In dem neu im Verlag Graswurzelrevolution von Charles Jacquier herausgegebenen Buch "Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus" (Nettersheim, 2006) befassen sich mehrere Beiträge mit Simone Weils Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus ihrer Teilnahme an Revolution und Bürgerkrieg in Spanien sowie der Internationalen Gruppe der Kolonne Durruti. Nach Simone Weils Tod wurde ihre Kritik in der französischen libertären Presse immer wieder bis in die heutige Zeit kontrovers diskutiert, u.a. durch ehemalige anarchistische Mitkämpfer in den anarchistischen Milizen wie z.B. Louis Mercier. Ein weiterer, bisher unübersetzter Beitrag von Phil Casoar, veröffentlicht in dem Buch "Présence de Louis Mercier" (Atelier de création libertaire, Lyon 1999), widmet sich ebenfalls dieser Kontroverse, die als eine der bedeutendsten Diskussionen um revolutionäre Gewaltanwendung innerhalb der spanischen Revolution betrachtet werden kann. Wir publizieren den Text von Phil Casoar in der GWR erstmals in deutscher Sprache und zwar in mehreren Teilen. (Red.)
Im Rahmen seiner Beteiligung an der Kolonne Durruti beschreibt Charles Ridel (1914-1977; eigentlicher Name Charles Cortvrint, weitere Pseudonyme Louis Mercier, Louis Mercier Vega; A.d.Ü.) in seinem Tagebuch einige Ereignisse und publiziert sie in Le Libertaire (französische anarchistische Zeitung, in Paris produziert; A.d.Ü.). Über andere Ereignisse, die er notiert, schweigt er sich aus.
Diese dem Vergessen anheim gegebenen Ereignisse sollten sechzehn Jahre später wieder thematisiert werden, als der Brief, den Simone Weil (1909-1943) im Jahr 1938 an Georges Bernanos (1888-1948; katholischer Schriftsteller; A.d.Ü.) geschrieben hat, publik wird.
Simone Weil hatte gerade Les Grands Cimetières sous la lune (in dt. Übers.: Die großen Friedhöfe unter dem Mond, Arche-Verlag, Zürich 1983; A.d.Ü.) gelesen, ein Buch, in dem der katholische Romancier die Verbrechen der nationalistischen Seite denunziert hatte.
Charles Ridel war von der Persönlichkeit und dem intellektuellen Ruf von Simone Weil sehr beeindruckt gewesen, und nach dem Krieg war er mehrfach auf die Schriften der Philosophin, die inzwischen 1943 in London gestorben war, und auf deren Engagement an der Seite der MilizionärInnen der CNT-FAI (Confederación Nacional del Trabajo/Federación Anarquista Ibérica; A.d.Ü.) zurück gekommen.
Schon 1947 widmet er Simone Weil einen Artikel in Le Libertaire, den er mit den Initialen seines ersten Pseudonyms, C.R., signiert, obwohl er inzwischen die Identität des chilenischen Staatsbürgers Louis Mercier Vega angenommen hatte. Zwei Jahre später – er ist inzwischen Journalist beim Dauphiné Libéré geworden – publiziert er in dieser Tageszeitung von Grenoble anlässlich der Veröffentlichung des Buches von Simone Weil La Pesanteur et la Grâce (in dt. Übers.: Schwerkraft und Gnade, München 1952; A.d.Ü.) einen überschwänglich lobpreisenden Erinnerungsartikel.
Und noch 1951 trägt er einen Text zu einem Schwerpunkt der Zeitschrift L’Âge nouveau, redigiert von Lucien Feuillade, bei, der sich dem Thema „Simone Weil, Anarchistin und Christin“ widmet.
Deshalb ist für Louis Mercier die Veröffentlichung des Briefes von Simone Weil an Georges Bernanos (vollständig abgedruckt im neuen Buch des Verlags Graswurzelrevolution; A.d.Ü.) in der Herbst-Ausgabe des Jahres 1954 von Témoins (1) eine Art Schockerlebnis. Er glaubt, dass hier seinen Kampfgefährten aus der Internationalen Gruppe der Kolonne Durruti eine schlechte Art von Prozess gemacht wird. Simone Weil hat Bernanos tatsächlich einige tragische Ereignisse anvertraut, denen auch Ridel mehr oder weniger direkt während seines Aufenthalts an der Aragon-Front beiwohnte, über die er aber in seinen zeitgenössischen Artikeln im Libertaire nicht berichtet hatte.
Die Artikel von Mercier in Le Libertaire
Vor einer genauen Untersuchung dieser Ereignisse, sowie der einseitig, weil posthum geführten Polemik zwischen Simone Weil und Louis Mercier, zu deren verspätetem Auslöser sie wurden, wollen wir einen Blick auf die Artikel werfen, in denen Ridel Woche für Woche in Le Libertaire über den damaligen Vormarsch der Kolonne Durruti in Aragon berichtete.
Bereits in den ersten Frontberichten ist der Ton schneidend, kriegerisch, keine Widerrede duldend, vor allem, was die revolutionäre „Gerechtigkeit“ anbetrifft (in dt. Übers. sind diese Frontberichte abgedruckt als Anhang von Louis Mercier Vega: Reisende ohne Namen, Edition Nautilus, Hamburg 1997, S. 141-175; A.d.Ü.):
„Das Gemetzel an den Anarchosyndikalisten innerhalb der Stadt (Saragossa; A.d.Ü.) ist offenbar schrecklich gewesen.
Das erklärt, warum die Parole der FAI und der CNT ‚kein Pardon‘ lautet. Angesichts der faschistischen Grausamkeit ist keine Gefühlsduselei mehr möglich.“
„(In Lerida sind; A.d.Ü.) die Kirchen, wie in anderen katalanischen Städten, ausgeräuchert worden.“
„Die Säuberung der kontrollierten Gebiete verläuft normal.
Die faschistische Barbarei und Grausamkeit wird durch die revolutionäre Justiz beantwortet. Pfaffen und faschistische Offiziere zahlen dafür regelmäßig ihren Preis.“ (2)
„Allseits bekannte Faschisten, die nicht haben fliehen können, werden unerbittlich bestraft.“ (3)
„Im Dorf Pina (…). Die große Kirche ist schwarz vom Rauch des Feuers, das die gesamte Einrichtung und die Kultgegenstände zerstört hat. Heute ist keine Messe, der Priester ist auf der Flucht oder erschossen.“ (4)
Nach Angaben von Lucien Feuillade, einem damaligen engen Freund von Ridel, der manchmal Louis Anderson, dem Redaktionssekretär von Le Libertaire, dabei half, die Vorlagen für die Druckmaschine zu fertigen, zeigte sich Anderson schockiert über die Ungezwungenheit, mit der Ridel über diese Ereignisse berichtete. Anderson sagte: „Man erkennt hier gut den Geisteszustand der Genossen aus der Fédération communiste libertaire…“ Er wollte damit sagen, dass letztere dem „netschajewschen“ (5) Geist der Bolschewiki näher stünden als die Anarchisten der „synthesistischen“ (6) Richtung, die im Humanismus fußten.
Davon abgesehen, so bemerkt Feuillade heute, waren das die Worte einer Person, die nie jemanden getötet hat, die aber auch nicht (in den Milizen; A.d.Ü.) gekämpft hat und damit auch nicht das Risiko einging, mit solchen Situationen konfrontiert zu werden (im Gegensatz zu Simone Weil).
Simone Weil bei der Internationalen Gruppe der Kolonne Durruti
An dieser Stelle müssen wir detailliert auf den kurzen Aufenthalt von Simone Weil in der Internationalen Gruppe der Kolonne Durruti zurück kommen. Zu dieser „Mikro-Geschichte“ gibt es drei Berichte von Augenzeugen – die damals direkt während des Kampfgeschehens aufgeschriebenen Notizen von Simone Weil und Charles Ridel, sowie die mündlichen Aussagen von Charles Carpentier, die fünfzig Jahre später aufgezeichnet wurden.
Diese Materialien erlauben es, quasi Stunde für Stunde zu rekonstruieren.
Wenn wir die Notizen von Simone und Ridel vergleichen, sehen wir, wie kleine, aber aufschlussreiche Details (wie zum Beispiel über die Bauern, ob nun „verbündet“ oder nicht) verschieden dargestellt werden, je nach den unterschiedlichen Sensibilitäten des einen oder der anderen. Ridel zeigt sich eher empfänglich für jene Tatsachen, welche in Richtung der Sache tendieren, für die er kämpft. Er will nur das sehen, was in sein revolutionäres Schema passt. Simone Weil dagegen steht mit ganzem Herzen auf der Seite der Schwachen, der Unterdrückten:
„Seit meiner Kindheit galten meine Sympathien den Organisationen, die sich auf die verachteten Glieder der gesellschaftlichen Hierarchie beziehen, bis mir bewusst wurde, daß das Wesen dieser Organisationen Anlaß gibt, ihnen jede Sympathie zu entziehen. Zuletzt hatte mir die spanische CNT noch etwas Vertrauen eingeflößt. Ich war vor dem Bürgerkrieg durch Spanien gereist – ziemlich wenig eigentlich, aber doch genug, um für dieses Volk die Liebe zu empfinden, die man ihm einfach entgegenbringen muß; ich hatte in der anarchistischen Bewegung den natürlichsten Ausdruck seiner Stärken und seiner Schwächen, seiner legitimsten und illegitimsten Bestrebungen gesehen. CNT und FAI waren eine erstaunliche Mischung; sie standen jedermann offen und so trafen sich dort Sittenlosigkeit, Zynismus, Fanatismus und Grausamkeit, zugleich aber auch Liebe, der Geist der Brüderlichkeit und insbesondere die Forderung nach Ehre, die bei gedemütigten Menschen so schön ist. Die von einem Ideal Geleiteten schienen mir zahlreicher zu sein als diejenigen, die von der Gier nach Gewalt und Chaos getrieben waren.“ (7)
Simone Weil beteiligt sich an den Ereignissen zudem mit all ihren Zweifeln, ihrer genauen Beobachtungsgabe, ihrer Vorurteilslosigkeit und ihren ethischen Maßstäben. Sie wurde in dieser Hinsicht zurecht mit George Orwell verglichen. Wie er ist auch sie äußerst sensibel für die störenden Kleinigkeiten, die verstohlenen Dinge, die gleichwohl voller schwerwiegender Andeutungen sind.
Das Abenteuer am anderen Ufer des Ebro
Am Morgen des Montags, den 17. August 1936, versammelt Louis Berthomieux, der Delegierte der Internationalen Gruppe der Kolonne Durruti, seine Männer (und Frauen) in Pina del Ebro: Er schlägt vor, den Ebro zu überqueren, um die Kadaver der Franquisten zu verbrennen, welche die Luft verpesten. Bei der Gelegenheit könne man Feindaufklärung betreiben.
Die Nationalisten haben sich bis zum Bahnhof von Pina zurückgezogen, der auf dem anderen Ufer des Ebro liegt. Zwischen dem Bahnhof und dem Ebro erstreckt sich ein Niemandsland aus Feldern und Sümpfen, die von zwei toten Flussarmen durchschnitten werden. Nach einer viertelstündigen Diskussion steigen 15 Menschen in die einzig verfügbare Barke. Simone Weil will sich beteiligen, Berthomieux ist dagegen. Simone protestiert. Berthomieux ist verärgert über soviel Dickköpfigkeit und ruft aus: „Oh Gott, befrei uns von den Mäuschen!“
Die Diskussion droht auszuarten, schließlich lässt er sie als Beteiligte der kleinen Expedition zu.
In der Tat erscheint sie auf den ersten Blick ein wenig rührend und lächerlich, diese kurzsichtige und tollpatschige Intellektuelle, die um jeden Preis zusammen mit einigen Hartgesottenen in der ersten Reihe einer Guerillaoperation stehen will. Gleichwohl gibt sie in ihren Tagebuchnotizen ein Beispiel von selten anzutreffender Scharfsinnigkeit:
„Louis Berthomieux (Delegierter): ‚Wir überqueren den Fluß.‘ Es geht darum, drei feindliche Leichen zu verbrennen. Überquerung in einer Barke (nach viertelstündiger Diskussion…). Wir suchen. – Eine Leiche, blau gekleidet, zerfressen, fürchterlich. Wir verbrennen sie. Die andern suchen weiter. Wir ruhen uns aus. Rede von einem Handstreich. Lassen das Gros der Truppe über den Fluß zurück.
Dann Entscheidung (?), den Handstreich auf den nächsten Tag zu verschieben. Zum Fluß zurück, ohne groß auf Deckung zu achten. Wir sehen ein Haus. Pascual (vom Kriegskomitee): ‚Wir gehen Melonen suchen.‘ (Sehr ernsthaft!) Durch Gestrüpp. Hitze, etwas Beklemmung. Ich finde das Ganze idiotisch. Plötzlich begreife ich: wir sind im Einsatz (auf das Haus zu). Jetzt bin ich sehr aufgeregt (der Nutzen des Unternehmens ist mir unbekannt, und ich weiß, das wir füsiliert werden, wenn man uns schnappt). Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Der Delegierte, Ridel und drei Deutsche schieben sich auf dem Bauch bis an das Haus heran. Wir in den Gräben (nach dem Coup schreit uns der Delegierte an: wir hätten bis zu dem Haus vordringen sollen). Warten. Man hört sprechen… Entnervende Anspannung. Wir sehen die Kameraden zurückkommen, ohne sich zu decken; wir gehen auf sie zu, überqueren dann ruhig den Fluß. Das linkische Manöver hätte sie das Leben kosten können. Pascual ist der Verantwortliche (Carpentier, Giral bei uns).“ (8)
Basisdemokratie im Angesicht des Gefechts?
Es gibt dann eine Passage in den Notizen von Simone Weil, die äußerst aufschlussreich ist, sowohl was die Beziehungen innerhalb der Gruppe freiwilliger Kämpfer betrifft, als auch die Psychologie von Ridel (es ist der einzige Blick von außen, den wir in diesen Momenten über ihn besitzen, von Carpentier abgesehen, dessen Erinnerungen allgemein schroffer sind). Bevor wir uns dieser Passage zuwenden, sehen wir zunächst auf die Tagebuchaufzeichnungen von Ridel, die vom selben Tag stammen:
„Dienstag, 18. August. Der ganze Tag vergeht mit Vorbereitungen aller Art. Es müssen Transport, Ausrüstung und Verpflegung der internationalen Gruppe bedacht werden, d.h. von ungefähr 23 Mann (darunter eine Frau, Simone Weil, die sich uns gerade angeschlossen hat). Wir werden heute nacht mithilfe eines Kahns ans andere Ufer übersetzen“ (in dt. Übers.: Reisende ohne Namen, 1997, S. 152; A.d.Ü.).
Nach diesem trockenen, auf die Fakten konzentrierten Bericht betrachten wir die Notizen von Simone Weil:
„Ein Haufen Pläne in Bezug auf die andere Seite des Flusses. Gegen Mittag entscheidet man, um Mitternacht überzusetzen – wir, die ‚Gruppe‘ -, um dort einige Tage auszuhalten, bis die Kolonne Sastage eintrifft. (…) Freiwillige selbstverständlich. Am Vorabend hat uns Berthomieux zusammengerufen, nach unserer Meinung gefragt. Absolute Stille. Er insistiert: wir sollten sagen, was wir denken. Wieder Stille. Dann Ridel: ‚Na also, alle einverstanden.‘ Das ist alles.“ (in dt. Übers.: Mamas Pfirsiche, siehe Anm. 8, 1978, S. 93f., unvollständig; A.d.Ü.)
Niemand protestiert, aber es ist zu spüren, dass einige Angst haben oder sich über den Sinn dieser Operation nicht sicher sind. Aber sie sagen nichts, aus Angst, sich vor den anderen eine Blöße zu geben. Wir erraten ein Zögern, weil es sich hier nicht um ausgebildete Soldaten handelt, die es gewohnt sind, ohne Diskussion ihren Chefs zu folgen. Und mit ganzer Unschuldsmiene übernimmt Ridel die Verantwortung, für alle Anwesenden zu antworten, in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht. Und die anderen schließen sich notgedrungen seiner Meinung an, ein bisschen gezwungen durch den moralischen Gruppendruck. Simone Weil ist die einzige Frau, die anwesend ist, und sie nimmt das alles sehr gut wahr.
Revolutionäre oder reale Bauernfamilie?
In dieser Nacht überquert die Gruppe zwischen zwei und vier Uhr morgens erneut den Ebro. Berthomieux hat die Hütte eines Kohlenhändlers am anderen Ufer ausfindig gemacht. Er lässt alles Material dahin schleppen und teilt Simone Weil als Wachposten ein.
Als die Sonne aufgeht, dringt ein Teil der Gruppe bis zu dem Bauernhaus vor, das beim letzten Erkundungsgang ausgemacht wurde. Die Milizionäre entdecken dort eine Bauernfamilie, ängstlich und misstrauisch, sowie einen Jungen von siebzehn Jahren, Hofknecht und Mitglied der CNT. Der informiert die Männer, dass sie während ihres letzten Erkundungsgangs vom Feind beobachtet worden seien. Der kommandierende Leutnant habe seine Wachposten zurückgezogen, um die Gruppe an Land gehen zu lassen, und hege wohl die Hoffnung, ihr eine Falle zu stellen.
Mit dieser Information kommt die Patrouille zur Hütte zurück. Man nimmt Kontakt mit dem Kriegskomitee in Pina auf und bekommt von dort Anweisung, zum Bauernhaus zurückzukehren und dessen BewohnerInnen zu evakuieren.
Simone Weil erzählt die Fortsetzung so:
„Berthomieux, wütend (es ist gefährlich, noch einmal zu dem Haus zu gehen), versammelt die Expeditionsteilnehmer. Sagt zu mir: ‚Verschwinde in die Küche!‘ Ich wage nicht zu protestieren. Dazu kommt, dass mir diese Expedition nicht recht zusagt… Angstvoll sehe ich zu, wie sie abmarschieren… (im Grunde bin ich fast genauso gefährdet wie sie). Wir nehmen unsere Gewehre. Wir warten. Kurz darauf schlägt der Deutsche vor, zum kleinen Schützengraben zu gehen, der unter dem Baum verlaufe, den Ridel und Carpentier besetzt hielten (die aber sind bei der Expedition). Wir verstecken uns dort, im Schatten, mit den Gewehren (unbewaffnet). Wir warten. Von Zeit zu Zeit läßt der Deutsche einen Seufzer entfahren. Er hat offensichtlich Angst. Ich nicht. Aber wie alles um mich herum doch so intensiv existiert! Ein Krieg ohne Gefangene. Wenn wir geschnappt werden, werden wir erschossen. Die Kameraden kommen zurück.
Ein Bauer, sein Sohn und der Junge… Fontana hebt die Faust, während er die Jungen ansieht. Der Sohn antwortet offensichtlich widerwillig. Grausame Spannung… Der Bauer kehrt noch einmal um, seine Familie zu holen. Wir zurück auf unsere Posten. Luftaufklärung. Sich hinwerfen. Louis brüllt über die Unvorsichtigkeit. Ich lege mich auf den Rücken, ich betrachte die Blätter, den blauen Himmel. Sehr schöner Tag. Wenn sie mich erwischen, werden sie mich töten… Aber das ist verdient. Die Unsrigen haben genug Blut vergossen. Moralisch gesehen bin ich Komplizin.
Vollständige Ruhe. Wir sammeln uns – es fängt wieder an. Ich werfe mich auf den Boden. In der Hütte. Bombardierung. Ich gehe raus zum Maschinengewehr. Louis sagt: ‚Keine Angst (!)‘ Sagt, ich soll in die Küche gehen, mit dem Deutschen, die Gewehre über der Schulter. Warten. Endlich kommt die Familie des Bauern (drei Mädchen, ein Junge von acht), alle verängstigt (ziemliche Bombardierung). Fürchten sich auch vor uns, erst langsam etwas zutraulicher. Machen sich Sorgen um das Vieh, das sie auf dem Hof zurückgelassen haben (später wird man es ihnen nach Pina nachbringen). Ganz offensichtlich nicht mit uns sympathisierend“ (in dt. Übers.: Mamas Pfirsiche, siehe Anm. 8, 1978, S. 94, unvollständig; A.d.Ü.).
In Le Libertaire erzählt Ridel von dieser Evakuierung der BewohnerInnen des Bauernhofs Durio und spricht dabei von „Sympathisanten unserer Sache“, vermischt dabei aber den Hofknecht, der tatsächlich Mitglied der CNT ist, und die Familie, die ihn angestellt hat. Für die LeserInnen des Libertaire ist es besser, wenn alle Bauern eindeutig auf Seiten der sozialen Revolution stehen.
Eine Geschichte, die betroffen macht
Nachdem die Bauernfamilie über den Fluss gebracht worden ist und Wachen eingeteilt worden sind, zieht sich das Gros der Gruppe ans Ufer des Ebro zurück, um ihre erste Nacht auf feindlichem Gebiet zu verbringen.
Seit dem Morgengrauen des Donnerstag, 20. August 1936, befinden sich Berthomieux und Ridel zusammen mit ein paar Mann auf Patrouille entlang des Flusses in Richtung Quinto.
Der Rest der Internationalen Gruppe, darunter Carpentier, betätigt sich bei der Instandsetzung des Camps. Simone Weil wird zur Köchin ernannt und hilft dem deutschen Koch. Hier passiert nun der Unfall, der Simone Weil kampfunfähig macht. Simone übersieht einen großen Topf (voll heißen Öls; A.d.Ü.), der auf dem Erdboden über der Feuerstelle steht, und verbrennt sich auf schmerzhafte Weise den Fuß und ihr linkes Bein. Carpentier bittet Martinez darum, Simone Weil zum Lazarett nach Pina zu bringen.
Währenddessen erlebt die von Berthomieux und Ridel geführte Patrouille eine unerwartete Begegnung in der Nähe des Dorfes Quinto. Ridel erzählt:
„Wir stoßen auf einen Bauern. Der Delegierte (Berthomieux; A.d.Ü.) läßt sich einige Informationen geben. Aber was sollen wir mit diesem Mann tun, der unsere Anwesenheit verraten und damit unseren Plan vereiteln könnte? Wir beschließen, ihn mitzunehmen, mit dem Versprechen, ihn gut zu behandeln. Er scheint davon nicht viel zu halten und kommt nur mit uns, weil unsere Gewehre gewichtige Argumente sind.“ (in dt. Übers.: Reisende ohne Namen, 1997, S. 154; A.d.Ü.)
„Samstag, 22. August. Beim Aufstehen erfahren wir, daß der nach Pina überstellte Bauer von Freiwilligen aus Quinto erkannt worden ist. Es war ein aktiver Faschist, ein bekannter Ausbeuter, verantwortlich für den Mord an einem linken Aktivisten während der letzten Wahlen. Er ist heute Nacht in Bujaraloz erschossen worden.“
Am späten Nachmittag desselben Tages versuchen rund dreißig Falangisten, die Internationale Gruppe vom linken Ufer des Ebro zu vertreiben. Die Gruppe schlägt den Angriff der Falangisten zurück.
„Wir finden zwei von ihren Toten auf dem Gelände und bringen einen jungen Gefangenen ein. (…) Der Gefangene – ein 16jähriger – trägt ein Heft bei sich, worin ihm bescheinigt wird, ein guter Katholik zu sein.“ (in dt. Übers.: Reisende ohne Namen, 1997, S. 156; A.d.Ü.)
So schreibt Ridel im Libertaire. Die Fortsetzung hören wir, erzählt ein halbes Jahrhundert später, von Carpentier:
„Den Gefangenen haben wir mit der Barke auf die andere Seite des Ebro gebracht. Nachdem der Junge den Spaniern übergeben worden war, endete sein Leben damit, erschossen zu werden. Ja klar, wir alle waren betroffen von dieser Geschichte…“
Aber Ridel erwähnt in seinem Bericht nicht, was dem jungen Gefangenen widerfahren war, während er ohne Gefühlsduselei die Exekution des Bauern erwähnt, den er und seine Kameraden zwangen, ihnen zu folgen, und der als „Faschist“ und Mörder erkannt worden war.
Zur Entlastung von Ridel müssen wir anmerken, dass die letzten Zeilen der Auszüge aus seinem Notizheft, die im Libertaire vom 18. September 1936 publiziert wurden, auf Sonntag, den 23. August datiert sind, also 24 Stunden nach Gefangennahme des jungen Falangisten. Zu der Zeit wussten die Mitglieder der Internationalen Gruppe wahrscheinlich nichts vom Schicksal, das für den jungen Falangisten reserviert war. Und Ridel nimmt seine Berichte im Libertaire erst wieder drei Wochen nach der fehlgeschlagenen Operation Brückenkopf bei Pina del Ebro auf.
(Fortsetzung in der nächsten GWR)
(1) Vierteljahreszeitschrift, die in Zürich von Jean-Paul Samson herausgegeben wurden (Albert Camus und André Prudhommeaux waren Teil des HerausgeberInnenkreises).
(2) Artikel, datiert vom 2. August 1936 in Bujaraloz, erschienen in Le Libertaire, 7. August 1936.
(3) Le Libertaire, 21. August 1936.
(4) Artikel, datiert vom 16. August 1936 in Pina, erschienen in Le Libertaire, 11. September 1936.
(5) Sergej Netschajew, russischer Revolutionär autoritärer Tendenz, zerstritt sich mit Bakunin über die Frage des Grades revolutionärer Gewaltanwendung, vgl. Michael Bakunin: "Gewalt für den Körper. Verrat für die Seele?", Karin Kramer Verlag, Berlin 1980; A.d.Ü.
(6) Die "synthesistische" Strömung im französischen Anarchismus der dreißiger Jahre, aber auch im französischen Anarchismus nach dem Zweiten Weltkrieg wollte, wie der Name anzeigt, eine pluralistische "Synthese" aus den verschiedenen Strömungen im Anarchismus verwirklichen. Aus ihr ging die heutige Fédération Anarchiste hervor. Die Richtung des kommunistischen Anarchismus im französischen Anarchismus kritisierte dagegen diese Strömung als "individualistisch", eine Etikettierung, auf die sich die SynthesistInnen jedoch nicht reduzieren lassen wollten; A.d.Ü.
(7) Simone Weil: Brief an Georges Bernanos, 1938.
(8) Aufzeichnungen nach Simone Weil: Ecrits historiques et politiques (in dt. Übers.: Simone Weil: Spanisches Tagebuch, in: Mamas Pfirsiche - Frauen und Literatur, Nr. 9/10, Herbst 1978, Verlag Frauenpolitik, Münster, S. 93; A.d.Ü.).
Anmerkungen
Phil Casoar: Louis Mercier, Simone Weil: Retour sur une controverse, in: David Berry, Amedeo Bertolo, Sylvain Boulouque, Phil Casoar, Marianne Enckell, Charles Jacquier: Présence de Louis Mercier, Atelier de création libertaire, Lyon 1999, S. 21-36; Übersetzung, redaktionelle Vorbemerkung und Zwischenüberschriften: Lou Marin