entwickelt. Die brauchen nicht mehr Geld, sondern z.B. mehr Hilfe zu Hause. Und sie sitzen dort mit einer Unmenge Erfahrung in unserer traurigen Gesellschaft, in der Leute mit Erfahrung kein Wort zu sagen haben. Das geht dann so vor sich: Es rufen Schulen an und sagen, die Schüler möchten gerne wissen, wie es ist, ein Tischler zu sein. Da gibt es ja nur theoretische Sachen, aber wie ist das Leben eines Tischlers? Wir können leider nicht bezahlen, das steckt nicht in unserem Pensum. Und das finde ich wahnsinnig spannend.

Sie haben eben die EU-Verfassung genannt, eine solche gibt es nicht. Es war kein Grundsatzentwurf. Es war ein Zusammenbasteln der Hauptthesen der unterschiedlichen Direktorate. Es stand ja nicht einmal die Gleichheit unter den Geschlechtern im Entwurf.

Und dass diese Verfassung von den Franzosen und den Niederländern nicht angenommen worden ist, ist ein großes Kompliment für die beiden Länder. Und es sagt uns, dass die Demokratie funktioniert.

Und die Deutschen dürfen sich schämen, dass sie nicht den Mut hatten, über die EU-Verfassung in einem Referendum abstimmen zu lassen.

GWR: Die Regierung in dem Fall, wir hätten ja gerne abgestimmt.

Johan Galtung: Also, ich erinnere mich an einen Forschungsbericht von einer Universität vor vielen Jahren, die herausgefunden hat, dass so ungefähr 75 % der Bevölkerung gerne Volksentscheide haben würden. Und 65 % der Abgeordneten waren ganz klar dagegen. Das ist die politische Kaste.

Journalismus für den Frieden

GWR: Sie haben in Anlehnung an lateinamerikanische Forschungen einen Friedensjournalismus vorgeschlagen, dessen Kriterien Friedens- bzw. Konfliktorientierung, Wahrheitsorientierung, Menschenorientierung sowie Lösungsorientierung sind.

Johan Galtung: Sagen wir: Menschen als Gegensatz von Eliten.

GWR: Also eine humane Orientierung.

Johan Galtung: Das trifft es. Das ist genau die Hauptkomponente.

GWR: In einigen Aspekten stimme ich nicht vollkommen überein. Das gilt etwa für eine „Wahrheitsorientierung“. Ich habe den Eindruck, dass die Medien überzeugt sind, wahrheitsorientiert zu berichten. Gerade dieses Objektivitätskriterium, das die Presse ja immer für sich beansprucht, verführt m.E. Medien dazu, ethische Bewertungen zu unterlassen. „Wahrhaftigkeit“ im Sinne von „Ehrlichkeit“, also einer Berichterstattung nach bestem ethischen Gewissen, wäre da – auch in Ihrem Sinne – doch die bessere Anforderung, oder?

Johan Galtung: Nein, die Berichterstattung könnte auch intersubjektiv sein. Objektiv – das weiß ich nicht, aber intersubjektiv, nach dem Motto „Das könnten wir auch so sehen“. Aber: Wahrheiten, man muss die Wahrheiten der verschiedenen Konfliktparteien verstehen. Der sogenannte „investigative journalism“ besteht nur darin, die Lügen der eigenen Seite zu entlarven, ich würde das bei einen Konflikt mit 27 Parteien siebenundzwanzig mal tun. Es geht um das ganze Feld aller Konfliktparteien. Und ich bin durchaus einverstanden mit der oftmals von rechts geäußerten Kritik, dass der investigative journalism etwas Masochistisches hat, also nur gegen die eigene Regierung gerichtet ist. Die Kritik an der eigenen Regierung ist in Ordnung, aber auch eine Kritik an den anderen Regierungen ist wesentlich.

GWR: Die „Menschenorientierung“ oder auch humane Orientierung halte ich für ähnlich problematisch, wenn sie denn tatsächlich der Konflikteindämmung dienen soll. Es ist in jedem Falle lobenswert, den „Stimmlosen eine Stimme“ zu geben, alleine schon, um eine gegebene Hegemonie anzugreifen. Es gibt aber zahlreiche Beispiele dafür, dass gerade die Benennung des Leids – z.B. die Unterdrückung der Kosovo-AlbanerInnen im ehemaligen Jugoslawien oder der Frauen in Afghanistan – als Kriegsbegründungen herhalten mussten. Auch die Benennung von Verantwortlichen kann durchaus konflikteskalierend wirken, oder?

Johan Galtung: Die Menschenorientierung alleine ist nicht konfliktvermeidend. Deshalb kommt der vierte Aspekt hinzu, die Lösungsorientierung. Was in den allgemeinen Menschen vor sich geht, ist Wut und Hass – ganz häufig. Und das muss man berechnen. Mit einem Krieg hat man das harte Fundament für einen nächsten Krieg, das muss man klar sehen. Wenn so weitergemacht wird wie bisher, haben wir die Garantie für einen nächsten Krieg. Ich habe z.B. früh gesagt, wir werden jetzt in den nächsten 500 Jahren Kriege im irakischen Gebiet oder mit Ausstrahlung vom irakischen Gebiet bekommen. Das ist in den 90er Jahren und in dieser Dekade eingetroffen, und es wird auch noch einige Jahre dauern. Das muss man berichten, das ist sehr wichtig. Aber das alleine reicht nicht hin, deswegen die Lö-sungsorientierung.

Der Vorschlag dieser vier Punkte ist als eine Totalität zu verstehen, man kann nicht einen Aspekt alleine betrachten. Das tun Journalisten ganz gerne, das dürfen Sozialwissenschaftler aber nicht tun.

Da Sie gerade das Kosovo erwähnten: Das war ein Krieg gegen den Staatskapitalismus mit Hilfe der bulgarischen Geheimdienste. Die haben diesen Hufeisenplan zusammengebastelt, für den es überhaupt keine soliden Argumente gab – überhaupt nichts. Einen Kosovo-Krieg gab es eigentlich nicht, das war ein Krieg gegen Serbien.

Es war ganz klar eine Propagandasache. Und gerade die Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Nachrichtendienst – ich glaube, das war eigentlich ein Antrag auf die EU-Mitgliedschaft. Davon stand kein einziges Wort in den Medienberichten.

GWR: Ein Grund für die nicht praktizierte Anwendung Ihrer Kriterien sind die Nachrichtenfaktoren, die Sie u.a. mit Marie Holmboe Ruge formuliert haben. Ich sehe Parallelen zu Noam Chomskys Idee des „fabrizierten Konsens“. Sind die von Chomsky aufgestellten Kriterien einer „demokratischen Propaganda“ – Monopolisierung, Rolle der Werbekundschaft, Informationspolitik der Lobbygruppen und Institutionen, systematische Kampagnen gegen nonkonforme Gruppierungen und Vorstellungen und der „Antikommunismus als nationale Religion“ – aktuelle Nachrichtenfaktoren?

Johan Galtung: Nein, das sind ganz unterschiedliche Dinge. Denn bei Chomsky geht es um ein ganz bewusstes Vorgehen, die Nachrichtenfaktoren sind nicht bewusst angewandt. Die sind einfach da, das hat mit der westlichen Tiefenstruktur zu tun. Und zwar besonders ausgeprägt durch eine Berufskultur, die Tiefenberufskultur der Journalisten. Bei Chomsky ist es eben fabriziert, er hat ein ausgezeichnetes Buch darüber geschrieben. Man könnte sagen, dass diese Fabrikation auf einer Welle der Nachrichtenfaktoren reitet, die zuvor schon da sind. Es gibt also eine Galtungsche Unterwelle und Chomskys Kritik der Ideologie.

GWR: Eine Tiefenstruktur, auf der bewusst aufgebaut wird?

Johan Galtung: Genau, die in diesem Sinne auch ausgenutzt wird. Dazu möchte ich noch ergänzen, dass ich sehr großen Respekt vor Noam habe, aber konstruktive Vorschläge habe ich niemals bei ihm gefunden: kein einziger Beitrag zu einer Lösungskultur. Ich finde das ungenügend, denn damit hat er einen bestimmten Begriff der Intellektualität geprägt: Analyse und Kritik. Und nicht die Verpflichtung, das Wissen und die Möglichkeiten auch konstruktiv zu verarbeiten. Das lässt er ganz einfach zur Seite. Das ist meine Kritik an Noam Chomsky.

GWR: Sie haben in der „Jungen Freiheit“ vom 9.12.2005 ein Interview gegeben. Die „Junge Freiheit“ ist ein Presseorgan der Neuen Rechten in Deutschland, ich würde sie als rechtsextrem bezeichnen. War das die Unkenntnis der Ausrichtung des Blatts oder ein Bekenntnis zu einem weiten Demokratiebegriff, der auch Positionen am rechten Rand zulässt?

Johan Galtung: Ich hatte keine Ahnung, was für eine Zeitung das ist. Die Graswurzelrevolution gilt als linksextrem, so hab ich Kontakte zu beiden Seiten.

GWR: Noam Chomsky hat z.B. auch mal ein Interview in der Jungen Freiheit gegeben…

Johan Galtung: Ich frage vor Interviews niemals nach der politischen Ausrichtung, ich bin da auf keiner Seite. Wenn der Teufel anruft und sagt, ich habe ein Höllenmagazin, ich hätte gerne eine Stellungnahme, dann habe ich nur eine Bedingung: dass die Wiedergabe korrekt ist. Und ich habe das Interview in der Jungen Freiheit gelesen, der Journalist hat genau gearbeitet. Ich habe sehr selten Journalisten, die keine Fehler gemacht haben. Und wo die Zeitung politisch steht, das ist nicht mein Problem, mein Problem ist, ob das, was ich zu sagen habe, ankommt. Ich weiß, dass es da in Deutschland eine Menge Berührungsängste gibt.

GWR: Abgesehen davon, dass Sie dieses Interview überhaupt gegeben haben, wurden ihre Äußerungen über die USA sehr kritisiert.

Johan Galtung: Ich habe das Wort „Faschismus“ auf die USA angewandt. Wie das in die Junge Freiheit passt, das weiß ich auch nicht. Der Journalist war ein wenig verblüfft. Aber davon abgesehen: Es geht um Morde für politische Zwecke – und in diesem Fall ist der Zweck ganz klar, alles gegen eine ökonomische Umverteilung zu tun, damit das System weiter funktioniert, wie es funktioniert hat. Zu diesem Zweck haben die USA nicht nur Millionen getötet, sondern dazu gehören ein Überwachungsstaat, eine Geheimpolizei, Satelliten, neue Waffen: Durch Phosphorbomben sind Menschen lebend verbrannt worden. Und dafür habe ich ein Wort, das Wort ist Faschismus.

Wenn man gerne ein Bündnis mit einem faschistischen Staat eingehen möchte, soll man das tun, aber sonst ist das nicht das Richtige. Wer naiv ist, sagt, das ist ein Problem der Regierung Bush. Das kann aber nur sagen, wer die Vorgeschichte nicht kennt. Viele US-amerikanische Regierungen haben so gehandelt. Sie haben gefoltert in Vietnam, sie haben gefoltert in Lateinamerika – es ist überhaupt nichts Neues. Gewisse Agenten vom CIA sagen, zwischen 1947 und 1987, innerhalb von 40 Jahren, hätte der CIA 6 Millionen Menschen umgebracht. Und das sind meistens kleine Leute. Kleine Leute, also eine kleine Bäuerin, die kooperativ arbeitet, oder ein Gewerkschaftsmitglied irgendwo. Die wurden ganz einfach umgebracht. Und sie machen so weiter, sie tun immer noch genau dasselbe. Wer ein Bündnis mit diesen Leuten eingehen will: Viel Glück. Ich schäme mich für meinen norwegischen Pass. Nicht weil wir Wale umbringen, das ist auch eine Sache. Aber es ist nichts im Vergleich zur Zusammenarbeit mit einem faschistischen Staat.

Literatur

Achbar, Mark (Hrsg.) 2001: Noam Chomsky - Wege zur intellektuellen Selbstverteidigung. Medien, Demokratie und Fabrikation von Konsens. Grafenau.

Chomsky, Noam 2002: Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Hamburg/ Wien.

Galtung, Johan 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek.

Galtung, Johan 1978: Peace and Social Structure. Essays in Peace Research III. Kopenhagen.

Galtung, Johan 1987: Strukturelle Gewalt. In: Albrecht, Ulrich und Helmut Volger (Hrsg.): Lexikon der Internationalen Politik. München/ Wien. S.475 - 479 [in diesem Beitrag hat Johan Galtung sein Konzept der Strukturellen Gewalt aktualisiert und erweitert.]

Galtung Johan 2003: Die USA, der Westen und der Rest nach dem 11. September/ 7. Oktober 2001. Ein Zwischenbericht. In: Meggler, Georg (Hrsg.): Terror und der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen. Paderborn.

Galtung, Johan 2006: Städte für die Menschen, Städte für den Frieden, Städte für die Zukunft. In: Werner Mittelstaedt (Hg.): Blickpunkt Zukunft. Beiträge und Zeitdokumente zur Zukunfts- und Friedensdiskussion. Norderstedt 2006.

Galtung, Johan und Marie Holmboe Ruge 1965: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers. In: Journal of Peace Research II. S. 64-91.

Imanishi, Kinji 2002: Die Welt der Lebewesen. München.

Kropotkin, Peter 1993: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Übersetzt von Gustav Landauer. Grafenau.

Bilke, Nadine 2002: Friedensjournalismus: wie Medien deeskalierend berichten können. Münster.

Anmerkung des GWR-Sätzers:

Das, was Johan Galtung in obigem Interview zur rechtsextremen "Jungen Freiheit" und zur Graswurzelrevolution, die als "linksextrem gilt", zu sagen hat, weist ihn nicht gerade als Kenner der hiesigen Medienszene aus. Es ist zudem eine absurde und ärgerliche Gleichsetzung von rechtsextrem und "linksextrem" wie sie bisweilen vom Verfassungsschutz praktiziert wird, aber nicht von einem solch renommierten Sozialwissenschaftler zu erwarten ist. Dass es zwei wissenschaftliche Arbeiten gibt, die bestätigen, dass die GWR den Galtungschen Kriterien eines Friedensjournalismus entspricht, ist dem Friedensforscher offenbar nicht bekannt. Die Arbeiten sind auf unserer Homepage dokumentiert:

1) Dominik Hanning: Die "Graswurzelrevolution" und das Konzept des Friedensjournalismus von Johan Galtung. Eine Analyse der Berichterstattung vor und während des dritten Irakkrieges. Hausarbeit am Institut für Soziologie, Uni Münster, Sommersemester 2003, Dozent: Dr. Bernd Drücke: www.graswurzel.net/news/galtung-gwr.shtml

2) Cornelia Oed: Das Konzept des Friedensjournalismus nach Galtung - Umgesetzt in der Monatszeitschrift "Graswurzelrevolution"? Hausarbeit am Institut für Kommunikationswissenschaft, Uni Münster, Sommersemester 2002, Dozent: Dr. Armin Scholl: www.graswurzel.net/news/friedensjournalismus.shtml