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3. Anarchietage in Winterthur

31. Januar bis 11. Februar 2007. Ein Rückblick

| Sebi

Anfang Februar 2007 fanden in Winterthur im Nordosten der Schweiz die alljährlichen Anarchietage statt. Die bereits zum dritten Mal durchgeführte Veranstaltungsreihe stieß wie schon die beiden Vorgängerinnen auf breites Interesse. Ein für eine knapp 100.000 EinwohnerInnen zählende Stadt beachtlicher Schnitt von ungefähr 45 Besucherinnen und Besuchern pro Veranstaltung übertraf die Erwartungen der Organisatorinnen und Organisatoren.

Diese sind ihrerseits in der „Libertären Aktion Winterthur“ (LAW) aktiv. Die sich selbst als anarchistisches Netzwerk bezeichnende Gruppe ist mit drei Jahren selber noch ziemlich jung, was aber in einer Region, in der beinahe jede anarchistische Tradition fehlt, nicht weiter erstaunlich ist. Gegründet von Aktivistinnen und Aktivisten vornehmlich aus der Bewegung gegen den Irak-Krieg (1), konnte das Netzwerk einen stetigen Zuwachs verzeichnen. Innerhalb der LAW sind momentan rund 20 Menschen aktiv, der überwiegende Teil weniger als 25 Jahre alt und mit der Lehre oder dem Studium beschäftigt.

Theoriebildung als Ziel

Die Anarchietage waren schon seit seiner Gründung ein konstitutiver Bestandteil des Netzwerkes. Einerseits ist das öffentliche Auftreten mit Veranstaltungen libertären Inhaltes entscheidender Teil der Praxis, die von der LAW als Möglichkeit sowohl der Wissensvermittlung als auch des Austausches gesehen werden.

Anderseits dienen die Anarchietage der theoretischen Grundlagenbildung innerhalb des Netzwerkes. In der Deutschschweiz existiert wenn überhaupt nur eine sehr verschüttete libertäre Tradition. Obwohl bereits im späten 19. Jahrhundert erste Spuren anarchistischer Gruppierungen zu finden sind – oftmals durch italienische Emigrantinnen und Emigranten gebildet (2) -, waren diese stets kurzlebig, geografisch meist sehr begrenzt und in der Öffentlichkeit kaum präsent. (3)

In Winterthur selbst kam es in der ersten Hälfte der 1980er Jahre im Zuge der schweizweiten Jugendbewegung letztmals zu einem größeren Aufflackern linksradikalen, aber nicht unbedingt anarchistischen Protestes. Dieser sorgte jedoch viel eher durch seine Praxis (Abfackeln von Autos und Industrieanlagen, ein Bombenanschlag auf das Fensterbrett eines damals amtierenden Bundesrates) und durch die darauf folgende massive Repression gegen ihn (4) als durch seine Theoriebildung für Aufsehen.

Danach blieb es in der Stadt lange Zeit ruhig, die durch die damals im Niedergang befindliche Industrie, welche einem grossen Teil der Winterthurer Bevölkerung Arbeit gegeben hatte, geprägt war und es in Form einer brachliegenden Fabrikwüste noch heute ist. Der sich abzeichnende dritte Golfkrieg war es dann, der die angestaute politische Energie Jüngerer wie Älterer kurzzeitig bündeln konnte. Die aus den Protesten übrig gebliebenen Personen wussten anfangs durch einen übersprudelnden Aktivismus Politik und Bevölkerung von Winterthur zu beeindrucken (nationales Aufsehen erregte die dreitägige Besetzung eines leer stehenden, knapp 100 Meter hohen und als städtisches Wahrzeichen symbolisch aufgeladenen Hochhauses Anfang 2004), gingen aber bald wegen politischer Differenzen verschiedene Wege.

Als unmittelbare Reaktion darauf wurde vom „antiautoritären Flügel“ die LAW gegründet, die seither bemüht ist, theoretisch an Terrain zu gewinnen. Obwohl die Theoriebildung auf Grund der geschilderten historischen Umstände ein wichtiger Bestandteil ist, organisieren sich im Netzwerk Menschen mit ganz verschiedenen anarchistischen oder allgemein antiautoritären Ansichten. Dies führt unter anderem dazu, dass die LAW als Ganze kaum mit Statements in Erscheinung tritt, die innerhalb der anarchistischen Bewegung strittige Punkte berühren.

Viele Veranstaltungen, wenige Referentinnen

Doch zurück zu den Anarchietagen, welche wohl der offensichtlichste Ausdruck dieser theoretischen Vielfalt sind. Im Vorwort des Readers für die vergangenen Anarchietage heißt es, dass „durch die Veranstaltungen eine möglichst grosse Facette an freiheitlichem Gedankengut und freiheitlicher Praxis abgedeckt werden“ (5) soll. Ein Blick auf das Programm scheint diesen Eindruck zu bestätigen: Veranstaltungen zu historischen (Kirchenverfolgung während der Spanischen Revolution, Verfolgung der Roma und Sinti während des Nationalsozialismus), regionalen (Libertäre Bewegung im Tessin und im Elsass), technischen (Open-Source-Bewegung), „schrägen“ (ein Queer-Trash-Märchen), theoretischen (Kritik an Demokratie und Volk, die Evolution der Kooperation) und praktischen (ArbeiterInnenkontrolle in Venezuela, libertäre Medien, destruktive und konstruktive Kritik am Anarchismus) Themen konnten ein durchaus ausgewogenes Bild des Anarchismus vermitteln.

Zwei Sachen fallen jedoch auf: erstens die fast vollständige Absenz von Referentinnen, zweitens die geballte Ladung an Veranstaltungen (ein Dutzend insgesamt), die es für nicht in der Region wohnhafte Personen schwierig machte, alle Tage nach Winterthur zu kommen. Von einem Journalisten auf den ersten Punkt angesprochen, verwiesen zwei Aktivisten der LAW auf die fehlenden Kontakte und die mangelnde öffentliche Präsenz von Frauen (z.B. als Autorinnen) in der deutschsprachigen anarchistischen Bewegung. Jedoch sei im letzten Jahr ein Abend zu Anarchafeminismus organisiert worden, an dem unter anderem diese Frage thematisiert worden sei. Bei der Planung für die nächsten Anarchietage 2008 sollen dennoch gezielt Frauen für Referate angefragt werden. Zum Sinn einer großen Anzahl von Veranstaltung befragt, meinten die beiden Personen, dass in den nächsten Jahren darauf geschaut werde, mehr unentgeltliche Übernachtungsmöglichkeiten in Winterthur anzubieten. Ob es in Zukunft auch eine abgespeckte Version der Anarchietage geben könnte, wollten sie aber offen lassen.

„Klassenfeinde“, „Müslifresser“ und „Konterrevolutionäre“, aber auch Lob

Das breite Angebot zog folgerichtig und von der LAW durchaus erhofft BesucherInnen unterschiedlicher sozialer und politischer Herkunft an. Dogmatische Marxistinnen und antitechnologische Anarchisten, Hochschuldozenten und junge Fabrikarbeiterinnen fanden Abend für Abend den Weg in den gemieteten Veranstaltungsraum in der Altstadt von Winterthur. Dies führte zu angeregten Diskussionen, mitunter aber auch zu ernsthaften Auseinandersetzungen, die jedoch glücklicherweise immer „nur“ verbal ausgetragen wurden. Wirklich interessant und konstruktiv wurden die Diskussionen dann, wenn praktische Fragen thematisiert wurden.

So fand im Anschluss an die Veranstaltung „Ist der Anarchismus noch zu retten?“, die von mehr als 80 Personen besucht wurde, eine Diskussion über die Frage nach Aktivismus und Kindern statt. Dies war einer der wenigen und doch so wichtigen Momente, wo ein Austausch über alle Altersgrenzen hinaus möglich war.

Geduld musste von den BesucherInnen dann geübt werden, wenn die sehnlichst erwarteten Referenten aus Deutschland vor Stuttgart im Stau standen, Milde dann, wenn der Aktivist aus dem Elsass seinen Vortrag nicht halten konnte, weil sein Auto noch in Frankreich den Geist aufgab und ein schnell zusammengebasteltes Manuskript über Demonstrationen in Frankreich als Ersatz verlesen werden musste.

Insgesamt waren aber sowohl die VeranstalterInnen wie auch die angesprochenen BesucherInnen zufrieden mit dem Gebotenen.

So haben nach Aussagen eines Aktivisten bisher noch nicht in der anarchistischen Bewegung aktive Leute Interesse gezeigt, bei einem der allwöchentlich stattfindenden Treffen der LAW vorbeizuschauen.

Wenig Interesse der Medien

Ein Wermutstropfen bleibt jedoch für die LAW. Anders als in den letzten Jahren sei das Interesse der Medien sehr begrenzt gewesen, meint eine Aktivistin. Während vor zwei Jahren das Beinahe-Monopol-Radio der Ostschweiz noch fünf Minuten nach Erhalt des Communiqués zu den Anarchietagen einen ausführlichen Beitrag – mit rot-schwarzem Stern versehen – auf seiner Website veröffentlicht habe, sei die ablehnende Haltung der Mainstream-Medien diesmal deutlich spürbar gewesen.

Dasselbe Radio habe dieses Jahr nicht einmal den Anstand besessen, vereinbarte Interviewtermine einzuhalten, und eine der einflussreichsten Tageszeitungen der Deutschschweiz habe zwar einen Artikel über die Anarchietage veröffentlicht, jedoch durchs Band mit dem Klischee des „gewalttätigen Anarchisten“ gespielt und sogar den Namen des Interviewpartners jeweils mit einem schwarzen Balken versehen, weil das nach Meinung des Journalisten attraktiver aussehen würde.

Linke Radiostationen und Zeitungen, unter anderem die GWR, hätten aber diese Negativbeispiele mit ausführlichen Berichten mehr als wett gemacht. Nicht zuletzt dank dieses Umstands hofft die Aktivistin, dass sich das nächste Jahr noch mehr Menschen von den Anarchietagen angesprochen fühlen werden. Diese finden voraussichtlich im Februar 2008 statt.

(1) Die Bewegung gegen den Irak-Krieg im Frühling 2003 konnte ein paar Wochen lang viele Leute aus dem linken und sogar bürgerlichen Spektrum mobilisieren. Es kam zu Dutzenden regionaler und schweiz-weiter Demonstrationen, so auch zu einer Großkundgebung in Bern mit mehr als 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, was für Schweizer Verhältnisse äußerst ungewöhnlich ist. Trotz dieses erfreulichen Starts brach der organisierte Protest schnell zusammen.

(2) S. dazu z.B. Baratti, Dario & Candolfi, Patrizia, "Anonyme Genossen": Italienische Anarchisten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Schweiz, In: Haller, Ernst (Hg.), Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz, Zürich 2003, S. 137-146.

(3) Trotzdem wurde 1894 ein Gesetz zur Bekämpfung anarchistischer Delikte eingeführt und monatlich auf Anordnung des Bundesrates ein Bericht über anarchistische Delikte angefertigt. S. ebd., S. 139.

(4) Erich Schmid hat dazu ein aufschlussreiches, doch umstrittenes Buch geschrieben, welches vor einiger Zeit neu erschienen ist: Schmid, Erich, Verhör und Tod in Winterthur, Zürich 2002.

(5) LAW, 3. Anarchietage: Reader zu den Veranstaltungen und Referierenden, www.arachnia.ch/etomite/assets/pdf/veranstaltungen/reader.pdf (12.2.07).

Anmerkungen

Das vollständige Programm, der Reader, Tonaufzeichnungen und Fotos der einzelnen Veranstaltungen sind auf der Website der LAW zu finden: www.law.ch.vu