40 Jahre nach 1968 ist dieses Jahr des weltweiten Aufbruchs sozialer Bewegungen in aller Munde. Dass 1968 auch das Jahr war, in dem der Anarchismus eine Renaissance erlebte, wird dabei meist unterschlagen.
In den 60er Jahren beeinflussten die Befreiungs- und Unabhängigkeitskämpfe in verschiedenen Ländern und der Kampf gegen den Kolonialismus die Neue Linke und den Neoanarchismus in Westeuropa. In den USA und Europa entstanden u.a. die Anti-Vietnamkriegsbewegung, die Lehrlings-, SchülerInnen- und StudentInnenbewegungen unter Bezugnahme auf die „Frankfurter Schule“ (Adorno, Marcuse, Horkheimer u.a.), die Beatniks und den französischen Existentialismus (Sartre u.a.). Vor allem in den USA wurden die „Blumenkinder“ zur „Hippie-Bewegung“.
Die ursprünglich „unpolitischen“ Hippies wollten aus den gesellschaftlichen Zwängen aussteigen. Sie politisierten sich nicht zuletzt unter dem Eindruck starker Repressionen.
In der Bundesrepublik war dem vergleichbar die „Gammler-Bewegung“. Viele Menschen stiegen aus Schule, Lehre, Lohnarbeit, Studium, den Zwängen des Elternhauses und der Gesellschaft aus.
„Sie leben auf der Straße oder sind auf Trebe, Trampen durch ferne Länder und entwickeln neue Ziele und Träume des Zusammenlebens. Später löst sich die Bewegung wieder auf und zerfällt in Landkommune-Bewegung, den Hippietrail nach Indien, Reangepaßtheit nach einer Jugendsünde und Wiederaufnahme des abgebrochenen Studiums. Einige jedoch fangen an, sich stärker politisch zu engagieren.“ (1)
In Frankreich, Italien, Mexiko, England, Japan, in der Tschechoslowakei und Jugoslawien, in vielen Industriegesellschaften der Welt bildeten sich Protestbewegungen, die der westdeutschen verwandt waren.
Hier „verbanden sich Menschen vorwiegend bürgerlicher Herkunft zu dem Versuch, ein von altbürgerlichen Gruppen beherrschtes Regime auf außerparlamentarischem Wege aus den Angeln zu heben“ (2), stellt Norbert Elias fest. Wie er deuteten viele ZeitzeugInnen die Protestwelle 1968 als StudentInnen- und Jugendrevolte.
Sie umgreift jedoch mehr als einen vehement ausgetragenen sozialen Generationenkonflikt. 1968 markiert den Höhepunkt einer sozialen Bewegung, die sich selbst als neue linke Bewegung verstand und, so die Geschichtsprofessorin Ingrid Gilcher-Holtey, „die letzte soziale Bewegung gewesen ist, die über einen sozialistischen Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschafts-, Wirtschafts- und Herrschaftsordnung verfügte“. (3)
Gegenöffentlichkeit
Große Teile der Außerparlamentarischen Opposition (APO) versuchten 1967/68 eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, gegen den von den USA geführten und von der Bundesregierung und dem Großteil der Medien in der Bundesrepublik unterstützten Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU und die vom Springerkonzern dominierte Presse, gegen „verkrustete Institutionen“ und deren Träger, das „Establishment“, gegen überkommene Werte, Normen und Moralvorstellungen, gegen die Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit der Gesellschaft.
Dabei basierte Gegenöffentlichkeit als „GEGENbegriff und Kampfbegriff“ auf der Annahme, dass bürgerliche Öffentlichkeit zerstört sei.
„Ich denke, daß Öffentlichkeit nicht existiert, denn zur Öffentlichkeit gehören bewußte Individuen mit kritischer Einsicht, die fähig wären, die Herrschenden zu kritisieren, sie unter Kontrolle zu nehmen und wirklich Öffentlichkeit herzustellen“ (4), erörterte Rudi Dutschke, der sich 1978, in einer im April 2008 auf 3SAT dokumentierten TV-Diskussion selbst als „libertärer Sozialist“ bezeichnete.
Der Versuch, die Gesellschaft zu politisieren und die Arbeit an einem gesellschaftlichen Gegenentwurf öffentlich zu machen, verbreiterte die APO und führte zu Formen einer populistischen Öffentlichkeit mit dem Ziel der Erneuerung.
Die Bewegung definierte sich in Bezug auf die zur Disposition stehende Gesamtgesellschaft: Formen der Gegenmanipulation machten anschaulich, wie sehr sie die Funktionsweisen der bürgerlichen Organe mit umgekehrten Vorzeichen bzw. neuen Themen spiegelten.
Realisiert wurde eine zunehmende Pluralität an Teilöffentlichkeiten, die zur kommerzialisierten Information und Kommentierung durch die bürgerlichen Medien weitere und andere Informationen und Einschätzungen stellten. (5)
Aus den USA wurden Darstellungsformen wie love-in, teach in und go-in importiert; die Aktionen der Spaßguerilla bzw. der anarchoiden Kommune 1 wirkten paradigmatisch und erregten bundesweit die Gemüter.
Das Puddingattentat der Kommune I auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey wurde am 5. April 1967 von der Berliner Polizei vereitelt und von den Springer-Medien zum Mordanschlag hochstilisiert.
Radikalisierung und Renaissance des Anarchismus
Nachdem der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras auf der Demo gegen den Besuch des iranischen Diktators Schah Reza Pahlewi in Berlin erschossen wurde, kam es zu einer Radikalisierung der AktivistInnen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
Ein Jahr später fand auch anarchistische Literatur eine bis dahin nicht für möglich gehaltene Verbreitung. Zunächst als Raubdrucke und bald darauf in hoher Auflage von großen Verlagen (Rowohlt, Ullstein, Suhrkamp u.a.) wurden klassische Schriften des Anarchismus von verstorbenen AnarchistInnen wie Bakunin, Tolstoi, Kropotkin, Goldman und Proudhon publiziert. Es kam zu einer Renaissance des Anarchismus, zu einer neuen anarchistisch geprägten Bewegung. Diese neolibertäre Szene setzte sich vor allem aus StudentInnen, SchülerInnen und Lehrlingen zusammen. Sie stand in keiner Kontinuität zu den alten, oft proletarischen AnarchistInnen, die den in der Regel aus bürgerlichen Familien kommenden, jungen, oft langhaarigen und unkonventionell gekleideten „Anarchos“ überwiegend skeptisch gegenüberstanden.
„Neben dem Generationenkonflikt existierten zwischen Alt und Jung auch theoretische Differenzen. Aufgrund ihres theoretischen Herkommens aus der antiautioritären Studentenbewegung fühlten sich die jungen Anarchisten anfangs auch einem kritischen Marxismus (M.) verpflichtet. Ihre durch keinerlei historische Ressentiments getrübten Vermittlungsversuche von M. und A. mußten auf die alten Anarchisten schockierend wirken. Diese hatten den historischen Gegensatz beider Strömungen – nicht zuletzt aufgrund ihrer z. T. persönlichen Erfahrungen mit dem ‚real existierenden Sozialismus‘ in der DDR – zutiefst verinnerlicht“, erklärt Rolf Raasch im „Lexikon der Anarchie“.
Anarchistische Presse
Die neolibertäre Bewegung machte ab Februar 1968 publizistisch auf sich aufmerksam und gründete bis heute mehr als 600 verschiedene Periodika. (6) Vor allem in Berlin entstanden 1968 neoanarchistische, undogmatisch antiautoritäre Zeitschriften. Sie waren stilbildend und paradigmatisch für die nachfolgenden anarchistischen „Untergrundblätter“.
Durch eine dadaistisch inspirierte, durch Collagen, Fotos und Cartoons angereicherte Aufmachung, „Scene-Slang“, neu geschaffene Wörter und eine anglizistisch beeinflusste Sprache unterschieden sie sich deutlich sowohl von der von 1965 bis 1966 erschienenen Direkte Aktion – Zeitung für Gewaltfreiheit und Anarchismus (eine Vorläuferin der Graswurzelrevolution) als auch von neues beginnen (1969 – 1971 in Hamburg) und Zeitgeist (1971-78), den seriös wirkenden, sauber gesetzten und spärlich layouteten Zeitschriften der „Alt-AnarchistInnen“.
Linkeck
Als „erste antiautoritäre Zeitung“ (7) bezeichnete sich Linkeck, das Sprachrohr der 1967 gegründeten Kommune gleichen Namens. Mit Auflagen bis 8.000 Stück, antiklerikalen, staats- und SDS-feindlichen Collagen, Fotos, Cartoons sowie Texten u.a. von Bakunin und der Kommune Linkeck erschien das schrille Berliner Blatt ab Mai 1968 neunmal. Bundesweit bekannt wurde es u.a. aufgrund von Bild-Hetzartikeln gegen das „linke Terrorblatt“.
Vier Linkeck-Redakteure wurden wegen „Beleidigung“ und „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ verurteilt. Wegen Arbeitsüberlastung, juristischer Probleme und interner Konflikte zerbrach 1969 die Kommune, und ihr Blatt wurde eingestellt.
Als „Ableger“ von Linkeck erschien bis 1969 Charly Kaputt. Hervorgegangen aus Linkeck ist 1970 der heute noch von Karin und Bernd Kramer geleitete, anarchistische Karin Kramer Verlag.
agit 883
Ähnlich aufgemacht kam ab Februar 1968 alle 10 bis 14 Tage die agit 883 mit Auflagen bis 7.000 Stück heraus.
Dieser von Peter Paul Zahl u.a. Neolibertären gegründete Informationsdienst der Berliner Linken fungierte als „Flugschrift für Agitation und soziale Praxis“ (Untertitel) und beschäftigte sich mit aktuellen Ereignissen: Am 16. März 1968 wurden 500 BewohnerInnen des Dorfes My Lai (Südvietnam) von einer Einheit der US-Armee getötet. Nach diesem Massaker legten u.a. Andreas Baader, Thorwald Proll und Gudrun Ensslin am 3. April 1968 zwei Brandsätze in ein Frankfurter Kaufhaus, um „gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu protestieren“.
Kurz darauf wurden sie verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
Nach dem Attentat eines Bild-Lesers auf Rudi Dutschke kam es im April 1968 zu den bis dahin größten und militantesten Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und DemonstrantInnen, die versuchten, die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern.
Nach der Befreiung von Andreas Baader durch eine Gruppe um u.a. Ulrike Meinhof entstanden Guerillagruppen, die sich u.a. am „Konzept Stadtguerilla“ der Tupamaros aus Uruguay orientierten. An der Praxis der bewaffneten Gruppen (der 1970 gegründeten Roten Armee Fraktion, später auch der 1972 gegründeten Bewegung 2. Juni, der 1973 gegründeten Revolutionären Zellen und der 1977 erstmals als eigenständige militante Frauengruppe in Erscheinung tretenden Roten Zora) entzündeten sich Diskussionen in vielen linksradikalen Gruppen und Zeitschriften.
Die Geschehnisse der Jahre 1968 bis 1972 prägten die agit 883. Im Mai 1970 erschien dort die erste öffentliche Erklärung der RAF unter der Überschrift „Die Rote Armee aufbauen“. Zu diesem Zeitpunkt war die agit 883 ein weitgehend unzensiertes Diskussionsorgan vor allem militanter linksradikaler Gruppen wie Tupamaros West-Berlin, Umherschweifende Haschrebellen, Schwarze Ratten und Schwarze Front, die teilweise aus dem subproletarischen Milieu kamen. Sie bezogen sich eher auf anarchistische und linkskommunistische TheoretikerInnen. Den avantgardistischen Anspruch und „autoritären Dogmatismus“ der „Leninisten mit Knarre“ (agit 883 über die RAF) lehnten sie ab. Mit der RAF teilten sie aber das internationalistische Grundverständnis und sahen „den strategischen Einsatz von Gewalt als notwendiges Kampfmittel gegen den Staat und den US-Imperialismus“ an. (8)
Das agit 883-Redaktionskollektiv musste im Rahmen der Fahndung nach Baader, Meinhof u.a. zeitweise jeden zweiten Tag Besuche von Staatschutzbeamten über sich ergehen lassen und wies im Juli 1970 darauf hin, fünfmal beschlagnahmt oder verboten worden zu sein:
„Warum wird die 883 beschlagnahmt? Warum soll die 883 verboten werden? Weil die Konterrevolution begriffen hat, daß die 883 nicht nur von Studenten gelesen wird. (…) Je besser die 883 wird, je mehr, das was auf dem Papier steht, Tat wird, umso mehr werden sie versuchen, uns zu illegalisieren.“ (9)
Nach 88 Nummern und mehreren redaktionsinternen Konflikten stellte agit 883 am 16. Februar 1972 ihr Erscheinen ein. Das aus bis zu vierzig Aktiven bestehende Kollektiv hatte sich bereits 1971 bezüglich der Beurteilung der RAF gespalten. 1995 beschrieb Ronald Fritzsch, Ex-FIZZ-Redakteur und Mitbegründer der Bewegung 2. Juni, die Auseinandersetzungen:
„Es gab mit der 883 den Konflikt, da die Militanten dort auf einen Schlag weg waren, weil illegal, daß dort der reformistische Flügel dominierte. Daraufhin sind die restlichen Radikalen rausgegangen.“
FIZZ
Ehemalige agit 883-Redakteure, u.a. Knofo und Peter Paul Zahl, verließen nach diesem Richtungsstreit das Kollektiv (10) und gründeten 1971 in Berlin die militante Untergrundzeitschrift FIZZ. Knofo äußerte sich rückblickend:
„Wieso FIZZ? Ganz einfach: das Geräusch, wenn Du eine Lunte anzündest. Westberlin 50 Pfg., Westgermanien 60 Pfg., Ostgermanien 2 Jahre Bautzen. (…) Warum FIZZ? Auch ganz einfach: Die gute alte agit 883 (…) hatte abgewirtschaftet. Natürlich ganz anarchistisch und solidarisch, aber gegen das letzte Gespenst gerichtet, (…) den bewaffneten Kampf, den Widerstand, die Guerilla.“ (11)
Die FIZZ solidarisierte sich – im Gegensatz zur zeitgleich herausgekommenen agit 883 – mit der RAF, propagierte den Aufbau einer Stadtguerilla und veröffentlichte anarchistische Texte, Poster u.a. von Michail Bakunin, Ulrike Meinhof und Andreas Baader, „Strassenwerkertips vom Zentralrat der (laut B.Z.) ‚steinewerfenden, zündelnden und plündernden Anarcho-Syndikalisten'“, Bauanleitungen für Molotowcocktails, antiklerikale Comics u.v.a. FIZZ erschien ein Jahr lang, neun der zehn herausgekommenen Ausgaben wurden beschlagnahmt und verboten.
„Wer das Wesen des Imperialismus begriffen hat, kommt an der Pflicht zum Handeln nicht vorbei. Die Ersten, die aus dieser Erkenntnis die praktische Konsequenz zogen, waren hierzulande die GenossInnen der RAF (…). Und da das Verhältnis zwischen Anarchisten und Kommunisten nie ganz spannungsfrei war, ließ das libertäre Pendant zur RAF nicht lange auf sich warten: aus dem Blues entstand die Bewegung 2. Juni. Die meisten von denen, die bis dahin die FIZZ getragen hatten, trugen fortan die Knarre“, so Knofo.
FIZZ-Nachfolger waren der Berliner Anzünder (1972), Hundert Blumen (1972-73) und Bambule (1972-74).
„Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“ (Ton Steine Scherben)
Der große Zulauf zur APO 1967/68 und die Massendemos hatten hohe Erwartungen geweckt und unter den Beteiligten eine Euphorie erzeugt. Die Geschehnisse hatten langandauernde Konsequenzen für das Verhältnis der älteren zu den jüngeren Generationen, vor allem an den Unis. Bereits Ende der 60er Jahre zeichnete sich aber das Scheitern der APO ab in Bezug auf die großen Hoffnungen.
„Der Traum von der Verwirklichung ihrer Ideale, von der Emanzipation der Unterdrückten in der Republik, besonders auch der jüngeren Generationen, die an diesem Kampf teilnahmen, schien sich der Erfüllung zu nähern. Und dann, unversehens, brach dieser Traum zusammen. Der Euphorie folgte die Depression und die Verhärtung des Kampfes“, reflektiert Norbert Elias in den „Studien über die Deutschen“.
Bedingt durch die Auflösung des SDS und die Spaltung der APO in Antiautoritäre, Traditionalisten und die Neue Frauenbewegung entstanden in den frühen 70er Jahren diverse K-Gruppen und Parteiinitiativen.
„Die K-Gruppen fungierten als organisatorische und ideologische Zentren der marxistisch-leninistischen Bewegung (‚ML-Bewegung‘), einer Massenbewegung, die in den 70er Jahren bis zu 100.000 AktivistInnen umfaßte und innerhalb der Neuen Linken hegemonial war.“ (12)
Kommunistische Zeitungen wie Roter Morgen, Rote Fahne, Kommunistische Volkszeitung und Arbeiterkampf forderten die „Liquidation der antiautoritären Phase“ und erreichten Auflagen bis zu 50.000 Stück, weit mehr als die libertär orientierten Medien.
MAD
Im September 1971 veröffentlichte die Hamburger Föderation Neue Linke (FNL) die erste Ausgabe der MAD als „Materialien, Analysen, Dokumente“ (Untertitel). Nach Auflösung der sich selbst als „Föderation autonomer, anarchistischer Stadtteil- und Basisgruppen“ (13) verstehenden FNL erschien MAD als „Anarchistische Hefte“ (Untertitel). Veröffentlicht wurden hier u.a. anarchistische Agitationsschriften, Texte der SituationistInnen und Beiträge über Strategien und Taktiken des Betriebskampfes.
„Es war wichtig darzustellen, daß Poesie und Revolution zusammengehören und (…) die Ursprünge des neueren Anarchismus, den Dadaismus und den Surrealismus, mit einzubeziehen. (…) In den 70er Jahren fand (…) ein Angriff des Staates auf den Verlag statt. Die Flugschrift Ratgeb, die zur Sabotage im Betrieb aufrief, wurde beschlagnahmt. Zensurverfügungen nach § 88a (…) angedroht und durchgesetzt.“ (14)
Die Redakteure Lutz Schulenburg (siehe sein Artikel in dieser GWR), Pierre Gallissaires und M. K. Markunin veröffentlichten parallel die MAD-Falttexte zum „Pariser Mai“, „Knast“ u.a. sowie das MAD Zirkular, ein Mitteilungsblatt des MAD-Verlags. Nachdem die „Satirezeitschrift“ MAD gerichtlich gegen das anarchistische Projekt gleichen Namens vorgegangen war, wurde nach Erscheinen von Heft Nr. 4/5 die anarchistische MAD 1973 eingestellt und erschien fortan als Revolte, bis Nr. 6/1973 untertitelt als „Anarchistische Zeitschrift. Vormals MAD-Anarchistische Hefte“. Von 1977 bis 1982 erschien die von Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg gemachte Revolte in ihrer Edition Nautilus. Seit 1981 erscheint dort DIE AKTION, als libertäre „Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst“.
Graswurzelrevolution
Im Sommer 1972 erschien die Nullnummer der Graswurzelrevolution (GWR). Wolfgang Hertle hatte sie gemeinsam mit anderen gewaltfrei-libertären SozialistInnen gegründet.
In Konzept und Ausrichtung wurden sie inspiriert u.a. durch die in den 60er Jahren im frankophonen Sprachraum verbreitete gewaltfrei-anarchistische Anarchisme et Nonviolence (Lausanne), durch die seit 1936 in London erscheinende Peace News und durch die 1965/66 in Hannover erschienene Direkte Aktion. Das erste GWR-Redaktionskollektiv orientierte sich an Bewegungen in anderen Ländern, z.B. in Großbritannien und den USA. Gandhis Instrumentarium hatte im Kampf gegen die Atombombe und für die BürgerInnenrechte eine Weiterentwicklung erfahren, „the grasroots movement“ war bereits stärker ausgeprägt.
Von Anfang an bemühte sich die GWR, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln. Dabei wurde und wird versucht, neben der Kritik an den bestehenden Verhältnissen, sich „heute zumindest schon in Ansätzen so zu organisieren, wie später die Gesellschaft insgesamt sein soll“. (15)
Ein erklärtes Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen Gewaltfreiheit und freiheitlichem Sozialismus aufzuzeigen und dazu beizutragen, „dass die pazifistische Bewegung libertär sozialistisch und die linkssozialistische Bewegung in ihren Kampfformen gewaltfrei“ werde.
Seit der GWR Nr. 53/1981 erscheint das anfangs alle zwei bis drei Monate herausgebrachte Periodikum monatlich mit einer Sommerpause im Juli/August und seit 1989 mit einer achtseitigen Beilage „Libertäre Buchseiten“ im Oktober. Produziert wurde es von wechselnden Redaktionen in Augsburg (1972-73), Berlin (1974-76), Göttingen (1976-78), Hamburg (1978-88), Heidelberg (1988-92), Wustrow (1992-95), Oldenburg (1995-99) und Münster (seit Anfang 1999). Dabei prägten die wechselnden Redaktionskollektive jeweils einen eigenen Stil. Die 2008 im 37. Jahrgang und monatlich mit Auflagen zwischen 3.500 und 5.000 erscheinende GWR ist die langlebigste und auflagenstärkste anarchistische Zeitung im deutschsprachigen Raum.
Libertäre Stattzeitungen
Die 70er Jahre waren geprägt durch einen Gründungsboom alternativer Projekte und oft libertär ausgerichteter Stadt- und Stattzeitschriften. Die alternativen Blätter, Buchläden, Cafes, Kneipen, Druckkollektive u.a. begriffen sich anfangs als notwendige Unterstützung im politischen Tageskampf. Sie waren mit einer „sozialutopischen Stoßrichtung“ verknüpft und sollten praktische Beispiele für eine Vorwegnahme (libertär-)sozialistischer Strukturen im Kapitalismus sein.
In der Praxis ging es darum, eine gelebte Alternative zu den herrschenden kapitalistischen Verkehrsformen darzustellen, was zugleich einen propagandistischen Effekt zeitigen sollte.
Der Beginn der Alternativbewegung ist nicht zu trennen von den autonomistischen Impulsen des Widerstands und der Ablehnung der kapitalistischen Lohnarbeit, die im Alltag sichtbar demonstriert werden sollte. (16)
Das zweiwöchentlich herausgekommene Blatt erschien von 1973 bis 1985 mit Auflagen bis zu 24.000 Stück als „Stadtzeitung für München“. Es wurde u.a. aufgrund häufiger Beschlagnahmeaktionen, negativer Artikel in der Bild-Zeitung (17), positiver Berichte z.B. in der Satirezeitung pardon, sowie der Comics des Blatt-Cartoonisten Gerhard Seyfried bundesweit bekannt (siehe Interview in GWR 322). Jede Nummer wurde durch eine „halböffentliche“ Redaktionskonferenz vom Blatt-Kollektiv, den freien MitarbeiterInnen und ArtikelschreiberInnen vorbereitet.
„Es gibt kein Statut, kein Programm und keine starre Linie. Probleme werden ad hoc geklärt oder auch nicht. Kriterien zur Artikelauswahl? Da gibt es schon einige Punkte, an die wir uns aber nicht dogmatisch klammern; zum Beispiel: Initiativen zu unterstützen, die nicht von Parteien und Geldgebern getragen werden, sondern in Selbstorganisation entstehen; andere Ansätze als die bestehenden aufzuzeigen und über alternative Lebensformen aus allen Bereichen zu berichten; Meinungen von gesellschaftlichen Randgruppen möglichst authentisch in Form von Selbstdarstellungen und Dokumenten wiederzugeben, ohne sie nach eigener Fasson aufzumotzen oder einzufärben; Stellung zu beziehen zu Themen, die von Massenmedien für nicht so wichtig erachtet, unterdrückt oder verzerrt wiedergegeben werden. Wir wollen zeigen, daß es ohne Druck und Maßnahmen von oben möglich ist, sich zu organisieren.“ (18)
Elf Jahre erschien das Blatt und zahlte seinen MitarbeiterInnen einen kollektiven Einheitslohn, bis es 1984 aufgrund der hohen Schulden und eines drastischen Rückgangs der AnzeigenkundInnen und AbonnentInnen eingestellt wurde.
Das Blatt hatte eine Vorreiterfunktion, in vielen Städten entstanden ab 1973 ähnliche Stadtblätter, die sich in Stil und Aufmachung am Münchner Vorbild orientierten und als Sprachrohre der in den 70er und frühen 80er Jahren wachsenden Alternativszene fungierten.
Die Gruppen aus den neuen sozialen Bewegungen nutzten die Stadtzeitschriften zur Diskussion. Die alternativen Stadtblätter wurden zudem wegen ihres Kleinanzeigenteils mit WG-Zimmervermittlung und alternativem Kleingewerbe gelesen.
Vor dem Deutschen Herbst 1977 war die außerparlamentarische Linke in der Bundesrepublik relativ stark. In den Unistädten entstanden aus den antiautoritären Resten der StudentInnenbewegung die Spontis. Sie hatten antiinstitutionelle, basisdemokratische, anarchistische und autonomistische Vorstellungen und beteiligten sich an Hausbesetzungen, Fahrpreiskämpfen und Stadtteilarbeit.
Eines der bekanntesten Spontiblätter war der 1976 von Daniel Cohn-Bendit gegründete Pflasterstrand. Er wandelte sich im Laufe der Jahre von einer alternativen, spontaneistisch-militanten „Stadtzeitung für Frankfurt“ (Untertitel) zum kommerziellen „Zeitgeistmagazin“ und Sprachrohr der grünen „Realos“.
Der wegen seiner Beteiligung an den Auseinandersetzungen im Pariser Mai 1968 aus Frankreich ausgewiesene deutsch-französische Agitator Cohn-Bendit hatte 1968 die Errichtung einer Gesellschaft propagiert, „die weder Regierung noch Armee, noch Religion kennt; die die Gesetzgebung durch das Volk, die Überführung des Bodens in Kollektiveigentum, die Abschaffung der individuellen Vererbbarkeit von Kapital und Produktionsmitteln, die Abschaffung der Ehe als politischer, religiöser und juristischer Institution beschließt; eine Gesellschaft schließlich, die die stehenden Heere abschafft und, indem sie alle Grenzen niederreißt und die Idee des Vaterlandes aus der Welt schafft, die Arbeiter der ganzen Welt in echter Solidarität miteinander verbindet“. (19)
Das Hochglanzmagazin des heutigen Kriegsbefürworters musste 1985 aus finanziellen Gründen eingestellt werden.
Andere Zeitschriften blieben ihren Ansprüchen treu, z.B. die 1976 gegründete, heute nur noch unregelmäßig als Untergrundblatt der autonomen Szene erscheinende radikal und die direkte aktion, das 1977 gegründete und heute noch zweimonatlich erscheinende, Sprachrohr des Anarchosyndikalismus in Deutschland.
In den 70er und frühen 80er Jahren gab es nur wenige explizit anarchistische Gruppen. (20)
Ohne dass diese bewusst als „anarchistisch“ wahrgenommen wurden, prägten libertäre Ideen aber die Strukturen, die Praxis und die Theorieansätze der neuen sozialen Bewegungen und der Alternativkultur. Der Einfluss des Neoanarchismus auf die Gesellschaft wirkte und wirkt bis heute in kultureller Hinsicht, z. B. durch anarchistische Cartoons und Comics, durch anarchistische Romane wie „Planet des Ungehorsams“ (21) und „Planet der Habenichtse“ (22), Kabarettgruppen wie Die 3 Tornados und Musikbands wie Ton Steine Scherben und Cochise (siehe Artikel von Pit Budde in dieser GWR).
Der Einfluss anarchistischer Ideen auf die Partei Die Grünen war groß, so konstatierte 1985 das Innenministerium. (23)
„Den von Anarchisten propagierten Föderalismus setzten (..) die ‚Grünen‘ innerparteilich durch das basisdemokratische Konzept in die Tat um. Die laut Bartsch für Anarchisten signifikante Funktionärsfeindlichkeit repräsentiert heute der sogenannte ‚fundamentalistische‘ Flügel innerhalb der ‚Grünen'“, so Holger Jenrich 1988.
Tatsächlich hatte der heute verschwundene „fundamentalistische Flügel“ der Partei Anfang der 80er dazu beigetragen, dass anarchistische Postulate in das Grundwertearsenal der Grünen eingingen und sich Begriffe aus der anarchistisch-rätekommunistischen Ideentradition wie „Föderalität“, „imperatives Mandat“ und „Rotationsprinzip“ etablierten.
Der autonomistische Gedanke ist in vielen sozialen Bewegungen verwurzelt. Die von AnarchistInnen stets erhobene Forderung nach Selbstverwaltung hat sich in vielen Bereichen des Lebens durchgesetzt – „Handwerkskollektive, autonome Jugendzentren, freie Schulen, nicht-subventionierte Künstlergruppen oder das Berliner Presseprojekt die taz basieren auf diesem Prinzip“, so Rolf Raasch.
Umgekehrt wurde auch der hiesige Anarchismus von der Alternativbewegung und von Jugendbewegungen wie der Ende der 70er auch in der Bundesrepublik angewachsenen Punk-Szene beeinflusst. Die Punks brachten einen neuen Stil z.T. libertärer Fanzines hervor.
Die überwiegend libertär beeinflusste HausbesetzerInnenbewegung fand Anfang der 80er in weiten Teilen der Bevölkerung Akzeptanz. So beschrieb der Popmusiker Marius Müller-Westernhagen im November 1981 seine bei einer Fahrt durch Kreuzberg gewonnenen Eindrücke folgendermaßen:
„Da verwirklichen sich Sachen, die man sich selbst nie getraut hat. Ich finde, man sollte so leben, man sollte dauernd Schwellen überschreiten. Man läßt sich viel zu viel verbieten. Du, sie gehen in Häuser und besetzen die und nehmen sich das, was ihnen vollkommen zu Unrecht verweigert wird.“ (24)
(1) Chronologische Eckdaten, in: Ralf Reinders/Roland Fritzsch: Die Bewegung 2. Juni, Edition ID-Archiv, Berlin 1995, S. 155
(2) Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Suhrkamp, 2. Aufl., FfM. 1994
(3) Ingrid Gilcher-Holtey: "Die Phantasie an die Macht". Mai 68 in Frankreich, FfM. 1995, S. 18
(4) Rudi Dutschke: Mein langer Marsch, hg. von Gretchen Dutschke, Hellmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister, Reinbek bei Hamburg 1980
(5) Vgl. Gegenöffentlichkeit, in: BüroBert: Copyshop. Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit. Edition ID-Archiv, Berlin 1993, S. 22 ff.
(6) Vgl. Holger Jenrich, Anarchistische Presse in Deutschland 1945 bis 1985, Trotzdem, Grafenau 1988 ; Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
(7) Linkeck Reprint, Karin Kramer Verlag, Berlin 1989, S. 3
(8) Notizen zur Vorgeschichte, in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, ID-Verlag, Berlin 1997, S. 22
(9) agit 883, 3. Jg., Nr. 65, Berlin, 1. Juli 1970, S. 2 ; vgl. rotaprint 25 (Hg.): Agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969 - 1972, Assoziation A, Berlin 2006. Das Buch enthält eine CD-Rom, auf der alle Ausgaben der agit 883 als PDF dokumentiert sind
(10) Vgl. 883, in: FIZZ Nr. 10, Berlin 1972, S. 3
(11) Knofo: Geschichte oder Geschichten, in: FIZZ Reprint, Anti-Quariat Reprint Verlag, Berlin 1989
(12) Michael Steffen: Geschichte(n) vom Trüffelschwein, in: ak 397, Hamburg, 12.12.96, S. 3
(13) MAD Nr. 1, Hamburg 1971, S. 2
(14) Anarchistische Projekte: Nautilus, in: A-Kurier Nr. 40, Berlin, 3. Feb. 1993, S. 14 f.
(15) GWR Nr. 1, Augsburg 1972, S. 1
(16) Vgl. Geronimo: Feuer und Flamme, Edition ID-Archiv, Amsterdam, Amsterdam 1990, S. 54 ff.
(17) Vgl. Bibliotheken ohne "Blatt", Bild, 13.3. 1980. H. zit. nach Blatt 168, München, 21.3.80
(18) Das Blatt-Kollektiv, hier zit. n.: Walter Gerlach über alternative Stadtzeitungen. Druck gegen den Frust. Balanceakt zwischen Pleitegeier und Chance zur Selbstorganisation, in: pardon, Heft 8, Frankfurt/ M. August 1977, S. 38 ff.
(19) Vgl. Gabriel und Daniel Cohn-Bendit: Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, Nov. 1968, S. 10
(20) Laut Verfassungsschutz sank die Zahl anarchistischer AktivistInnen von 500 im Jahre 1975 auf 200 im Jahre 1977. Vgl. Jenrich, S. 138 f.
(21) Planet des Ungehorsams, GWR/release Projekt, Verlag "neues leben", Berlin 1975
(22) Ursula K. Le Guin: Planet der Habenichtse,4. Aufl., Wilhelm Heyne Verlag, München 1993
(23) Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutzbericht 1984, Bonn 1985, S. 4
(24) Marius Müller-Westernhagen über Instandbesetzer, in: Instand BesetzerPost Nr. 30, Berlin, 21. Nov. 1981, S. 35.