Am 30. Januar 1948, vor 60 Jahren also, wurde Mohandas Karamchand Gandhi (geb. 1869) durch einen fundamentalistischen Hindu-Nationalisten ermordet. Was bleibt von Gandhis Erbe? Im anglo-amerikanischen Sprachraum hat sich über Jahrzehnte hinweg eine faszinierende und an Reflexionen reichhaltige Gandhi-Rezeption entwickelt, über die im deutschen Sprachraum noch wenig bekannt ist. Damit befasst sich beispielhaft die im Februar 2008 im Verlag Graswurzelrevolution neu erscheinende Übersetzung der Gandhi-Interpretation des indischen Sozialpsychologen Ashis Nandy: "Der Intimfeind (The Intimate Enemy). Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus."
Wir veröffentlichen hier vorab einen Ausschnitt aus der Einleitung zu diesem Buch, die über Strömungen posthumer Gandhi-Rezeption berichtet, das Werk Ashis Nandys in den Kontext einer libertären Gandhi-Rezeption stellt und es vor dem Hintergrund weiterer aktueller Strömungen der Gandhi-Interpretation diskutiert. (Red.)
Den Begriff „Anarchie“ benutzte Gandhi in unterschiedlichen Zusammenhängen und in zeitlich verschiedendem Kontext auf dreifache Weise:
Erstens in einem positiven, anarchistischen Sinne als ferne, aber entscheidende Zielvorstellung sozialer und freier Gesellschaftsordnung. Wenn das Mittel, die gewaltfreie Aktion, für Gandhi große Bedeutung hatte, war das damit angestrebte Ziel von nicht minder großer Bedeutung: „Politische Macht kann meiner Ansicht nach nicht unser letztes Ziel sein. (…) Wenn das nationale Leben so perfekt wird, dass es sich selbst reguliert, ist keine Repräsentation mehr notwendig. Es gibt dann den Zustand der erleuchteten Anarchie. In diesem Zustand regiert sich jedes Individuum selbst.“ (1)
Interessant ist hierbei, dass „enlightened anarchy“ durchaus in zweifachem Sinne übersetzt werden könnte, als „erleuchtete“, aber auch als „aufgeklärte“ Anarchie.
Zweitens verwendete er den Begriff in negativem Sinne als denunziatorische Beschreibung der katastrophalen Lage, in welche der britische Kolonialismus Indien am Vorabend der „Quit-India“-Kampagne 1942 gebracht habe. Es drohte ein japanischer militärischer Angriff von Burma aus, doch Gandhi konnte die indischen Massen nicht zu gewaltfreier Verteidigung gegen Japan mobilisieren, weil Großbritannien keine Gegenleistung erbringen oder irgendwelche Zusagen für die indische Unabhängigkeit nach dem Krieg machen wollte. Diesen Zustand bezeichnete Gandhi als „verordnete Anarchie“, das heißt als institutionell organisiertes und gesetzeskonformes Chaos.
Dem zog er im selben Zusammenhang drittens die ebenfalls negativ verstandene „reale Anarchie“ vor: das unorganisierte, gesetzlose Chaos, zu dem eine gewaltfreie Revolte führen konnte, die das Ausufern in Gewalt riskierte. Damit war Gandhi 1942 konfrontiert. Anders als zuvor hatte er den Massenwiderstand nicht nach einzelnen gewalttätigen Vorfällen abgebrochen.
Ashis Nandy knüpft in seiner libertären Gandhi-Interpretation überraschend eher an diese dritte Variante an, wendet sie positiv und betont den individualistischen, unstrukturierten und nicht-organisierten Charakter von Gandhis Anarchie-Vorstellung. Im Rahmen eines Essays über Gandhis Kulturkritik am Westen, From Outside the Imperium, der an sein Buch The Intimate Enemy anknüpft, spricht Ashis Nandy von Gandhis „anarchischem Individualismus, der das persönliche Seelenheil, den in die Einsamkeit führenden Widerstand und die moralische Macht des individuellen satyagrahi betonte“ (2), und stellt dem den Typus des „possessiven Individualismus“ als Ideal der spätkapitalistischen modernen Massen- und Konsumgesellschaft gegenüber.
In The Intimate Enemy beschreibt Nandy u.a. die organisierte Gewalt, die er als kennzeichnend für den Kolonialismus und die moderne Gesellschaft ansieht. Gegen Versuche patriarchaler und militaristischer Anti-KolonialistInnen, die koloniale Gewalt durch die organisatorische Zwangsvereinheitlichung des Hinduismus zu einer Art monotheistischen Gegen-Christentums zu bekämpfen, habe Gandhi den hybriden, verwirrenden, „anarchischen“ Charakter des Hinduismus gewahrt und dabei zugleich Dominanz und Hierarchie der obersten Kasten, der Priester- und der Kriegerkaste, unterminiert. Gandhi, so Nandy, habe die „Überorganisierung der modernen Welt“ aus Sicht und mit Hilfe der „unter-sozialisierten Aspekte des menschlichen sozialen Bewusstseins“ kritisiert. Das dürfe nicht übersehen, wer Gandhi nur als effizienten politischen Organisator wahrnehme. Gandhi sei es gelungen, „die ‚Unorganisierbaren'“, die breite Masse der auf dem Land lebenden und von der Tradition des volkstümlichen Hinduismus beeinflussten indischen Bevölkerung, für seine Themen zu mobilisieren. (3)
An dieser überraschenden Betonung des Hybriden, Schillernden, Spontanen und Unorganisierten an Gandhis Strategie ist bereits ablesbar, dass sich sowohl Gandhis Schriften wie auch seine praktischen Aktionen und Experimente gegen schematische Interpretationen und wissenschaftlich-objektive Reduktionen sperren. Ashis Nandy:
„Gandhi war nicht ein einzelner Kritiker des modernen Westens; er repräsentierte eine ganze Klasse von KritikerInnen der modernen Zivilisation. Und wie viele andere aus dieser Klasse kann er in mehr als einer Richtung interpretiert oder neu interpretiert werden. Einen abschließenden Gandhi aus seinem Leben und Werk herzuleiten, wäre zugleich anti-gandhianisch und selbstzerstörerisch.“ (4)
Der indigene Gandhi
Die neuen sozialen und ökologischen Bewegungen Indiens entstanden in den 1980er Jahren aus der gegen die industrielle Abholzung des Himalaya gerichteten Chipko-Bewegung, der basisorientierten Gesundheits-Bewegung nach dem Chemieunfall von Bhopal 1984, der Tausende von Opfern gekostet hatte, und aus den Bewegungen gegen groß angelegte Staudammprojekte – am bekanntesten wurde die Bewegung zum Schutz der AnwohnerInnen entlang des Flusses Narmada. Jetzt wandten verschiedene Basisbewegungen selbstverständlich gewaltfreie Widerstandsformen an, weil sie in der indischen Tradition verwurzelt und für ihren Kampf nützlich waren, aber nicht mehr im organisatorischen Rahmen der gandhianischen Nachfolge-Organisationen, wenngleich auch einzelne AktivistInnen aus dieser Tradition stammten und die sozialen Bewegungen initiierten oder unterstützten (Vandana Shiva, Medha Patkar, Sunderlal Bahuguna, Uma Gadekar u.a.). Die Gandhi-Rezeption wurde dadurch differenzierter und vielfältiger.
Gleichzeitig wandten sich indische Intellektuelle erstmals mit einer Welle von Publikationen Gandhi zu, der als politischer Denker und sogar als Theoretiker ernst genommen wurde. Es entstanden Verbindungen zu den sozialen Bewegungen wie das 1980 von Rajni Kothari gegründete Lokayan-Netzwerk („Dialog unter der Bevölkerung“), das AktivistInnen und Intellektuelle in einen Austausch bringen wollte.
In diese Aufbruchstimmung sind Claude Alvarez und Ashis Nandy einzuordnen, deren basisorientierte, radikale Gandhi-Interpretation gegen die westlich-kapitalistische Industriezivilisation gerichtet war.
Sie forderten gleichzeitig eine kritische Wiederaneignung indigener Traditionen, aber nicht etwa als Separatismus oder Nationalismus, sondern sie suchten nach Wegen, sich mit dem „anderen Westen“, der westlichen ökologischen, feministischen, Anti-Atom- und Friedensbewegung zu solidarisieren. Inhaltlich ergaben sich Gemeinsamkeiten mit einem minoritären, radikalen Teil dieser sozialen Bewegungen, der die dominanten und institutionalisierten Lösungen ablehnte und die Kritik der Wachstumsgesellschaft oder des militärisch-industriellen Komplexes vorantrieb. Im Bereich der „Entwicklungszusammenarbeit“ wurde der Begriff „Entwicklung“ abgelehnt und in der Projektarbeit die Finanzierung durch westliche Geldgeber-Organisationen zurückgewiesen. Der französische Gandhi-Forscher Claude Markovits nennt diese Strömung von bewegungsorientierten Intellektuellen „Indigenists“ – weil sie auf eine Aufwertung unterdrückter eigenständiger, zum großen Teil auf dem volkstümlichen Hinduismus basierender Traditionen orientierten.
Ashis Nandy seinerseits beschreibt Gandhis Konzept als „kritischen Traditionalismus“, aber nicht um die Tradition mit moderner Ideologie, denen des kolonialistischen Westens, zu überwinden, sondern um alternativen, lange verdrängten indischen Traditionen zu kultureller Hegemonie zu verhelfen.
Der subalterne Gandhi
Nahezu zeitgleich entstand in den 1980er Jahren im marxistischen Lager Indiens eine kreative Neubewertung Gandhis, die mit alten Schablonen seiner Rezeption als Agent einer subjektiv nicht beabsichtigten, aber objektiv, historisch nun einmal durchgesetzten bourgeois-kapitalistischen Gesellschaft brach.
Insbesondere genauere Regionalstudien zu einzelnen Bewegungen oder Ereignissen der indischen Unabhängigkeitsbewegung führten zu der Ansicht, dass nicht etwa Gandhi, sondern Nehru es gewesen sei, der den bourgeoisen Charakter des unabhängigen Indien letztlich festgezurrt habe.
Diese Regionalstudien sind von Ranajit Guha (geb. 1922) in einer Publikationsreihe mit dem Titel „Subaltern Studies“ veröffentlicht worden, nach der sich auch diese Interpretationsrichtung nennt.
Partha Chatterjee hat in seinem diese Gandhi-Interpretation prägenden Buch Nationalist Thought and the Colonial World (5) auf die radikale Kritik der Industriezivilisation in Gandhis Hind Swaraj aus dem Jahre 1909 hingewiesen, nachdem bisherige marxistische Analysen, wenn sie denn in Ausnahmen wohlwollend waren, eher eine Evolution in Gandhis Denken herausarbeiteten, die ihm eine progressive, „zunehmend“ sozialistische Einstellung zugestehen, je älter und „reifer“ sein Denken geworden sei – durchaus in dem Sinne einer halb-evolutionären, halb-wissenschaftlichen Entwicklungsphilosophie. Gandhis Experimente mit der Wahrheit hätten mit der Zeit zu immer besseren, sozialistischen Ergebnissen geführt. Diese positive Einschätzung beruht jedoch auf einem institutionellen Sozialismusverständnis und auf vereinzelten Aussagen Gandhis kurz vor der Unabhängigkeit, in denen er etwa die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien nicht ausschloss, während die durchgängig bei Gandhi vorhandene Vision selbstverwalteter Dörfer mit Gemeineigentum an Land im indischen Marxismus nicht in gleichem Sinne als sozialistisch anerkannt wurde.
Die Subaltern Studies weisen hingegen auf diesen radikalen, allerdings gerade staatsfernen, institutionen- und fortschrittsfeindlichen Zug in Gandhis Denken hin, der erstmals in der marxistischen Tradition ernst genommen wurde.
Ashis Nandys Intimate Enemy und Partha Chatterjees Nationalist Thought and the Colonial World können beide als frühe, aus Indien kommende Meilensteine der entstehenden, inzwischen weltweit bedeutsam gewordenen Post-Colonial Studies betrachtet werden. (6)
Trotz teilweise ähnlicher Sichtweisen gibt es wesentliche Unterschiede in den Gandhi-Interpretationen von Nandy bzw. den „Indigenists“ sowie Chatterjee bzw. den „Subaltern Studies“, die sich nicht nur am Gebrauch marxistischer Begrifflichkeiten festmachen lassen. Insbesondere spürt Nandy in The Intimate Enemy den androgynen Impulsen und indigenen Resonanzen für das Gewaltlosigkeits-Konzept von Gandhi nach und kommt zu einer anti-kolonialen sozialpsychologischen Begründung des gewaltlosen Widerstands, die als hoch bedeutsam für die Überwindung des Intimfeindes, nämlich des kolonisierten Bewusstseins auch in post-kolonialen Gesellschaften angesehen wird. Chatterjee, Guha usw. sehen dagegen gerade in Gandhis Gewaltlosigkeit – hierin traditionell marxistisch argumentierend – ein Hemmnis für die Weiterentwicklung eines anti- oder post-kolonialen Bewusstseins der Befreiung. Das rührt von ihrem Untersuchungsansatz her, nach welchem die subalternen Massen in der indischen Unabhängigkeitsbewegung zwar den Aufrufen Gandhis gefolgt seien, sie aber mit eigenen Inhalten gefüllt hätten und dabei oft gewaltsam vorgegangen seien, auch wenn Gandhi zur gewaltfreien Aktion aufgerufen hätte. Dieser Interpretation liegt die alte marxistische Vorstellung zugrunde, dass gewaltfreie Aktion per se eine bourgeoise Ideologie oder eine Ideologie kleinbürgerlicher Mittelklassen sei, die den subalternen, bäuerlich-proletarischen, aber zu eigener Entscheidung fähigen Massen sozusagen gegen ihre Natur aufgedrängt würde – in diesem Fall als Ideologie Gandhis.
Im Buch Ashis Nandys wird dagegen Gandhis Gewaltfreiheit als eine eigenständige, in den bäuerlichen und vor allem androgynen Traditionen Indiens und der hybrid-toleranten Strömung des ländlichen Hinduismus als Möglichkeit vorhandene, nicht-moderne Widerstandsform beschrieben, die dann wie selbstverständlich von den subalternen Massen verstanden und angewandt wurde.
Der postmoderne Gandhi
Als jüngste Strömung der Gandhi-Rezeption sind in den neunziger Jahren und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine ganze Fülle von Publikationen erschienen (7), die Nandys Essays über Gandhi als Ausgangspunkt einer post-modernen Gandhi-Interpretation benennen, dessen indigene Basis jedoch weniger in den Mittelpunkt stellen oder sogar konträr dazu vermeintlich indische Inspirationsquellen Gandhis auf Europa zurückführen. Den zugleich originellsten wie problematischsten Ansatz dieser Strömung veröffentlichte im Jahr 2000 der US-Amerikaner Joseph S. Alter unter dem Titel Gandhi’s Body. (8) Alter „dekonstruiert“ dabei unter Zuhilfenahme von Nietzsche und Foucault, was andere Gandhi-Interpreten umgangen hatten: Gandhis Obsession für „Experimente mit der Wahrheit“ im Bereich der Sexualität, der Gesundheitspflege, des Fastens, der Diät und des yoga, die sowohl in Gandhis Autobiographie (1944) als auch in weiteren Schriften wie vor allem dem 1927 veröffentlichten Self-Restraint vs. Self-Indulgence (Selbstbeherrschung oder Genusssucht) und dem 1942 im Gefängnis geschriebenen Keys to Health (Schlüssel zur Gesundheit) über weite Strecken dominieren.
Alter meint, dass Gandhi den Kern seines Denkens nicht aus der indischen Tradition, sondern aus der europäischen Naturheilkunde des 19. Jahrhunderts gewonnen hätte, die er während seiner Studienzeit in England und dann bis zu seinem sexuellen Enthaltsamkeits-Gelübde (brahmacharya) 1906 in Südafrika rezipiert habe.
Besonders beeinflusst worden sei er dabei durch die „London Vegetarian Society“ und das Buch von Henry Salt (1851-1939), A Plea for Vegetarianism, von 1886; durch Adolf Justs (1859-1936) Heilkuren mittels Erdumschlägen; durch Sebastian Kneipps (1821-1897) Wasserkuren und Sitzbäder; und durch den französischen moralischen Nationalisten Paul Bureau (1865-1923). Sie alle vertraten eine in ihrem Milieu um die Jahrhundertwende verbreitete Sexualmoral der Enthaltsamkeit auf physiologisch-wissenschaftlicher Grundlage: Samenerguss sei zugleich Energieabfluss, habe nervöse physiologische Folgen und störe die Konzentration auf soziale oder moralische Handlungen; die Frau könne noch eher als der Mann durch ihren Menstruationszyklus Energien zurückgewinnen.
Alter betont bei dieser Rezeption die Wissenschaftsgläubigkeit Gandhis, die sich auch in seinem experimentellen Herangehen an die Naturheilkunde und an Diäten widerspiegele. Erst durch Übersetzungen europäischer Bücher sei die Naturheilkunde als ayurveda in Indien verbreitet worden, gleiches gelte auch für yoga-Übungen. In Indien sei es in den zwanziger Jahren dann lediglich zur Verbindung von yoga und Naturheilkunde gekommen.
Gandhi habe die Naturheilkunde der westlichen Medizin und der Homöopathie vorgezogen, weil sie ohne äußere ExpertInnen, ohne ÄrztInnen auskomme und es dem Individuum dadurch ermögliche, seinen Körper selbst zu kurieren und ein für das Überleben in Indien notwendiges, gesundes, minimales, aber ausreichendes Essensregime zu entwickeln, auch wenn das alles große individuelle Selbstdisziplin erfordere. Außerdem setze die Naturheilkunde stärker auf Prävention und vermeide so Krankheiten, für deren Heilung sich das Individuum auf ÄrztInnen als Reparaturinstanz verlasse, ohne selbst für die körperliche Gesundheit Sorge zu tragen.
Gandhi entwarf so eine öffentliche Gesundheitspolitik für das unabhängige Indien, in der alle Individuen sich in diesem Sinne selbst beherrschen.
Mit der Betonung auf körperliche Selbstdisziplin stellte sich für ihn aber auch die Frage nach körperlicher Ertüchtigung und ob sportliche Übungen z.B. in seinen kommunitären Gemeinschaften, den ashrams, eingeführt werden sollten.
Gandhi war zuweilen sogar an Übungen des körperlichen Drills interessiert und hat aus diesem Grund eine Anleitung zu militärischem Drill übersetzt.
Er blieb aber ambivalent, lehnte dies für seine ashrams letztlich ab und riet sogar seinem Mitstreiter Prithvi Singh, der eigens eine Ahimsak Vyayam Sangh (Nonviolent Excercise Association) gegründet hatte, um „starke und energische Körper für Gewaltfreiheit“ zu trainieren, sich auf yoga zu beschränken, was dann auch in den ashrams so praktiziert wurde. Hier wird der Ansatz Alters als eine Art Gegentendenz zu Ashis Nandy sichtbar, denn während körperlicher Drill – sogar auf Massenbasis – und Gandhi für Alter eng beieinander liegen, bildet der paramilitärische körperliche Drill der khaki-Shorts der hindu-nationalistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligen-Organisation, RSS), woraus der Gandhi-Mörder Nathuram Godse hervorging und die heute eine Vorfeldorganisation der fundamentalistischen BJP ist, für Nandy den Kern des von ihm als post-kolonial kritisierten kshatriya-Militarismus (Militarismus der Krieger-Kaste), dem er den androgynen Anti-Kolonialismus Gandhis als davon weit entfernte Alternative gegenüberstellt. Während Gandhis Gewaltfreiheit für Nandy also zentral bleibt, ist Gewaltfreiheit für Alter nur eine von vielen Folgen von Gandhis Anschauungen über den Körper – und kann leicht zweitrangig werden.
Eine mehr systematische Theorie zur post-modernen Gandhi-Interpretation haben die US-amerikanischen, in Chicago lehrenden Gandhi-ForscherInnen Lloyd I. Rudolph und Susanne Hoeber Rudolph in mehreren Essays in dem Buch Postmodern Gandhi and Other Essays (9) entworfen. Der darin enthaltene Aufsatz Postmodern Gandhi von Lloyd I. Rudolph ist für diese jüngste Gandhi-Interpretation programmatisch.
Zunächst wird Gandhis Hind Swaraj von 1909 zur quasi klassischen Schrift der post-modernen Theorie überhaupt gekürt:
„Als er 1909 Hind Swaraj schrieb, half er, die postmoderne Epoche dadurch zu begründen, dass er die ‚moderne Zivilisation‘ kritisierte und zurückwies und eine zivilisierte Alternative dazu artikulierte.“ (10)
Dann betont Rudolph, dass Gandhis Verständnis von Wahrheit, satya, elementarer Bestandteil der Aktionsform satyagraha, als die Umkehrung von „Gott ist die Wahrheit“ in „die Wahrheit ist Gott“ eine subjektive, relative und keine objektiv wissenschaftlich feststellbare, absolute Wahrheit meint.
Das Individuum kann sich durch subjektive Suche nach der Wahrheit der absoluten Wahrheit annähern, aber sie nie ganz erkennen. Die Einsicht in die absolute Wahrheit bleibt dem Sterblichen entzogen.
Gandhi habe die absolute Wahrheit mit einem Diamanten verglichen, der nie von allen Seiten betrachtet werden könne, aber dessen sichtbare Facetten relative Wahrheiten offenbarten. Diese relative Wahrheitskonzeption Gandhis wird dann mit dem für die post-moderne Theorie typischen Relativismus verknüpft.
Der Unterschied der post-modernen Gandhi-Interpretation der Rudolphs zur Interpretation von Nandy in The Intimate Enemy liegt darin, dass Nandy lieber von un-modernem und nicht-kolonisiertem Bewusstsein oder – in seinem Vorwort – von „Unschuld“ spricht. Damit meint er die meist nach hinduistischen Alltagstraditionen lebende ländliche Mehrheitsbevölkerung Indiens, die gar nicht erst durch moderne Bewusstseinsstrukturen hindurchgehen musste (wie die kolonial sozialisierte städtische Oberschicht) und deshalb von modernen Ideologien wie Säkularismus und Nationalismus nur oberflächlich oder gar nicht beeinflusst war (deshalb „un-modern“ oder „nicht-modern“ statt „post-modern“), auf die sich Gandhi in seinen anti-kolonialen Aktionen aber als Massenbasis gestützt hat und deren Traditionen religiöser Toleranz – die bis zur Anerkennung von AtheistInnen als ernsthafte Wahrheits- und damit GottsucherInnen reichte – er zu mobilisieren vermochte.
Als Abschluss dieser Interpretationsgeschichte sei noch auf die aus der post-modernen Gandhi-Interpretation hervorgegangene, vergleichende cross-cultural-Literatur hingewiesen, in der mittels Einflüsse aus anderen Kulturen Probleme und Krisen althergebrachter Kulturen neu betrachtet und sogar weiterentwickelt werden können.
Für die deutschsprachige Gandhi-Interpretation hat unlängst der Staatsrechtler Dieter Conrad in einer leider unabgeschlossen gebliebenen Untersuchung die westliche Staatskonzeption mit dem staatskritischen Politikverständnis Gandhis konfrontiert und ist zu für einen Staatsrechtler erstaunlichen Einsichten gekommen, nämlich „dass die Diskussion über Satyagraha nicht als über eine Besonderheit der indischen Dekolonisierungsgeschichte zu führen ist, sondern unter dem Aspekt einer quasi naturrechtlichen Infragestellung des Staates.“ (11)
Die Staats- und Gewaltkritik Gandhis soll der Relativierung des „Staats okzidentalen Typs“ und seines monopolisierten Gewaltrechts dienen: „Mit der prinzipiellen Anzweiflung von Gewaltform und Unilateralität von Herrschaft (durch Gandhi; d.A.) (…) ist ein systembedrohendes Element eingeführt und der Staat insgesamt zur Diskussion gestellt.“ (12) Angesichts aktueller Weltprobleme wie räumlich „übergreifende ökologische Aufgaben“, angesichts „weltweiter Mobilität und Kommunikation, d.h. eines faktisch weltbürgerlichen Solidaritätsbewusstseins“ sei, so Conrad, mit Gandhi zu fragen, ob „die rechtliche Totalauslieferung des Individuums an die jeweilige Territorialjurisdiktion noch erträglich erscheint.“ (13)
(1) Gandhi, zit. nach Buddhadeva Bhattacharyya: Evolution of the Political Philosophy of Gandhi, Kalkutta 1969, S. 360.
(2) Ashis Nandy: From Outside the Imperium: Gandhi's Cultural Critique of the West, in: Traditions, Tyranny and Utopias, siehe Anm. 1, S. 149.
(3) Ashis Nandy, ebenda, S. 154f.
(4) Ashis Nandy, ebenda, S. 129.
(5) Vgl. Partha Chatterjee: National Thought and the Colonial World: A Derivative Discourse?, Zed Books for the United Nations University, London 1986.
(6) Wikipedia zitiert zum Beispiel zu Ashis Nandy den Journalisten Phillip Darby einleitend: "He (Ashis Nandy; d.A.) is best known for his writing on colonialism but in recent years he has come to be acknowledged as one of the founding figures of postcolonial studies."
(7) Lloyd I. Rudolph listet in seinem Aufsatz Postmodern Gandhi allein rund zehn internationale Veröffentlichungen auf, die Gandhi mehr oder weniger als post-modernen Theoretiker behandeln, vgl. Lloyd I. Rudolph & Susanne Hoeber Rudolph: Postmodern Gandhi and Other Essays, Chicago University Press, Chicago/London 2006, S. 37; vgl. Bezug auf Nandys Intimate Enemy z.B. S. 16 und 32f.
(8) Joseph S. Alter: Gandhi's Body. Sex, Diet, and the Politics of Nationalism, University of Pennsylvania, Philadelphia 2000.
(9) Siehe Anm. 7.
(10) Lloyd I. Rudolph: Postmodern Gandhi, siehe Anm. 7, S. 3.
(11) Dieter Conrad: Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt, Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 173.
(12) Dieter Conrad, ebenda.
(13) Dieter Conrad, ebenda, S. 175