Seit einiger Zeit hört man von ihnen: von israelischen Anarchistinnen und Anarchisten, die Zäune zerschneiden und niederreißen, Übergangstore der Barriere durchbrechen, Roadblocks beiseite schaffen, Bulldozer, Militärflughäfen, das Verteidigungsministerium oder Straßen in Tel Aviv blockieren, um gewaltfrei Widerstand gegen die nun 40 Jahre andauernde israelische Besatzung zu leisten und so den Regierenden und Militärs ein unüberhörbares "Nein!" entgegenrufen.
Berichte von Aktionen der Anarchists Against the Wall (AATW) und von gewaltfreien palästinensischen FriedensaktivistInnen sind bloß Momentaufnahmen einer von Repression überhäuften Graswurzelbewegung, die sich gegen die israelische Besatzung und den Barrierebau im Westjordanland engagiert. Es scheint aussichtslos zu versuchen, ein vollständiges Bild der Aktivitäten dieser Bewegung zu zeichnen.
Selbst die AktivistInnen vor Ort haben Schwierigkeiten, alles Geschehene in Erinnerung zu behalten. Nichtsdestotrotz soll hier versucht werden, ein Portrait – was wiederum nur ein Abriss dessen sein kann, was tatsächlich passiert – von zumindest einem Teil dieser Bewegung, den israelischen ProtagonistInnen in dem gemeinsamen gewaltfreien Widerstand von Israelis und PalästinenserInnen im Westjordanland, zu skizzieren – den Anarchists Against the Wall.
Anfänge
„Anarchists Against the Wall (AATW) ist eine direkte-Aktions-Gruppe, die sich 2003 zusammenschloss als Antwort auf die von Israel errichtete Mauer auf palästinensischem Land in der besetzten Westbank. Die Gruppe kooperiert mit PalästinenserInnen in einem gemeinsamen, gewaltfreien Kampf gegen die Okkupation.“ (1)
So beschreibt sich das Netzwerk israelischer AnarchistInnen selbst. Doch noch bevor sich diese libertären FriedensaktivistInnen einen Namen gaben und sich organisierten, reisten nach Beginn der 2. Intifada im September 2000 vereinzelt israelische AnarchistInnen in die besetzten Gebiete, um sich mit der Situation vor Ort und den Menschen, die dort wohnen, auseinanderzusetzen und konkrete Hilfe zu leisten. Sie begleiteten palästinensische Bäuerinnen und Bauern zu ihren Olivenbäumen, wenn sich diese in der Nähe von militanten israelischen Siedlungen befanden oder schafften gemeinsam einen von hunderten Roadblocks beiseite, die die Bewegungsfreiheit der dort wohnhaften PalästinenserInnen einschränken oder deren Mobilität überhaupt verhindern.
Die ersten Aktionen, die direkt im Zusammenhang mit dem Barrierebau standen, fanden zwischen September und Dezember 2002 in dem palästinensischen Dorf Jayyous statt, als die DorfbewohnerInnen mit einigen wenigen, noch schlecht organisierten israelischen AktivistInnen, die Bulldozer blockierten, die ihre Felder platt walzen wollten, um Platz für die Barriere zu schaffen, welche, besteht sie aus Zaun, rund 100 Meter breit ist und somit beträchtlichen Schaden anrichtet. Bis zu dem Friedenscamp in dem palästinensischen Dorf Mas’ha bzw. der gewaltfreien direkten Aktion bei einem Übergangstor der Barriere in Mas’ha, wo sich die Gruppe konstituierte und sich einen fixen Namen gab, wurden diverse Aktionen unter den verschiedensten Bezeichnungen durchgeführt wie z.B. Jews Against Ghettos, Mas’ha Group oder Anarchists Against Fences.
Das Friedenscamp in Mas’ha
Als die Barriere sich ihren Weg bahnte und in die Nähe des Dorfes Mas’ha in der Westbank kam und sage und schreibe 96 % der landwirtschaftlichen Fläche der Gemeinde annektiert werden sollten, beschlossen einige linke PalästinenserInnen aus Mas’ha und den Nachbardörfern, ein Friedenscamp zu errichten, welches rund vier Monate dauerte, bis es von der israelischen Armee geräumt wurde. Für viele israelische AktivistInnen war dies ein einschneidendes Erlebnis und auch die Geburtsstunde der AATW, wie sie heute auftreten.
„Zum ersten Mal trafen wir PalästinenserInnen täglich und lebten mit ihnen gemeinsam, was für uns ebenfalls eine ganz neue Erfahrung war. Es handelte sich wahrlich um einen Ort des Dialogs. Aus dieser Situation entstand ein nahes Verhältnis zwischen anarchistischen Israelis und PalästinenserInnen. Selbstverständlich waren AnarchistInnen immer gegen die Okkupation […], aber ich denke, dass, aufgrund dieses Camps, diese Problematik Teil unseres Lebens wurde und das waren zugleich die ersten Schritte der Anarchists Against the Wall,“ (2) konstatiert ein israelischer Anarchist.
Jonathan Pollak, der ebenfalls in Mas’ha aktiv war, erinnert sich: „Das Camp bestand aus zwei Zelten, welche, auf den von der Annexion bedrohten Teilen Mas’has, errichtet wurden und in denen PalästinenserInnen, Israelis und internationale AktivistInnen über vier Monate hinweg ständig präsent waren. Das Camp entwickelte sich zu einem Zentrum des Informationsaustausches und war basisdemokratisch organisiert.
Wir planten dort eine Reihe von Aktionen gegen die Mauer, wie z.B. die gewaltfreie Aktion am 28. Juli 2003 in dem Dorf Anin. Bei dieser Aktion gelang es PalästinenserInnen, Israelis und internationalen AktivistInnen zum ersten Mal, trotz heftiger Attacken von Seiten der Armee, ein Übergangstor durchzubrechen.“ (3)
Nachdem, im Zuge des Camps, zwei Tage lang Bulldozer, die ein Haus zu zerstören drohten, blockiert wurden und dabei massenhaft AktivistInnen verhaftet wurden, endete das Camp. Das erste Mal in den Fokus der israelischen Medien gelangten die AATW im Dezember 2003, als sie ein Übergangstor der Barriere zwischen Mas’ha und der jüdischen Siedlung Elkana durchbrachen.
Im Zuge der Aktion schoss ein Scharfschütze der IDF dem Aktivisten Gil Namati mit scharfer Munition in die Beine, was ihm beinahe das Leben kostete und in Israel für Furore sorgte. (4)
Barrierebau und Widerstand seit 2002
„Der Separations-Zaun umringt mehr und mehr palästinensische Dörfer. Die DorfbewohnerInnen sind abgeschnitten von den Quellen ihres Lebensunterhalts. Einige Israelis weigern sich jedoch still zu bleiben. Matan Cohen verlor deshalb ein Auge. Shai Karmeli-Pollak hat dafür eine vielversprechende Karriere aufgegeben. Leila Mosinzon wird deshalb […] ins Gefängnis gehen müssen. Der Separations-Zaun wurde zu ihrer Obsession. Was sind die Gründe dafür, dass junge Menschen ihr wohlbehütetes, bourgeoises Leben aufgeben und sich jeden Freitag Nachmittag mit Tränengas einnebeln lassen? “ (5) Fragen wie diese werden vermutlich auch innerhalb der israelischen Exekutive und vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet (oder Shabak) diskutiert, welche Versuchen, mittels permanenter Repression verschiedenster Art den AATW und den gewaltfreien Bewegungen in den besetzten Gebieten den Hahn zuzudrehen. Es ist aber genau diese Unberechenbarkeit und Unabhängigkeit, die den Widerstand so effektiv macht.
Der Protest wird getragen von Basisbewegungen in Israel und den besetzten Gebieten.
Die AATW können und wollen nur soweit im Westjordanland aktiv sein, wie es die palästinensische Basisbewegungen selbst sind, denn die PalästinenserInnen, die von den Auswirkungen des Barrierebaus primär betroffen sind, sind auch die InitiatorInnen des Protests – Israelis und internationale AktivistInnen wirken als Verstärkung und auch Schutz bei Demonstrationen und gewaltfreien Aktionen und nutzen so ihre „Privilegien“ der Armee und Polizei gegenüber.
Organisiert in sogenannten Popular Committees, koordinieren sie den Protest und leisten unter Absprache und Mithilfe der AATW gewaltfrei Widerstand in den verschiedensten Formen. Dabei werden Freundschaften geknüpft, Vorurteile abgebaut und leidenschaftlich und kreativ für Frieden demonstriert.
Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte die gewaltfreie Widerstandsbewegung im Jahre 2004, als das Dorf Budrus zu dem Symbol des Widerstands gegen die Barriere avancierte. Pollak: „Budrus war das erste Dorf nach Jayyous, das sich vehement gegen den Mauerbau engagierte und auch das erste Dorf, das täglich Demonstrationen organisierte. […] Diese Erlebnisse waren sehr bestärkend und für sehr viele Israelis – zumeist AnarchistInnen, aber nicht nur – bot sich hier die Möglichkeit, eine bestimmte Linie erstmals zu überschreiten.
Wir überschritten die Linie von bloßem Protest zu wirklichem Widerstand gegen die israelische Politik, als wir uns gemeinsam mit PalästinenserInnen der Armee direkt entgegenstellten.
Budrus wurde zum Symbol aufgrund seines heftigen Widerstands und aufgrund seines Erfolges. Es war das erste Dorf, das erfolgreich den Verlauf der Mauer, ausschließlich mit Widerstand „von unten“, beeinflussen konnte, noch bevor man zum Obersten Gerichtshof Israels ging.
Budrus inspirierte viel Dörfer, ebenfalls solch einen Widerstand zu organisieren, was vielleicht ein noch größerer Erfolg war. Fast das gesamte Jahr hindurch leistete beinahe jedes Dorf, das von dem Verlauf der Mauer betroffen war, Widerstand.“
Zur Zeit ist das Dorf Bil’in eines der Zentren, an denen die AATW aktiv sind, was aber nicht bedeutet, dass Aktivitäten ausschließlich dort stattfinden (vgl. GWR 305). Viele andere Dörfer in der Westbank partizipieren nach wie vor an der gewaltfreien Protestbewegung.
Zur Verdeutlichung dessen hier zwei Beispiele: Am 14. April 2007 rissen 40 israelische AktivistInnen, mit Unterstützung der ansässigen PalästinenserInnen, Teile des Zauns, erbaut auf dem Ackerland des palästinensischen Dorfes Beit Ummar, in der Nähe der jüdischen Siedlung Karmei Tzur, mit Vorschlaghämmern, Bolzenschneidern und Seilen, zeitgleich an verschiedenen Stellen nieder. Anrückende SoldatInnen wurden von SiedlerInnen mit Zurufen ermutigt, die AktivistInnen doch zu erschießen.
Eine zweite Gruppe wurde an einer anderen Stelle mit einem bewaffneten „Settler-Security“ konfrontiert, der ebenfalls drohte, die AktivistInnen zu erschießen. In dem palästinensischen Dorf Ma’asara, nahe Bethlehem, wurden vor kurzem im Zuge einer gewaltfreien Demonstration Teile der im Bau befindlichen Barriere massiv beschädigt, den SoldatInnen der IDF trat man, trotz Schlägen und Tritten, friedlich gegenüber.
Die Repressionskeule hat es bislang noch nicht fertig gebracht, alle aktiven palästinensischen Gemeinden und die AATW zum Aufgeben zu bewegen.
Die Situation nimmt aber beunruhigende Züge an, wie Jonathan Pollak attestiert: „Als sich mehr und mehr israelische AktivistInnen an den palästinensischen Protesten beteiligten, verschärfte auch die israelische Regierung ihre Gangart im strafrechtlichen Bereich gegen Anti-Okkupations-AktivistInnen und im speziellen gegen Anti-Mauer-AktivistInnen. Tausende Verhaftungen und über 60 Anklagen vor Gericht machen das Justizsystem zu einer der effektivsten Waffen des Staates. Die strafrechtliche Hetzjagd gegen uns hat uns einen Schuldenberg von über 34.000 US-Dollar beschert, und dieser Betrag steigt immer noch.“
Status Quo
Israelische FriedensaktivistInnen – von den palästinensischen ganz zu schweigen -, die sich in den besetzten Gebieten engagieren, müssen einen langen Atem haben, um staatlicher Repression und den Attacken militanter SiedlerInnen zum Trotz durchzuhalten.
Auf Seiten der israelischen Friedensbewegung bzw. radikalen Linken mussten und müssen speziell die AATW mit einer Reihe von Verhaftungen, Gerichtsverfahren, Geld- und Haftstrafen fertig werden.
Auch teils schwere Verletzungen und Krankenhausaufenthalte – darunter zwei Aktivisten, die gefährliche Augenverletzungen aufgrund von Hartgummigeschossen (6) erlitten haben, zahlreiche Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen, lebensbedrohliche Schussverletzungen wie bei Lymor Goldstein und Gil Namati – belasten jedes Individuum zusätzlich. Bei Zeilen wie diesen ist es aber, schreibt man über die AATW, unerlässlich zu erwähnen, dass – und darauf legen die AktivistInnen großen Wert – palästinensische Verletze oder Getötete in der Regel kaum Erwähnung finden, für eine, von den AATW als rassistisch bezeichnete israelische (aber auch internationale) Medienlandschaft, schlicht nicht von Interesse zu sein scheinen. Deshalb wehren sie sich auch stets dagegen, wenn über israelische Verletzte ausführlich berichtet wird, im Gegenzug jedoch vergleichsweise wenig von PalästinenserInnen zu hören ist, die teilweise bei den selben Aktionen verwundet wurden. Matan Cohen von den AATW schildert dies an seinem eigenen Fall, als er von einem Hartgummigeschoss schwere Verwundungen am Auge davontrug: „Wenn die Opfer PalästinenserInnen sind, bleiben sie namenlos. Man hört bloß Zahlen – zwei PalästinenserInnen getötet, sieben PalästinenserInnen verwundet… Keine Namen, keine persönlichen Details. […] Als ich verletzt wurde, berichteten die Medien davon, die 14 PalästinenserInnen jedoch, die ebenfalls verwundet wurden, blieben unerwähnt. […] Bis jetzt wurde noch kein einziger Soldat für das Töten von unbewaffneten DemonstrantInnen verurteilt.“ (7)
Auch in Israel selbst treten die AATW immer wieder mit kreativen Aktionen ins Blickfeld der Öffentlichkeit, wenn sie z.B., wie erst kürzlich geschehen, mit Stacheldraht von der Barriere aus der Westbank den Verkehr auf Straßen in Tel Aviv zum erliegen bringen oder, wie während des Libanonkrieges, eine Luftwaffenbasis des israelischen Militärs blockieren (vgl. GWR 316 u. 314).
Der Fokus liegt jedoch nicht ausschließlich auf Anti-Okkupations Aktivitäten
Die AATW mobilisierten in der Vergangenheit z.B. für Solidaritäts-Demonstrationen während der Auseinandersetzungen in Oaxaca/Mexico, bei der Räumung des Ungdomhuset in Dänemark und waren bei der Queeruption aktiv, die im Sommer 2006 in Tel Aviv über die Bühne ging. (8)
Für die nötige Infrastruktur sorgt, neben einem besetzten Haus, der Infoladen Salon Mazal im Zentrum von Tel Aviv.
Ein Ort, wo der Widerstand gegen Kapitalismus, Krieg und Militarismus neben libertären Theorien seinen Platz gefunden hat, was unter anderem zu der erbaulichen Einschätzung von Jonathan Pollak führt, dass „es heutzutage jedoch kaum noch jemanden [gibt], der oder die nicht weiß, dass der Anarchismus eine existierende politische Bewegung in Israel ist.“
(1) http://www.awalls.org/about_aatw
(2) Aaron Lakoff: Anarchismus in Israel, in: Gruppe CoRa (Hg.): Texte und Interviews zu Anarchismus, KDV und gewaltfreiem Widerstand in Israel/Palästina, S. 16
(3) aus einem Gespräch des Autors mit Jonathan Pollak, März 2007
(4) Anlässlich diese Vorfalles wurden von der Armee bewusst Unwahrheiten lanciert, weshalb die AATW neben einer Pressekonferenz auch ein Video zu der Aktion machten: http://awalls.org/masha_video
(5) Asafa Peled: Those who cross the fence, in: The Other Israel. May 2006 - No. 125/126, S. 12
(6) Bei den zur Anwendung kommenden Kugeln handelt es sich genau genommen nicht um Hartgummigeschosse, sondern um runde Metallkugeln, ummantelt von einer dünnen Hartplastikschicht. Diese Kugeln können im Kopfbereich tödliche Folgen haben.
(7) ebd., S. 14
Termine
Gewaltfreier Widerstand in Israel/Palästina
GWR-Autor und Mitherausgeber Sebastian U. Kalicha wird während des Kongresses "35 Jahre Graswurzelrevolution" (31.8. - 2.9.2007 in Könnern bei Leipzig) von seinen Erfahrungen, die er im Zuge seiner Reisen nach Israel/Palästina mit der gewaltfreien Widerstandsbewegung - vom International Solidarity Movement bis zu den Anarchists Against the Wall - gemacht hat, berichten und die Perspektiven dieser Graswurzelbewegungen gegen Besatzung und Barrierebau diskutieren. Angefragt ist zudem ein AATW-Mitglied.