Wirtschaftliche Zwangsstrukturen sind auf der ganzen Welt eines der wesentlichen Instrumente von Herrschaft und Unterdrückung. Sie sind in den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen auf verschiedene Weise mit sozialen und politischen Strukturen verwoben. Immer geht es darum, Menschen in eine Position existentieller Not zu bringen um sich ihre Arbeitskraft verfügbar zu machen und ihren politischen Willen zu brechen.
In Indien kämpfen verschiedene Bewegungen für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der auf diese Weise unterdrückten Bevölkerungsgruppen und für ihre Kontrolle über die für ihr Leben notwendigen Ressourcen. R.V. Rajagopal, der Präsident von Ekta Parishad nennt diese Anstrengungen den „Kampf um die zweite Unabhängigkeit“ und Elaben Bhatt, die langjährige Direktorin von SEWA unterscheidet die „erste“, politische Freiheit, die 1947 errungen wurde und die „zweite“ ökonomische Freiheit, die es für die arme Bevölkerung Indiens noch zu erreichen gilt.
Janadesh 2007 – „Auf Anordnung des Volkes“
Janadesh 2007 ist die bedeutendste gewaltfreie Aktion der letzten Jahre in Indien, mit der eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse gefordert wird. Die Bewegung Ekta Parishad hat dazu aufgerufen.
Etwa 25 000 vorwiegend landlose Menschen laufen ab dem 2. Oktober 350 km bis zur Hauptstadt Neu Delhi.
Nach 26 Tagen werden sie dort ankommen und einen Sitzstreik vor dem Parlament beginnen, an dem sich voraussichtlich über 100.000 weitere Menschen beteiligen werden. 500 Aktivistinnen und Aktivisten wollen die Aktionen mit einem Fasten begleiten.
Die Auseinandersetzung um Rechte, Akzeptanz und Ressourcen wird gewaltfrei geführt und zielt auf die Veränderung der staatlichen Politik.
Die Menschen fordern, eine Landreformagenda in den Programmen aller politischen Parteien, den Aufbau einer nationalen Landbehörde, die Einführung eines Landverteilungssystems, die Verteilung von Land an alle Menschen mit Landrechten, einen sofortigen Stopp der Umsiedelung der Urbevölkerung aus den Wäldern und eine gerechte Verteilung der lebensnotwendigen Ressourcen, vor allem Land, Wasser und Wälder.
Wasser, Wald und Land
1990 schlossen sich viele, bis dahin lokal arbeitende Gruppen, die sich für die Rechte von Landlosen engagiert hatten, zusammen. Es entstand die Bewegung Ekta Parishad (wörtl. „gemeinsames Forum“), die zu Janadesh 2007 aufruft. Im Verlauf der Zeit verbanden sich Gruppen aus insgesamt 8 Staaten um gemeinsam handeln zu können und um eine stärkere Opposition gegen die immer größer werdende Ungerechtigkeit in der Landpolitik der Congress-Regierung zu bilden.
Seit der Gründung von Ekta Parishad wurden von der Bewegung viele Fußmärsche unternommen, bisher aber nur auf lokaler oder bundesstaatlicher Ebene. Der Ruf der diese Märsche begleiten ist: „Jal, Jungel, aur Jamin Hamara“ (Wasser, Wald und Land gehören uns).
Märsche haben seit dem „Salzmarsch“ von Gandhi, der die britische Macht in Indien tiefgreifend erschütterte, eine Tradition in der gewaltlosen politischen Auseinandersetzung.
Auch Vinoba Bhave, ein Weggefährte und Schüler Gandhis, lief nach dessen Tod 20 Jahre lang durch Indiens Dörfer und bat Landbesitzer um Land für die Landlosen. An seinen Märschen beteiligten sich unzählige Menschen und sie erreichten, dass Land von der Größe Schottlands, an die Landlosen verteilt wurde.
Viele der Märsche führen durch abgelegene Landesteile und machen in den Dörfern für Diskussionen und zur Aufklärung Halt. So werden isolierte Gemeinwesen erreicht und durch den Austausch der AktivistInnen und der lokalen Bevölkerung entsteht Solidarität, politische Identität und das Vertrauen in Aktionen. Die AktivistInnen stammen aus verschiedenen Hintergründen.
Sie gehören der indischen Urbevölkerung an, sie sind Landlose, LandbesetzerInnen und Kleinbäuerinnen und -bauern, deren Land nicht zum Leben reicht.
Der Marsch, der im Oktober stattfinden wird, führt von Gwalior nach Delhi. Er wird voraussichtlich einer der größten Fußmärsche seit der Unabhängigkeit. Und er wird der erste Marsch von Ekta Parishad mit dem direkt die Zentralregierung in Delhi mit den Anliegen der Landlosen konfrontiert wird.
Lebensnotwendige Ressourcen unter die Kontrolle der Menschen!
Nur der Besitz von Land bietet die Möglichkeit ein gesichertes Einkommen zu erwirtschaften. Verlieren die Menschen ihr Land, verlieren sie auch die Möglichkeit ihre einfachen Bedürfnisse zu befriedigen: ausreichend zu essen, ihre Kinder zur Schule zu schicken und einen Ort zum Wohnen und Schlafen zu haben. Als Landarbeiter finden sie nur zeitweise Arbeit und verdienen kaum genug für ihr einfaches Überleben. Die Städte bieten den Landlosen keine Alternative, da sie dort mit anderen Vertriebenen um schlecht bezahlte Arbeit konkurrieren und in Slums oder auf der Straße leben müssen. Ein Entwicklungsmodell, dass die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit mitberücksichtigt, erfordert also – das ist die Schlussfolgerung von Ekta Parishad – eine tiefgreifende Veränderung der Besitzverhältnisse auf dem Land.
Das zentrale Prinzip der Bewegung ist, dass die Ressourcen, die für den Lebensunterhalt der Menschen nötig sind, unter der Kontrolle der Menschen stehen müssen. Diese Forderung prägt die verschiedenen Strategien der Bewegung und das politische Konzept einer dezentralen Kontrolle über die lokalen Ressourcen durch gewählte Dorfräte. Zentral für politische Erfolge ist die Mobilisierung der betroffenen Menschen in Demonstrationen und Märschen und gewaltfreie Aktionen, wie Blockaden oder das temporäre Fasten möglichst vieler Menschen, um überhaupt erst Aufmerksamkeit für die Probleme der marginalisierten Bevölkerung zu schaffen. Zur Strategie gehört auch aufbauende Arbeit, die durch freiwilliges Engagement erfolgt und die Infrastruktur von Dörfern und die Lebenssituation der Menschen direkt verbessert.
Doch die Ungerechtigkeiten in der Landverteilung werden immer schamloser. Tausende von Hektar werden an multinationale Firmen vergeben die in sog. „Special Economic Zones“ häufig von allen Arbeitsschutzgesetzen entbunden sind. Immer mehr Menschen werden von dem Land, das sie bewirtschaften, vertrieben oder zwangsumgesiedelt, durch den Bergbau, die Einrichtung von Tierschutzreservaten oder den Bau riesiger Staudämme. Erhalten die Menschen im besten Fall Land als Kompensation, finden sie sich meistens in Gegenden wieder, in denen es kaum Wasser gibt und in denen das Land unfruchtbar ist. Die meisten sind spätestens jetzt gezwungen in die riesigen Slums der Städte abzuwandern, da sie auf dem Dorf ihre Lebensgrundlagen nicht mehr erwirtschaften können.
Die Regierung hat schon vor einigen Monaten angekündigt, die Probleme vor Oktober lösen zu wollen, um zu verhindern, dass der Marsch stattfindet. Bisher ist in dieser Richtung jedoch nichts unternommen worden. Unter den AktivistInnen wird angenommen, dass die Regierung die Menschen überhaupt nicht aus Gwalior hinauslassen oder eine Ankunft in Delhi verhindern will.
Das Problem der Armut und der Verlust von Freiheit hängen direkt zusammen
In Indien arbeiten über 94% der Frauen im informellen Sektor. Sie erhalten minimale Löhne, können jederzeit entlassen werden und haben keinerlei Sicherheiten, wie Versicherungsschutz, Sozialversicherung oder Rentenansprüche. Sie gehören zu den am stärksten benachteiligten Schichten der Bevölkerung und arbeiten in den am schlechtesten bezahlten Stellen und in Heimarbeit.
Für ihre Arbeit erhalten sie nur ca. die Hälfte des Lohnes, den Männer für die gleiche Tätigkeit bekommen. Zudem sind sie oft Gewalt und sexuellem Missbrauch durch die Arbeitgeber, aber auch durch Polizei oder Kollegen ausgesetzt. Für die Kindererziehung sind sie allein verantwortlich und müssen den Haushalt führen.
Aufgrund der systematischen gesellschaftlichen Diskriminierung sind die Mehrzahl der Frauen Analphabetinnen.
So werden sie in ihrer Arbeit leicht das Opfer von Betrügereien, da sie Verträge nicht lesen oder Rechnungen nicht nachvollziehen können. In der Gesellschaft haben diese Frauen keinen akzeptierten Platz.
Zwar erledigen sie z.B. als Bäuerinnen, Straßenverkäuferinnen, Bauarbeiterinnen und Müllsammlerinnen die für die Gesellschaft lebensnotwendigen Arbeiten, aber ihnen werden die mindesten Ressourcen verweigert um grundlegendste Bedürfnisse zu erfüllen.
Stabile Arbeitsverhältnisse und wirtschaftliche Eigenständigkeit
4000 Frauen, die im informellen Sektor arbeiteten, gründeten 1972 in Ahmedabad im Bundesstaat Gujarat eine Gewerkschaft mit dem Namen SEWA (Self Employed Womens Association). Das Ziel dieser Selbstorganisation war es, durch die Kontrolle über und den Besitz von ökonomischen Ressourcen den Zustand der Ausbeutung zu überwinden und sich damit „Doosri Azadi“, die „zweite Freiheit“, zu erkämpfen, was vor allem gesellschaftliche Akzeptanz und alltägliche Handlungsfreiheiten bedeutet. Als wichtige Voraussetzung für diese Freiheit, gelten für SEWA stabile Arbeitsverhältnisse („full employment“) und wirtschaftliche Eigenständigkeit („self-reliance“). Aus den Anfängen hat sich eine breite soziale Bewegung entwickelt, die es in ihren Kämpfen geschafft hat ein Netzwerk von Organisationen zu schaffen, welches die notwendigen Grundlagen für das Erreichen dieser zwei Voraussetzungen zur Verfügung stellt. Durch die Orientierung an den Bedürfnissen der Mitglieder, ist nicht nur eine der erfolgreichsten Bewegungen in Indien entstanden, sondern auch ein praktischer Entwurf, wie eine Entwicklung, die sich an den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung orientiert, aussehen könnte.
Heute gehören der Bewegung mehrere tausend Basisgruppen, 96 Kooperativen und verschiedene Zusammenschlüsse dieser Gruppen und Kooperativen an. Mitglieder können nur Frauen werden. Die vielfältige Struktur reflektiert die zwei zentralen Aspekte in den Aktivitäten der Bewegung: soziale und politische Auseinandersetzung und wirtschaftliche Entwicklung. Die Auseinandersetzungen mit der Regierung, den Behörden und den Arbeitgebern werden über die Gewerkschaft geführt, die Kooperativen dienen der Stärkung der wirtschaftlichen Position der Mitglieder und schaffen alternative Einkommensmöglichkeiten. In ganz Indien sind ca. 950.000 Frauen Mitglieder in der SEWA-Gewerkschaft, viele von ihnen sind darüber hinaus Mitglied in Kooperativen oder Basisgruppen. Ca. 2/3 der Mitglieder wohnen in ländlichen Gebieten, die übrigen in Städten.
Es ist das Selbstverständnis der Bewegung, dass es nicht allein genügt höhere Löhne zu erkämpfen, um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen. Wesentlich für die Frauen um ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern sind vor allem der Erwerb neuer Fähigkeiten, der Zugang zu finanziellen Ressourcen und der Aufbau von sozialer Sicherung.
Aus diesen Bedürfnissen haben sich die verschiedenen Einrichtungen der Bewegung entwickelt: die SEWA-Bank ermöglicht Frauen ein Konto zu führen und Kleinkredite zu günstigen Konditionen aufzunehmen, die Versicherungskooperative bietet günstige Versicherungen, andere Kooperativen stellen Kindertagesstätten zur Verfügung und eine Gesundheitskooperative leistet ambulante Krankenhilfe.
Die Mehrheit der Frauen aus den Städten wohnt in Slums, oft ohne Strom, Wasser und Kanalisation. Die SEWA Stiftung für Wohnraum unterstützt die Frauen dabei, die schwerwiegendsten Mängel ihrer jeweiligen Wohnsituation zu beheben.
Als Bildungseinrichtung ermöglicht die SEWA-Akademie den Frauen sich neue, produktive Fertigkeiten anzueignen.
Aufbauende Arbeit
Auch wenn die Eigenständigkeit der Mitglieder im Mittelpunkt der Arbeit steht, ist es das allgemeine Verständnis, dass die individuelle Eigenständigkeit in den gemeinschaftlichen Anstrengungen um mehr Freiheiten wurzelt.
Dazu gehört die Organisationsarbeit in den Kooperativen, die Treffen der lokalen SEWA-Gruppen und die aktive Beteiligung an politischen Auseinandersetzungen, z.B. um Arbeitszeitbeschränkungen, gegen Polizeiwillkür oder für höhere Mindestlöhne…
Über diese Aktivitäten hinaus, die dem Erreichen der Ziele der Bewegung dienen, übernehmen die Frauen gesellschaftliche Verantwortung in Notlagen. Immer wieder haben sie bei Naturkatastrophen solidarisch der notleidenden Bevölkerung Hilfe geleistet.
Und nach schweren Unruhen zwischen Moslems und Hindus mit Tausenden Toten in Gujarat, haben sie Friedenszentren ins Leben gerufen, in denen Moslem- und Hindufrauen gemeinsam an der Überwindung der tiefen Spaltung wirken. In der Bewegung sind Frauen aller Konfessionen vertreten und sie widersetzen sich aktiv den gesellschaftlichen Tendenzen eines militanten Hindunationalismus.
Die Mittel mit denen SEWA für die Ziele der Bewegung kämpft, sind gewaltlos und stehen in der gandhianischen Tradition gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Zentral ist der Aspekt der „Constructive Work“, d.h. die eigenen praktische, aufbauende Arbeit. Die Kampagnen von SEWA stellen daher auch nicht nur wirtschafts- oder sozialpolitische Forderungen. Sie organisieren die betroffenen Frauen auch um eigenständige, erste Schritte zur Umsetzung der angestrebten Ziele zu unternehmen.
Die männlich dominierte Gesellschaft regiert darauf häufig mit Repressionen, individuell gegen einzelne Frauen und, wie in 2005, von staatlicher Seite, als die Landesregierung von Gujarat eine aggressive Kampagne initiierte um die Glaubwürdigkeit der Organisation zu untergraben.
In Indien wird seit Anfang der 90er Jahre mit zunehmender Intensität das westliche, kapitalistische Wirtschaftmodell eingeführt. Es ist aber deutlich, dass es seine Versprechen vom allgemeinen Wohlstand nicht erfüllen wird. Vielmehr zeigt sich, dass dieses Wirtschaftssystem Armut schafft, da es auf Armut aufbaut.
Die Kämpfe von Ekta Parishad und SEWA gegen diese globale Unterdrückungsstruktur, zeigen deutlich Alternativen auf.
Sie entspringen den Bedürfnissen der Menschen, wie ökonomische Sicherheit, gegenseitige Anerkennung und friedliches Zusammenleben, die im Kapitalismus unterdrückt werden.
Anmerkungen
Der Artikel beruht auf den Erfahrungen und Informationen, die wir auf einer zweimonatigen Reise durch Indien gewonnen haben. In dieser Zeit haben wir SEWA und Ekta Parishad besucht.
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