libertäre pädagogik

Die Revolution frißt ihre Kinder

"Freie Erziehung" im Rußland vor der Oktoberrevolution

| Frercks Hartwig-Hellstern

I.I. Gorbunov-Posadov und K. N. Ventcel sind zwei Unbekannte der vorrevolutionären russischen libertären Erziehungskritik. Welche Erscheinungsformen, Projekte und Konzepte "Freier Erziehung" gab es im vorrevolutionären Rußland über die inzwischen bereits bekannten Ansätze Tolstojs hinaus? Ließ sich die Intention, Kinder völlig von Bevormundung und Zwängen zu befreien, in eine revolutionäre Praxis umsetzen? Vom Autor erschienen in GWR 207 und 204 bereits Artikel zu Schulkritik und Repolitisierung der Kindheit. (Red.)

Werfen wir einen Blick auf die russische und frühsowjetische Pädagogik nach der Jahrhundertwende und im Vorfeld der Oktoberrevolution, stoßen wir auf die sogenannte „Freie Erziehung“ bei I. I. Gorbunov-Posadov und K. N. Ventcel, die eine deutlich kritische Einstellung zu traditionellen Erziehungsvorstellungen aufzeigen. In Deutschland sind diese Gedanken über die libertäre frühsowjetische Pädagogik eines L. Tolstoj bekannt geworden. Während es aber über die libertäre Pädagogik von Tolstoj einen gewissen Fundus an deutschsprachiger Literatur gibt, hält sich offensichlich das wissenschaftliche Interesse an der sich am Anarchokommunismus eines Kropotkin orientierenden Pädagogik von Ventcel in engen Grenzen (s. Literaturhinweise). Es ist nicht ersichtlich, ob dies eine Folge der geringen politischen Relevanz dieser Vorstellungen in einem sich im gesellschaftspolitischen Umbruch befindenden Rußland oder eher am Desinteresse und an der kritischen Distanz deutscher ErziehungswissenschaftlerInnen an und zu radikalen kinderrechtlichen Positionen liegt. Diese erziehungskritischen Theorien sind insofern von besonderer Bedeutung, als sie Bestandteil einer historischen Phase sind, die von schnellen und radikalen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen geprägt ist und deshalb nicht als die „Hirngespinste weltfremder Idealisten in einer saturierten Wohlstandsgesellschaft“ diffamiert werden können. Gerade deshalb lohnt sich ein Blick auf diese „pädagogische Richtung“, die eine radikale Veränderung der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen einfordert. Dabei werden Schule und Bildung, wie sie sich dem europäisch-nordamerikanischen Selbstverständnis erschließen, in Frage gestellt.

Die vorliegende Sekundär-Literatur zur russischen und frühsowjetischen Pädagogik liefert nur einen oberflächlichen Einblick in die Praxis der „Freien Erziehung“. Die Betrachtung bleibt deshalb teilweise auf Spekulationen angewiesen. Die in der Regel kritische Bewertung (der „Freien Erziehung“) in der vorliegenden Literatur macht eine neutrale und realistische Einschätzung, insbesondere der radikalen Version von Ventcel schwierig. Aus der erziehungskritischen Perspektive scheint gegenüber der vorliegenden Kritik Skepsis angebracht. Dies besonders, wenn es um die Beurteilung des vermeintlichen „Scheiterns“ des Praxisprojekts im sogenannten „Haus der freien Kinder“ geht. Hier scheinen die Beschreibungen durch die vorliegenden Autoren widersprüchlich und subjektiv.

Prinzipien der freien Erziehung bei Gorbunov-Posadov und bei Ventcel

Als Quellen liegen die Ausgaben der 1907 gegründeten Zeitschrift „Svobodnoe vospitae“ (Freie Erziehung) vor, um die sich die Reformer sammelten und die dieser Reformrichtung ihren Namen gab. Herausgeber und Begründer war I.I. Gorbunov Posadov (1846 – 1940). Von 1889 an leitete er die „Bibliothek für Kinder und Jugendliche“, ab 1909 die „Bibliothek der freien Erziehung“. Er war über die gesamte Erscheinungszeit der „Freien Erziehung“ verantwortlicher Redakteur. Um die Zeitschrift, das selbständigste und radikalste pädagogische Journal jener Zeit, gruppierten sich drei verschiedene Richtungen, die sich folgendermaßen beschreiben lassen: 1. Die Anhänger der freien Erziehung im strengen Sinne des Wortes (Ventcel), deren praktische Wirkungsstätte im „Haus des freien Kindes“ zu finden war, 2. Sympathisierende, die sich beispielsweise von den radikalen Ideen Ventcel’s absetzten und eigene Schulmodelle entwickelten und 3. Die Settlement-Bewegung der sozialistischen Revolutionspädagogen um Sackij.

Im Unterschied zu anderen pädagogischen Reformbewegungen wurde die Bewegung der „Freien Erziehung“ – so die Einschätzung in der vorliegenden Sekundärliteratur – nicht wissenschaftlich begründet (wie z.B. die „experimentelle Pädagogik“). Sie stellte vielmehr einen spontanen Protest der liberalen und sozialistischen russischen Intelligenz gegen die traditionelle Form der Staatserziehung dar. BerufspädagogInnen waren dabei in der Minderheit. Erziehung wurde als „Leidenschaft des Herzens“ verstanden. Vielleicht ein Grund für das intellektuelle Desinteresse in Deutschland.

Grundlage der „Freien Erziehung“ waren folgende Prinzipien: Im Vordergrund stand der Glaube an die Schaffenskraft des Kindes. Die Einwirkung von außen stellte ein Hemmnis für diese Schaffenskraft dar. Durch den Abbau oder die Verhinderung dieser äußeren Einflüsse wurde den Kindern die volle Freiheit in der Selbstbetätigung und Initiative des Kindes bereitgestellt. Wichtiges Ziel war deshalb die Befreiung des Kindes von äußerem Einfluß und die Beseitigung jeglicher Autorität. Die zeitgenössische Schule aber dressierte die Kinder zur Anpassung an das bestehende Regime und konnte den Erwartungen an eine „Freie Erziehung“ nicht gerecht werden. Deshalb bildete die Forderung nach einer Auflösung der Schule alten Typs und die Verbindung von Leben und Lernen in der einheitlichen Schule den zentralen Bereich der Veränderungsbestrebungen. Im Mittelpunkt der „neuen Schule“ stand das Arbeitsprinzip, die Verbindung von Leben und Bildung. Ziel der „Freien Erziehung“ war die Auflösung des Generationskonflikts und die Reorganisation der Gesellschaftsordnung durch eine freie Erziehung und Bildung aller Kinder (Gorbunov). Der größte Teil der AnhängerInnen der „Freien Erziehung“ lehnten das religiöse Element ab. Radikalster Vertreter war Konstantin Nikolaevic Ventcel (1857 – 1947). An den vorliegenden Beschreibungen seiner pädagogischen oder erziehungskritischen Vorstellungen lassen sich weitere zentrale Bestandteile der „Freien Erziehung“ darstellen. Ventcel nahm dabei Bezug auf Sokrates, Rousseau und Tolstoj. Er vertrat wie diese den Gedanken von der angeborenen Güte und Reinheit des Kindes, das sittlich höher stehe als der Erwachsene. Rousseaus „negative Pädagogik“, Tolstojs „Freiheit der Bildung“, E. Keys „Jahrhundert des Kindes“ und Kropotkin’s Anarchokommunismus bildeten die Eckpfeiler seines sozialpädagogischen Utopismus: „Die freien Kinder werden uns mitreißen zur gemeinsamen Suche nach dem Lande der Sonne, der Liebe und Freiheit.“ (Ventcel nach Anweiler 1978, 51) oder „Die Befreiung des Kindes – das ist das einzige Mittel, das die menschliche Kultur vor dem Untergang retten kann.“ (Ventcel, nach Anweiler 1978, 50).

Wichtigstes Ziel war die Veränderung der Schule, aber auch eine grundlegende Reform des Lebens insgesamt, sprich der gesamten Erziehung und des überlieferten Herrschaftsverhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern. Im Vordergrund stand der Protest gegen jede Fremdbestimmung und damit die Frage nach der Berechtigung von Erziehung überhaupt und nach den Grenzen, die sie am eigenständigen Recht der kindlichen Persönlichkeit finden soll: „Das Kind ist am Anfang seiner Entwicklung nur zum Guten geneigt, mit der Zeit verschwindet aber diese Neigung allmählich; der Grund ist in dem Einfluß der Erwachsenen zu suchen.“ Dies betraf natürlich auch das Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen in der Familie: „Dem Kind müssen in der Familie dieselben Freiheiten gewahrt werden, wie dem Erwachsenen.“ Ventcel ging es aber auch um die Neubewertung der Autorität: „Wenn wir freie Menschen erziehen wollen, müssen wir die Vernichtung und Beseitigung jeder persönlichen Autorität herbeiführen.“ Sein anarchischer Freiheitsbegriff fand seine Spitze in der Formulierung des Rechts der Kinder, ihre Eltern zu verlassen und sich bessere ErzieherInnen zu suchen: Kinder haben demnach „…das Recht, sich ihre Erzieher selbst zu wählen und sich von ihren Eltern loszusagen oder zu entfernen, wenn diese keine guten Erzieher sind.“ Diese Forderung ist auch ein zentraler Bestandteil der Forderungen der heutigen Kinderrechtsbewegung und berührt ein Tabu.

Die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse und die Neubestimmung des Generationsverhältnis war und ist untrennbar mit der Entfernung des Zwangs verbunden: „..je weniger Zwang, desto vollkommener ist die Schule.“ (Ventcel, nach Froese 1956, 106). Diese Überzeugung stand unter anderen im Zentrum der Kritik an der zeitgenössischen Schule. Die VertreterInnen der „Freien Erziehung“ strebten nach einer einheitlichen Schule, mit der die künstliche Scheidewand zwischen Schule und Leben überwunden werden sollte. Die Idee der Heim- und Arbeitsschule, der Schule als Arbeitsgemeinschaft, als „Methode der Befreiung der Schaffenskräfte im Kinde“ (Froese 1956, 106) führte, so die Hoffnung, zur bewußten schöpferischen Aktivität des Kindes und zur Entfaltung seines Willens: „Gewährt den Kindern eine freie Entwicklung, verderbt sie nicht mit eurer Einmischung. Mögen sie lernen, was sie wollen und wie sie wollen. Mögen sie sich untereinander so verhalten, wie sie es selbst verstehen; mögen sie sich selbst die Ordnung geben, die sie als nötig erachten. Sache des Erziehers ist nur, den Kindern die Möglichkeit zur Betätigung zu geben, auf die Wünsche der Kinder zu antworten. In der Erziehung und im Unterricht darf es keinerlei Zwang, keine bestimmten Vorschriften und Forderungen geben. Die zukünftige Schule wird keinen im voraus bestimmten Lehrplan und Stundenplan haben, keine im voraus vorgenommene Klasseneinteilung und auch kein vorher zusammengestelltes Lehrpersonal.“ Und: „Das Ideal der Schule ist, zu erreichen, daß das Kind von einem Fach in ein anderes nach eigenem Gutdünken übergehen und nach Wunsch von jedem Lehrfach sich das wählen kann, was es braucht.“.

Gorbunov drückt dies ziemlich ähnlich aus: „..bisher… die Schule ist nicht für das Kind, sondern das Kind ist für die Schule da… Die neue Schule hingegen sei eine Stätte der freien Arbeit. In ihr herrsche keinerlei Zwang, kein irgendwie gearteter Druck auf die Seele des Kindes. Die Wände, die die Schule vom Leben trennen, werden zerbrechen. …Wir wollen, daß unsere Kinder nicht blinde Sklaven, sondern bewußte freie Menschen sind, …“. Die Unterordnung unter eine Religion wurde kritisch angesehen: „Unter dem Deckmantel der gegenwärtigen sogenannten religiösen Erziehung vollzieht sich ein einschneidender bis in die Tiefe aufwühlender Demoralisierungsprozeß des Kindes.“ (Lozinsky 1907, nach Zenkowskij 1933, 231). Obwohl er sich nicht als ausgewiesener Atheist präsentiert, plädierte Ventcel (in anarchischer Logik) für die Verteidigung der Freiheit auch gegenüber der Religion: „Die religiöse Erziehung hat nicht die Aufgabe, den Kindern diese oder jene traditionelle Religion einzuimpfen,… sondern sie muß mithelfen, daß das Kind sich selbst auf schöpferischem Wege eine Religion bildet.“ (Ventcel, nach Zenkowskij 1933, 232). In der Konsequenz löste sich Ventcel von Tolstoj und entwickelte eine, wie er es bezeichnete, „nichtradikale ethisch-liberale pädagogische Richtung“. Die von Tolstoj praktizierte zukunftsorientierte „Erziehung zum Guten“ beurteilt Ventcel kritisch: „Ziel der sittlichen Erziehung ist nicht das Einpfropfen des Guten, sondern das Wecken des im Kinde selbständigen freien Willens,…“ (Ventcel, nach Zenkowskij 1933, 232). Dabei schien sich aber die Kritik an der Einmischung der Erwachsenen zu verschieben. Nicht mehr die „psychische Abstinenz des Erwachsenen“ wurde angestrebt, sondern die Richtung ging mehr in das, was die heutige Antipädagogik als die „Authentizität (oder Echtheit) der Erwachsenen“ oder als die „Unterstützerfunktion“ im Kommunikationsprozeß zwischen Kindern und Erwachsenen bezeichnet. Mit folgendem Zitat wird deutlich, daß es sich dabei um eine, wenn man es so nennen will, „Methode der indirekten Einwirkung“ auf Kinder handelte: „Unsere Aufgabe liegt nicht darin, daß wir dem Kind sagen, daß es frei ist, sondern daß wir ihm helfen, wirklich frei zu werden.“ (Ventcel, nach Froese 1956, 107)

Praxis der „Freien Erziehung“ im Haus des freien Kindes

Aus Mitgliedern des pädagogischen Vereins an der Universität Moskau bildeten sich im Laufe der Zeit zwei Gruppen. Die erste errichtete den Kindergarten, die zweite die „Familienschule“, die später zum „Haus des freien Kindes“ wurde – die Einrichtung, in der die Theorien der „Freien Erziehung“ ihre Bewährung in der Praxis finden sollten. Gegründet wurde das Haus von Gorbunov-Posadov, Ventcel u.a. im Jahr 1906 in Moskau. Von da ab bestand es drei Jahre, wobei die Arbeit von Beginn an durch materielle und personelle Schwierigkeiten bestimmt war. Das Haus des freien Kindes sollte das Abbild einer sozialutopischen Erziehungsvision, einer sozialpädagogischen Utopie in der Tradition der Philosophen Thomas Morus, Tommasso Campanella, der Sozialisten Robert Owen und Charles Fourier und des Anarchokommunisten Peter Kropotkin sein. Ziel war die Schaffung einer „idealen pädagogischen Gesellschaft“, in der ein freies Verhältnis zwischen Kindern und ErzieherInnen herrschen sollte. Im Vordergrund stand in erster Linie der anarchische Ansatz, der die „Rechtmäßigkeit der Herrschaftsgewalt in der menschlichen Gesellschaft“ als Vorurteil beschrieb. Damit wurde auch die Rechtmäßigkeit der Macht der Eltern und Erzieherinnen über die Kinder und die Jugend in Frage gestellt. Das Haus des Kindes sollte zur Geburtsstätte der „herrschaftslosen freien Gesellschaft wiedergeborener Menschen“ werden. Statt traditioneller Schule sollte eine kleine intime Gemeinschaft von Kindern und ErzieherInnen entstehen, in der sich keiner von beiden Teilen dem anderen unterordnet. Die Aufgabe der PädagogInnen bestand darin, die Befreiung der kindlichen Seele zu unterstützen: „In der neuen Schule ist kein Platz für einen Zwang, für eine Vergewaltigung der Kinderseele,.. Dies darf keine Schule, sondern muß ein ,Haus des freien Kindes“ sein.“ (Gorbunov, 1907). Zu den Schwerpunkten gehörte die Ablehnung von vorher aufgestellten Lehrplänen, Lehrgegenstände wurden in Schülerkonferenzen gewählt und die Kinder wurden zur Mitarbeit in den Schulangelegenheiten herangezogen und nahmen an der Schulorganisation teil. Produktive Arbeit stand im Mittelpunkt – Arbeit, die dem natürlichen Bedürfnis der Menschen entspricht und nicht im Widerspruch stand zu seiner harmonischen und allseitigen Entwicklung. Lernen aus Büchern diente nur der Ergänzung. Die MitarbeiterInnen im Haus des freien Kindes beschrieben zwar ihre Verunsicherung und „Verzweiflung über Unordnung, Lärm, Ausgelassenheiten und Streitigkeiten der Kinder“ doch ob dies alleine die Kritiker bestätigt, der die Praxis der „Freien Erziehung“ im „Haus des freien Kindes“ für gescheitert erklärten? Anweiler interpretiert dies so: „Ohne es zu wollen, mußten die Erwachsenen eine führende Rolle übernehmen, die sie mit schlechtem Gewissen und daher auch mit geringem Erfolg spielten. Am Schluß stand die innere Krise, die eine Auflösung nötig machte.“ (Anweiler 1978, 52). Zenkowskij beschrieb die Gründe für das Ende des „Haus des freien Kindes“ ganz anders. Danach ging die Initiative zur Auflösung von den Kindern, von der Kinderversammlung aus. Sie verneinten das Freiheitsprinzip, wie es zu den Anfangszeiten verstanden worden war. Die Kinderversammlung war „…durchdrungen von der Verkündigung der Pflichten für alle und der Verantwortung eines jeden vor allen.“ (Zenkowskij 1933, 227). Ob hier tatsächlich von einem „Scheitern“ der Praxis der „Freien Erziehung“ gesprochen werden muß, läßt sich anhand der vorliegenden Literatur nicht klären. Die Vermutung liegt nahe, daß das „Scheitern“ sich daraus ergibt, daß die von den erwachsenen MentorInnen anvisierten Ziele so nicht eingetroffen waren. Damit ließe sich erklären, warum „..alles, was in diesem Sinne (Arbeitsprinzip) der Vereinigung der geistigen und physischen Kinderarbeit erreicht war, nicht jener produktiven Arbeit entspricht, nach der man (also die Erwachsenen und nicht die Kinder! F.H.-H.) sich anfangs so gesehnt hat.“ (Kistjakowskaja, nach Zenkowskij 1933, 227).

Fast alle Autoren kritisieren die idealisierende Zeichnung des Kindes in den Ansätzen der „Freien Erziehung“. Sie beanstanden die unrealistische Darstellung der gesellschaftlichen Lage in Rußland. Nach Anweiler standen die sozialen Realitäten des russischen Lebens in krassem Widerspruch zu Ventcels Idealismus. Die russische Gesellschaft als Gesellschaft auf einer niedrigen geistigen und sittlichen Entwicklungsstufe befand sich in schlechten wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Verhältnissen und war, so Anweiler, durch die Formulierung von Kinderbefreiungsthesen überfordert: „…- unter all diesen Verhältnissen von der Gesellschaft eine ,Befreiung des Kindes“ zu erwarten, das seinerseits dann die Gesellschaft befreit, ist mindestens naiv.“ Die Autoren konnten (noch) nicht wissen oder übersahen, daß es genügend Beispiele für die Realisierung von Kinderrechten gerade in extremen gesellschaftlichen Krisen gegeben hat. Hier sei nur beispielhaft auf die Waisenheime von J. Korczak oder auf Modelle, wie die Kinderrepublik Bemposta, die für Ausgestoßene im Kinder- und Jugendalter eingerichtet wurde hingewiesen. Anweiler hielt Ventcels Vorstellungen auch für pädagogisch problematisch, da er das dialektische Verhältnis des „Führens“ und des „Wachsenlassens“ leugne und sich mit einer bloßen negativen Setzung begnüge. Eine Kritik, die auch aus der Diskussion um die Antipädagogik zur Genüge bekannt ist. Auch die vermeintliche Alternative zur radikalen Schulkritik erscheint im Hinblick auf die Schuldebatte in den 70er Jahren in der Bundesrepublik und den damit verbundenen Diskurs altbekannt: Anstatt für das „Haus des freien Kindes“ plädierten die KritikerInnen der „Freien Erziehung“ für eine Reform des Unterrichtsplans, der Schulordnung und bessere LehrerInnen. 1909 wurden zwei solcher Schulen als pädagogische Laboratorien eingerichtet. Die eine wurde von dem Ehepaar Cechov initiiert und orientierte sich an der Vorstellung von einer freien Schule, in der „… nicht nur das Kind von erzieherischen Zwangsmaßnahmen befreit ist, sondern auch der Lehrer die Freiheit behält, auf das Kind einzuwirken und es aufgrund des Verständnisses seiner Bedürfnisse zu leiten.“ Das zweite Modell wurde von Kajdanov gegründet und hatte die „Hauslehrerschule“ von Berthold Otto zum Vorbild.

Freie Erziehung und Staatssozialismus

1917 wurde laut Klemm die Zeitschrift „Freie Erziehung“ eingestellt (Klemm 1984, 35). Anweiler sprach von einem Erscheinen bis 1935, bis 1918 monatlich. Ob und wie dies mit der Machtergreifung durch die Bolschewiki zusammenhängt, ist aus der vorliegenden Literatur nicht direkt ersichtlich. Daß die ZentralistInnen in der Oktoberrevolution ihre Schwierigkeiten mit der „Freien Erziehung“ hatten, und natürlich auch umgekehrt, fällt auf. Für Ventcel beispielsweise, der sich mehr der russischen als der sozialistischen Bewegung verbunden fühlte, kamen die Interessen der Gesellschaft nach den Interessen der „freien, selbständigen und schöpferischen Persönlichkeit des Kindes und seiner Interessen“. Hier tat sich offensichtlich ein krasser Widerspruch zur Realität der bolschewistischen Revolution auf. Dies änderte sich auch nicht dadurch, daß viele Vorstellungen durch Krupskaja, die Frau Lenins, in die Zeit nach der Oktoberrevolution übernommen wurden, oder daß sich Sackij um die Kontinuität der russischen Freiheitspädagogik im Sinne Tolstojs nach 1917 bemühte. Die 1918 einsetzende Verhaftung und Ermordung von AnarchistInnen durch die Bolschewiki, die Verstaatlichung und Zentralisierung des Verlagswesens und die Unterdrückung der intellektuellen Freiheit scheinen mit dem Ende der „Freien Erziehung“ einherzugehen. Die erneute Entmündigung des Volkes, diesmal durch die sozialistischen ZentralistInnen in Moskau wird an der Kritik eines der geistigen Väter der „Freien Erziehung“ deutlich. In einem Brief an Lenin wirft Kropotkin diesem Verrat an den kommunistischen Ideen vor und warnt ihn vor der Gefahr des gelenkten Denkens: „Die Bolschewiki haben demonstriert, wie man die Revolution nicht machen soll“. Und das Lenken von Menschen beginnt in einer von der Erziehungsideologie bestimmten Gesellschaft natürlich bei den Kindern.

Literatur

Anweiler, O.: Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland, Wiesbaden 1978

Braunmühl, E. v.: Zeit für Kinder. Frankfurt 1978

Froese, L.: Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik, Heidelberg 1956

Klemm, U.: Die libertäre Reformpädagogik Tolstojs, Reutlingen 1984

Zenkowskij, W.: Die russische Pädagogik im XX. Jahrhundert, in: Schröteler, J.: Die Pädagogik der Gegenwart in den großen Kulturländern, München 1933