Kalteis, der zweite Roman von Andrea Maria Schenkel hat unmittelbar nach seinem Erscheinen im September 2007 den ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste erklettert und ihren verfilmten Debutroman Tannöd auf Platz 2 verdrängt. Kalteis wurde zudem auf Platz 1 der KrimiWelt-Bestenliste gewählt. Über 600.000 Exemplare von Tannöd und Kalteis wurden bis zur Drucklegung dieser Graswurzelrevolution bereits verkauft. Ein großer und verdienter Erfolg für den libertären Verlag Edition Nautilus (GWR-Red.).
Kalteis ist ein verstörendes Dokument menschlicher, präziser: männlicher Bestialität. Die wiederum auf einem wahren Fall beruhende Geschichte des Massen“lust“mörders Kalteis aus den 1930er Jahren und die in ihr erzählten Geschichten seiner Opfer sind eher ein Sozialroman als ein Krimi. Der Roman hat mich, seiner Grausamkeit wegen, an ein IndianerInnenmassaker erinnert, bei dem ein ganzes Dorf samt Frauen und Kindern niedergemacht wurde und die „siegreich“ paradierenden Kavalleristen der US-Army teilweise die herausgeschnittene Scham ihrer vergewaltigten und massakrierten Opfer als Trophäen an den Hüten getragen haben sollen.
Bei Kalteis hingegen handelt es sich um einen Einzeltäter, einen psychopathischen Einzelgänger, der im Raum München seiner kranken Geilheit freien Lauf lässt und sich bedenkenlos schnappt, die er kriegen kann.
Die rücksichtslose Dreistigkeit des Mordkopulierers schockiert.
Mitten in der anscheinend friedlichen Gesellschaft mit ihrer allzu normalen Nazialltäglichkeit, die hie und da durchhuscht wie ein Gespenst aus einem Alb, etwa bei der Erwähnung Dachaus hinter der vorgehaltenen Hand, ist da einer außer Kontrolle der total(itären) Kontrollwütigen.
Dass gleichzeitig ein mörderischer Psychopath aus der „Hauptstadt der Bewegung“ der umjubelte „Führer“ der sogenannten Nation ist, dringt offenbar kaum in den Alltag der kleinen Leute durch.
Naive Mädel vom Lande, die in der großen Stadt ihr Glück suchen, Arbeiterinnen, ein zufällig auf dem Heimweg angefallenes Kind, bodenständige und wehrhafte Bayerinnen, der Lustschlächter greift sich, was er braucht (an einer Stelle sagt er: „Ich brauch was.“
Gerade am Widerstand der Opfer geilt er sich auf. Der wird notfalls mit dem Revolver gebrochen und dann in und über den armen Kadaver ejakuliert.
Schüsse sind in der Zeit ja fast normal und man überhört sie besser. Blutverschmiert radelt der Täter nach Hause und wird wieder nicht gesehen.
Die Frauenleichen werden von ihm aufwändig beiseite geschafft, teils zerlegt. Das kann er: das Sau stechen hat er gelernt. Das hat er immer gern gemacht.
Von Beginn an ist klar, der Roman folgt der blutigen Spur des Mörders und erzählt feinsinnig die Geschichten der Opfer, von denen man vergeblich hofft, dass sie keine Opfer werden.
Und Kalteis erzählt seine Version der Geschichte im Verhör.
Beherzte Frauen bringen den Kerl nach einer Vergewaltigung zur Strecke – nicht wissend wen sie vor sich haben. In der Vernehmung schiebt der Täter immer wieder seine Vaterschaft, seine angeblich intakte Familie vor, die er längst zerstört hat, weil er keine Verantwortung dafür haben will, nicht mal finanzielle. Es scheint ihm einfacher sich „was“ zu holen: abspritzen, abmurksen und fertig. „… ein aufrechter Deutscher“ sei er (ebenso wie später all die „anständigen“ und „aufrechten Deutschen“ die nach „der Niederlage“ von „nichts gewusst haben“ und eben daher für nichts Verantwortung übernehmen wollten). Alles sei ein tragischer Fehltritt unter Alkohol, winselt er. Doch hinter der Maske des biederen zweiunddreißigjährigen Bahners steckt ein als perverses Monster erscheinender Mann, der ohne große Gewissensbisse rauschhaft zuschlägt. Frauen sind für ihn kaum mehr als zu schlachtende Schweine.
Die Frage wie diese Psyche sich so entwickeln konnte, bleibt nahezu unbeantwortet und wühlt daher weiter – wie so manches aus dieser Zeit.
Jack the Ripper nimmt sich gegen den Stadt- und Landkiller Kalteis aus wie der freundliche, mackenhafte Onkel von nebenan. Denn nicht das neblige, düstere London ist die Kulisse des grausamen Stücks, sondern die bierbehäbige, weißblauhimmelige und naturgrüne Landschaft Bayerns, in der solche Exzesse unmöglich scheinen. „Kalteis“ wirkt verstörend.
Die anscheinend folkloristische Idylle der Biergartenmetropole und ihrer Umgebung hängt auf den letzten Seiten des Romans wie ein zerfetztes Tourismusplakat von der Wand, auf dem noch Stücke von Menschen zu sehen sind.
Andrea Maria Schenkel: Kalteis, Roman, Edition Nautilus, Hamburg 2007, 160 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 978-3-89401-549-7