Acht Jahre nach dem Nato-Bombardement Jugoslawiens im Frühjahr 1999 steht das Kosovo vor einer neuen Krise. Die Konflikte sind dabei die alten. Die albanische Bevölkerungsmehrheit drängt mit Unterstützung der USA auf eine schnelle Unabhängigkeit. Serbien und Russland wollen dies verhindern. Verstärkt wird der Konflikt in der Zwischenzeit aber auch durch das Versagen der UN-Übergangsverwaltung UNMIK. Statt eine positive wirtschaftliche Entwicklung, Demokratisierung und den Schutz der Menschenrechte durchzusetzen, hat sie in den vergangenen Jahren ein Kontrollregime errichtet, das von immer mehr BewohnerInnen des Kosovos als autoritär, korrupt und kolonialistisch wahrgenommen wird. Die Politik der UN hat dabei die ethnische Separation in vielerlei Hinsicht weiter verstärkt.
Lange Zeit war der Konflikt auf dem Balkan vergessen, aber jetzt taucht Kosovo wieder in den Schlagzeilen auf. In den nächsten Wochen und Monaten wollen die USA und ihre europäischen Verbündeten eine „Lösung“ für die Zukunft Kosovos durchsetzen. Die umstrittene „Statusfrage“ der Provinz soll dabei „endgültig geklärt“ werden, heißt es in zahlreichen Verlautbarungen westlicher AußenpolitikerInnen.
Trotz des Einmarschs der Nato und der Errichtung eines UN-Protektorats blieb Kosovo nach dem Krieg im Frühjahr 1999 völkerrechtlich weiterhin Bestandteil von Serbien. Nur unter dieser Bedingung konnte damals ein größerer Konflikt der Nato mit Russland verhindert werden. Und nur unter dieser Konzession war das Regime Slobodan Milosevics zur Unterzeichung eines Waffenstillstandes bereit. Nach einer über drei Monate währenden Bombenkampagne, der zunehmend ZivilistInnen zum Opfer fielen, sah sich die Nato im Juni 1999 unter wachsendem Druck, den Krieg zu beenden.
Während es heute Serbien ist, das die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 vom Juni 1999 verteidigt, hat sich der Westen zu einem neuen Anlauf bei der Durchsetzung der Unabhängigkeit entschlossen. Der Tausende internationale MitarbeiterInnen zählende Apparat der UN-Übergangsverwaltung im Kosovo sieht sich gezwungen, mit der albanischen Bevölkerungsmehrheit entscheidende Schritte in Richtung einer vollständigen Unabhängigkeit zu gehen. Der Wendepunkt war dabei der 17. und 18. März 2004. Ein großflächiger Aufstand von nach UN-Schätzungen über 50.000 albanischen Jugendlichen und UCK-Veteranen versetzte die UN-Verwaltung damals in einen nachhaltigen Schockzustand.
Die erschreckende Gewalttätigkeit der RandaliererInnen richtete sich nicht nur gegen die im Kosovo verbliebene serbische Minderheit, orthodoxe Kirchen und Roma, sondern an vielen Orten gezielt auch gegen die UNMIK. Das zeigt sich auch in der Opferbilanz. Bei dem Pogrom wurden acht Serben getötet und über 4.000 SerbInnen und Roma aus ihren Häusern vertrieben.
Den Unruhen fielen aber auch elf Albaner zum Opfer. Die Mehrzahl wurde dabei von Nato-Soldaten und UNMIK-Polizisten erschossen.
Der März 2004 war ein Warnsignal für die mögliche eskalierende Konfrontation zwischen Teilen der albanischen Bevölkerung und den internationalen Institutionen, die immer mehr als Besatzer wahrgenommen werden. Ein Szenario, das der Westen unter allen Umständen vermeiden will, würde es doch nach den gescheiterten Missionen im Irak und Afghanistan auch den dritten großen internationalen Militäreinsatz der vergangenen Jahre in Frage stellen.
Gescheiterte UN-Verwaltung
Kaum war im März 2004 der Aufstand niedergeschlagen, riss die UN-Verwaltung das Ruder um. Im Juni 2004 beauftragte UN-Generalsekretär Kofi Annan den norwegischen Spitzendiplomaten Kai Eide mit einer umfassenden Untersuchung der Situation im Kosovo und der Erarbeitung von Vorschlägen für die Zukunft. In seinem im Herbst 2005 vorgelegtem Bericht kam Eide zu frustrierenden Ergebnissen. Die soziale Lage wurde als außerordentlich schlecht beschrieben.
Kosovo ist nicht nur eine der ärmsten Regionen Europas, sie weist auch die jüngste Bevölkerungsstruktur und die höchste Arbeitslosenquote des Kontinentes auf. Ein sozialer Sprengsatz. Das „organisierte Verbrechen“ bezeichnete Eide als eine „ernste Gefahr“. Korruption durchziehe das Institutionengefüge. Das von der UNMIK aufgebaute Justizsystem sei ineffektiv und befördere ein „Klima der Straflosigkeit“. Insbesondere die nicht-albanischen ethnischen Minderheiten seien von Gewalt und allen negativen Entwicklungen am schärfsten betroffen. Von den über 200.000 SerbInnen und Roma, die im Sommer 1999 nach dem Einmarsch der Nato aus dem Kosovo vertrieben worden waren, sei nur eine kleine Anzahl zurückgekehrt.
Eides Einschätzungen waren dabei nicht neu. Sie bestätigten nur, was unabhängige BeobachterInnen und Menschenrechtsorganisationen seit 1999 immer wieder nachdrücklich festgestellt hatten. Neu indes waren Eides Empfehlungen: Um aus der blockierten Situation auszubrechen, schlug er die Einleitung von Gesprächen über eine Lösung der „Statusfrage“ vor. Nur durch die verbindliche Regelung des völkerrechtlichen Status des Kosovos könne eine positive Entwicklung eingeleitet werden, lautete das Argument. Damit wurde die bisherige Strategie der UNMIK auf den Kopf gestellt. Hatte es bis zu den Unruhen des März 2004 geheißen, zuerst müssten bestimmte „Standards“ beim „Aufbau eines funktionierenden Staatswesens“ erfüllt werden, erst dann könne über den „Status“ verhandelt werden, lautete die Maxime nun: Nur durch den „Status“ könnten auch die „Standards“ erfüllt werden. KritikerInnen sahen in dieser Wende eine Kapitulation der UNMIK vor den Gewaltdrohungen albanischer ExtremistInnen.
16 Monate nach Eides Empfehlungen steckt Kosovo nun in der größten Krise seit 1999. Die UN-Funktionäre und die sie unterstützenden PolitikerInnen aus den USA und der EU waren im Herbst 2005 von einer folgenschweren Fehlannahme ausgegangen. Bei der Einleitung des Verhandlungsprozesses über die Statusfrage im Februar 2006 zeigte sich der von der UN zum Vermittler bestellte ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari überzeugt, er könne Serbien davon überzeugen, auf den Kosovo zu verzichten. Mittlerweile ist klar, dass dies nicht gelingen wird. Die serbische Regierung um Premierminister Vojislav Kostunica und den Präsidenten Boris Tadic hat nachdrücklich klar gemacht, dass Serbien unter keinen Umständen einer Abspaltung Kosovos zustimmen wird.
Unterstützt wird die serbische Position dabei mit wachsender Entschiedenheit von Russland. Damit scheint es keine verhandelbare Kompromisslösung zu geben. Und damit wird es auch immer unwahrscheinlicher, dass sich der UN-Sicherheitsrat auf eine Lösung einigen kann. Hier müsste aber eine international rechtsverbindliche Entscheidung getroffen werden. Vladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow haben angekündigt, jede Lösung zu blockieren, die nicht auch die Zustimmung Belgrads findet. Die Kosovo-Frage ist dabei, erneut zu einem Konflikt zu werden, über den das Machtverhältnis zwischen Russland und dem Westen neu bestimmt wird.
Wie Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007 deutlich gemacht hat, will Russland die unilateral betriebene Hegemonialpolitik des Westens nicht mehr ohne Widerstand hinnehmen. Die Frage der Unabhängigkeit Kosovos kann dabei ein wichtiger symbolischer Konflikt werden. Erstens war Russland 1999 gegen das damals ohne Unterstützung des UN-Sicherheitsrats geführte Bombardement der Nato. Zweitens kann Russland durch die Unterstützung Serbiens Einfluss auf den Verlauf und das Tempo der weiteren EU- und Nato-Osterweiterung nehmen. Und drittens wäre die vom Westen geforderte Anerkennung Kosovos als ein unabhängiger Staat ein Präzedenzfall in den internationalen Beziehungen, der Russland schaden könnte. Bisher wurden Sezessionsgebiete immer nur anerkannt, wenn es sich um föderale Einheiten eines Staatenbundes handelte oder wenn die Sezession in beiderseitigem Einverständnis erfolgte. Beides ist im Kosovo nicht der Fall. Die unilaterale Anerkennung Kosovos würde zentrale internationale Rechtsprinzipien brechen, welche die „Souveränität“ von Nationalstaaten und die Unantastbarkeit von Grenzen vorschreiben.
Autoritäres Kontrollregime und institutionalisierte Ethnifizierung
Noch ist unklar, ob sich Russland und der Westen in einem diplomatischen Deal nicht doch noch auf eine Lösung einigen und damit die Gefahr erneut eskalierender Gewalt im Kosovo verringern können. Aber selbst für diesen günstigen Fall sieht die Zukunft Kosovos düster aus. Dies zeigt der Plan, den Martti Ahtisaari im Februar 2007 nach einem Jahr vergeblicher Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien als seinen Vorschlag vorgelegt hat. (1) Statt einen Weg aus der sozialen Misere und der Ethnifizierung zu weisen, welche die Gesellschaft im Kosovo durchzieht, soll ein Mechanismus des autoritären Krisenmanagements installiert werden, der die Probleme voraussichtlich langfristig weiter vertiefen wird.
Ahtisaaris Plan enthält dabei drei Hauptelemente.
Erstens soll Kosovo symbolisch zwar alle Elemente eines souveränen Staates erhalten. Dazu zählt neben einer neuen Verfassung, dem Recht, internationale Verträge zu schließen, einer Nationalfahne und Hymne vor allem eine eigenständige Armee unter dem Namen Kosovo Security Force (KSF). Als zweites Element sieht der Plan allerdings eine weitere Überwachung Kosovos durch die Europäische Union (EU), den UN-Sicherheitsrat und die Nato vor. Einem International Civilian Representative (ICR) werden dabei diktatorisch anmutende Vollmachten eingeräumt, welche die formale Souveränität der Selbstverwaltungsorgane entscheidend einschränken.
Der ICR soll die „letzte Autorität“ bei der Überwachung der Arbeit von Parlament und lokalen Selbstverwaltungen haben.
Im Notfall wird der ICR das Recht haben, jeden gewählten öffentlichen Funktionsträger der Selbstverwaltungsorgane abzusetzen (Annex IX, Art. 2.1.d). Der ICR wird dabei vom UN-Sicherheitsrat ernannt. Die Funktion wird aber in Personaleinheit mit einem European Union Special Representative (EUSR) ausgeübt werden, der vom Ministerrat der EU bestimmt wird (General Principles, Art. 11.1). Im Klartext wird Kosovo also in Zukunft durch den UN-Sicherheitsrat und die EU regiert werden. Flankiert wird die neue zivile Oberaufsicht von der militärischen Absicherung durch die Nato, welche in Form einer International Military Presence (IMP) weiter im Kosovo stationiert bleiben wird (General Principles, Art.13).
Das dritte Element des Ahtisaari-Vorschlags ist unter dem Stichwort der „Dezentralisierung“ (Annex III) eine Gemeindereform, die die bestehende ethnische Segregation im Kosovo langfristig zu institutionalisieren droht. Ist die angestrebte Abspaltung des Kosovos aus Serbien bereits als Durchsetzung eines ethnonationalen Ordnungsmodells zu betrachten, wird dieses auch in den Strukturen des neu zu schaffenden Staates weiter fortgesetzt.
In serbischen Mehrheitsgemeinden sollen die Gemeindeverwaltungen dabei unter anderem das Recht haben, die lokalen Polizeikommandeure zu bestimmen (Annex VIII, Art. 2.6). Schulen in den serbischen Gemeinden sollen Textbücher benutzen dürfen, die vom serbischen Bildungsministerium herausgegeben werden (Annex III, Art. 7.1). Eine horizontale Vernetzung der serbischen Gemeinden im Kosovo ist möglich (Annex III, Art. 9.1). Auch eine Finanzierung der serbischen Gemeinden aus Belgrad wird möglich sein (Annex III, Art. 11). Ein kompliziertes Wahlsystem soll durch die Reservierung einer bestimmten Anzahl von Sitzen die Repräsentation von VertreterInnen der ethnischen „Communities“ sicherstellen – unabhängig davon, wie viel Stimmen diese bekommen (Annex I, Art. 3).
Bei der Analyse des Ahtisaari-Plans drängen sich Vergleiche zum Protektorat in Bosnien-Herzegowina auf. Auch dort herrscht seit Kriegsende 1995 ein „Hoher Repräsentant“ über die von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten und hat das Recht, missliebige PolitikerInnen abzusetzen. Und auch in Bosnien-Herzegowina wird die institutionelle Ordnung durch ethnische Verteilungsschlüssel in Machtpositionen und ethnisch bestimmte Territorialabgrenzungen bestimmt. So existiert in der Hauptstadt Sarajevo ein dreiköpfiges Staatspräsidium, das sich aus jeweils einem Vertreter der drei ethnisch-religiösen Gruppen zusammensetzt. Jeder genießt dabei ein Vetorecht, das politische Mehrheitsentscheidungen verunmöglicht und korrupten interethnischen Kuhhandel befördert.
In über zehn Jahren hat dieses System in Bosnien-Herzegowina für eine Verfestigung ethnisch-territorialer Abgrenzungen und eine Blockade politischer Entscheidungsprozesse gesorgt. Ausdruck der Stagnation ist die wachsende Unzufriedenheit mit dem Institutionengefüge und der Rolle des „Hohen Repräsentanten“, welche von der lokalen Bevölkerung genauso geteilt wird wie von den internationalen Organen, die es geschaffen haben. Kaum beachtet von der Medienöffentlichkeit wird derzeit der amtierende „Hohe Repräsentant“, Christian Schwarz-Schilling, ausgewechselt. Der frühere CDU-Politiker musste bereits nach einem Jahr im Amt sein Scheitern konstatieren.
Menschenrechte
Am wenigsten ist in der Diskussion über die Zukunft Kosovos heute vom Schutz der Menschenrechte die Rede. Dabei wurde mit diesem 1999 der Krieg der Nato propagandistisch begründet.
Auch auf diesem Feld muss ein weit gehendes Versagen der internationalen Mission konstatiert werden. Die Nato konnte im Frühjahr 1999 zwar den Terror serbischer Paramilitärs und Armeeeinheiten gegen die albanische Bevölkerung stoppen, sie zeigte sich aber außerstande, der folgenden Vertreibung von serbischen ZivilistInnen und Roma durch albanische NationalistInnen im Sommer 1999 Einhalt zu gebieten.
Damit wurden die interethnischen Beziehungen weiter vergiftet.
Dieses Unvermögen wurde durch das erneute Versagen der Nato bei den Unruhen im März 2004 noch verstärkt. Die noch etwa 100.000 Angehörigen von nicht-albanischen Minderheitengruppen im Kosovo haben kaum Vertrauen in die internationalen Truppen.
Sie leben in ethnisch segregierten Wohnvierteln und Dörfern. Zu ihrer Situation erklärte die renommierte Minority Rights Group (IMG) aus London kürzlich: „Nirgendwo in Europa gibt es ein solches Niveau der Angst für so viele Minderheiten, verfolgt oder attackiert zu werden.“
Zu den Menschenrechtsverletzungen tragen dabei nicht nur die gespannten interethnischen Beziehungen bei, sondern ganz direkt auch das Handeln der UNMIK und anderer internationaler Regierungsinstitutionen.
So werden aus den Ländern der Europäischen Union – in erster Linie aus Deutschland – Menschen nach Kosovo abgeschoben, denen es dort an elementaren Überlebensbedingungen mangelt.
Gleichzeitig ist das von UNMIK aufgebaute Justizsystem bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen und der Verfolgung von Kriegsverbrechern weitgehend gescheitert. So wurde bisher beispielsweise kein einziger der verantwortlichen Drahtzieher für die ethnische Säuberungen gegen die Minderheiten im Anschluss an die Nato-Intervention zur gerichtlichen Rechenschaft gezogen.
Es ist aber nicht nur das Nichtverhalten und die Ignoranz der UNMIK, welche Menschenrechtsverletzungen Vorschub geben. Die internationale Polizei geht mittlerweile auch selbst mit brachialer Gewalt gegen die Bevölkerung vor, um die fragile Ordnung wenigstens scheinbar zu sichern. Bei einer Demonstration in Pristina am 9. Februar 2007 wurden zwei unbewaffnete Jugendliche getötet und zahlreiche andere Jugendliche teilweise schwer verletzt. Sie waren dem Aufruf der albanischen Protestbewegung „Vetevendosje“ (Selbstbestimmung) gefolgt, die das UNMIK-Regime als „kolonialistisch“ verurteilt. (2)