Dem realsatirischen Personenkult und dem zur Schau gestellten Militarismus zum Trotz, setzen viele Linke auch in der Bundesrepublik Hoffnungen auf Hugo Chávez, den Staatschef Venezuelas. Wie sehen AnarchistInnen in Venezuela den vermeintlichen Sozialismus dort? Rafael Uzcátegui ist verbunden mit der anarchistischen Zeitschrift el libertario und aktiv in den antimilitaristischen und libertären Basisbewegungen Venezuelas. Er ist Mitverfasser der Erklärung lateinamerikanischer AntimilitaristInnen: "Wir brauchen keinen weiteren Krieg!" (siehe GWR 328, S. 5). Exklusiv für die Leserinnen und Leser der Graswurzelrevolution beschreibt er nun die soziale Situation und die fortschreitende Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens in seinem Heimatland: "Venezuela: Una 'revolución' con un cadáver en la boca (2.0)" (GWR-Red.).
Seit dem Jahr 1998 hat eine so genannte linke bzw. rhetorisch links gerichtete Regierung die Macht in Venezuela ergriffen.
Seit diesem Tag betreiben die Repräsentanten dieser neuen Bürokratie einen eindringlichen Prozess, jeglicher Infragestellung ihrer Regierung die Rechtmäßigkeit abzusprechen, im Speziellen von denjenigen aus den Reihen der Linken (und natürlich der AnarchistInnen) die von ihnen nichts wissen wollen.
Es ist wahr, dass in dem „Anti-Chavismus“ einige der konservativsten Sektoren des Landes zusammentreffen; nun ihrer Macht enthobene Vertreter der vorherigen Ordnung. Aber nach dieser Zustimmung möchten wir klarstellen, dass die venezuelanische Lage nicht unter Zuhilfenahme des kindlichen Schemas „Regierung (links) gegen Opposition (rechts)“ zu verstehen ist.
Wir, die venezuelanischen Anarchistinnen und Anarchisten, haben aus mehreren Gründen unsere Ablehnung gegenüber diesem bolivarianischen Projekt ausgedrückt.
Der Erste ist, dass hinter dem „linksgerichteten“ Diskurs der Regierung die konkrete Politik die Rolle des Landes in der ökonomischen Globalisierung nur vertieft hat, wie z.B. durch den sicheren und zuverlässigen Verkauf von Kohlenwasserstoffen an die weltweiten Energiemärkte. Trotz ihres anti-kapitalistischen Diskurses hat die in Miraflores fest niedergelassene Regierung den Prozess der Verstaatlichung der Ölindustrien verdreht und sich über die Rechtsform der Mischbetriebe Partner gesucht; Gesellschaften wie Chevron, British Petroleum, Repsol und andere.
An zweiter Stelle, und infolge des vorher genannten, genießt die Regierung auch aufgrund einer aggressiven Steuerpolitik nach neoliberalem Zuschnitt, die positivste Haushaltsbilanz der vergangenen 30 Jahre.
Dies hatte auf der einen Seite die Konstituierung einer neuen Bourgeoisie zur Folge, die sich auf ihre guten Beziehungen zum Staat stützt und die gemeinsam mit den oligarchischen, traditionellen Strukturen regiert, welche wiederum im Bündnis sind mit den Triebkräften der Globalisierung (Telekommunikation, Bank- und Finanzwesen, Versicherungswesen,…).
Auf der anderen Seite hat sich trotz des außergewöhnlichen Reichtums, die Situation der benachteiligten Klassen des Landes nicht sonderlich verbessert. Entgegen seiner Propaganda hat die bolivarianische Regierung eine der ungerechtesten Gesellschaften des Kontinents, was die Verteilung des Reichtums, des BIP, angeht, nicht verändert.
Und drittens aufgrund der militarisierten Verstaatlichung aller Träger des sozialen Lebens in Venezuela, im Speziellen die Institutionalisierung der sozialen Basisbewegungen. Wir konkretisieren nicht nur einen antiautoritären Gegenbeweis bezüglich der venezuelanischen Regierung, sondern eine klare, antikapitalistische Kritik, die uns von der Medienopposition unterscheidet, ausgerechnet dem antagonistischen Urtypen, dessen Interesse es ist, von den Sprechern des aktuellen Exekutivzuges als Gegner dargestellt zu werden. Wir wiederholen, dass wir als AntikapitalistInnen die Konfrontation der Mächte, wie in Venezuela geschehen, als einen Streit zwischen mehreren Bourgeois charakterisieren, zwischen Faktoren und Vertretern der herrschenden Klasse. Daher begleitet unsere Ablehnung, beiden gegenüber, die Idee eines vehementen, Wiederaufbaus der Autonomie der sozialen Bewegungen, ein Raum, den wir für eine Vorbedingung halten für die Entwicklung einer Alternative und eines libertären Projektes für das Land.
Hinter der Propaganda der aktuellen venezuelanischen Regierung liegt eine Wüste.
Der sogenannte „bolivarianische Prozess“ hat der Welt erklärt, dass von Caracas aus die ungerechten, sozialen Zustände verändert werden; die Armut wird zurückgedrängt und das Volk übernimmt die Verantwortung für seine Zukunft. Die Wirklichkeit trotzt dem Versuch des Schönschminkens durch die Demagogie. Venezuela hat sich nicht verändert. Es ist trotz dieser Periode finanziellen Reichtums, eines der Beispiele für die ungerechte Verteilung des Reichtums auf dem Kontinent. Die Unwirksamkeit der Sozialpolitik und die Verschlimmerung der Hauptprobleme des Landes, sind schwerwiegende Faktoren, die die Abwesenheit des chavistischen Volkes beim Urnengang des vergangenen 2-D (Volksentscheid vom 2. Dezember 2007) zur Folge hatten, als versucht wurde, die Verfassung des regierungspolitischen Projektes zu legitimieren.
PROVEA (Programa Venezolano de Educación-Acción en Derechos Humanos), eine der ältesten sozialen Organisationen des Landes, hat kürzlich die Ergebnisse ihres Jahresberichtes über die Menschenrechtslage in Venezuela veröffentlicht. Bei der Untersuchung verschiedener Bereiche wird klar, was die „bolivarianische“ Demagogie für die Ärmsten bedeutet hat.
Zum Beispiel die Stagnation; die Situation für die indigenen Völker ist weiterhin bestimmt durch Armut und Verwahrlosung. In einem Sektor in dem es große Erwartungen gegeben hat, dem Wohnungswesen, hat die nationale Exekutive in ihrem achten Jahr in Folge die eigenen Vorgaben nicht erfüllt. Gerade 60.000 von 150.000 versprochenen Wohnungen wurden gebaut (schätzungsweise 3 Millionen Wohnungen werden gebraucht).
Eines der durch die Regierung am meisten beworbenen Programme, in diesem Fall die Mission Barrio Adentro (1), beginnt rückläufig zu werden.
Es mehren sich Klagen über geschlossene Polikliniken, fehlende Materialien und Reduzierung der Öffnungszeiten.
Das Gesundheitswesen ist nach wie vor bestimmt durch die Koexistenz zweier Systeme: dem traditionellen, unter anderem durch Polikliniken und Krankenhäuser besetzten, sowie dem durch Barrio Adentro aufgebauten.
Es existiert kein umfassendes, öffentliches Gesundheitssystem, das den universellen Zugang und die Qualität der Gesundheitsversorgung garantiert. Das traditionelle System, welches wiederum den größeren Anteil an der Sicherstellung der Versorgung hat, weist ernstzunehmende, funktionelle Probleme auf.
Die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter zeichnen das Bild der Realität nicht besser.
Unterschiedliche Deklarationen und Projekte der Exekutive haben die Autonomie der Gewerkschaftsorganisationen erodiert und so ihre Schwächung und das Fehlen von Partizipation bei der Gestaltung der Landespolitik bewirkt. Als ein Nachweis sprechen Gewerkschaftsmitglieder von 243 Tarifverträgen die in der öffentlichen Verwaltung auf die Unterschrift warten. Auch wenn es außergewöhnlich scheint, hält Venezuela im internationalen Ranking um die Gefährlichkeit bei gewerkschaftlichen Aktivitäten den zweiten Platz hinter Kolumbien. 53 Personen, unter ihnen 46 Betriebsräte verloren ihr Leben aufgrund von Gewalttätigkeiten, die mit der Beschaffung von Arbeitsplätzen in Verbindung stehen, sowohl im Baugewerbe als auch im Erdölsektor. Auf der anderen Seite hat sich laut PROVEA die Tendenz der Kriminalisierung der Protestbewegung seit dem Jahr 2006 intensiviert. In diesem Zeitraum wurden 98 Kundgebungen durch die staatlichen Sicherheitsorgane unterdrückt, was die höchste Anzahl der vergangenen acht Jahre darstellt.
Und zuletzt die neusten, von der Staatsmacht betriebenen, politischen Begebenheiten. Sie entfernen uns um Lichtjahre von jeglicher Neuerung sei es revolutionärer oder demokratischer Art. Der Präsident hat per Dekret die „Partido Socialista Unido de Venezuela“ (PSUV – Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) gegründet, die, nach 2 Jahren in Funktion, kürzlich ihre Vorstandswahlen durchgeführt hat. Nachdem sie laut Propaganda mit 7 Millionen eingeschriebenen Mitgliedern die größte Partei Lateinamerikas sein sollte – erinnern wir uns, dass in dem Referendum zur Verfassungsänderung (2) nur etwas mehr als 3 Millionen für das Regierungsprojekt gestimmt haben – haben an den Vorstandswahlen nur etwa 80.000 Wählerinnen und Wähler teilgenommen, die für einige der von Hugo Chávez einseitig aufgestellten Kandidaten votierten. Bislang ist niemandem die Satzung der Partei bekannt, noch ihre politischen oder programmatischen Ansichten. Womit das einzig Sichtbare die veralteten Schemata einer leninistischen und hierarchischen Organisation sind.
Auf der anderen Seite hat der erste Vorsitzende, nach der ersten Wahlschlappe, am 6. Januar 2008 zwölf der Minister seines Kabinetts erneuert, wobei er die Hälfte der Sitze (6) an Mitglieder der Nationalen Streitkräfte vergab. Diese Ernennung ist Teil der fortschreitenden Militarisierung des sozialen Lebens in Venezuela, in dessen 18 Ministerien über 70 Offiziere hohe, leitende Positionen besetzen, die früher „zivile“ Bürgerinnen und Bürger innehatten. Eine andere Quelle belegt, dass einer unter drei Regierungsmitgliedern des Landes ein Militär ist.
Dementsprechend wird die gesamte Organisation der Basisgruppen zur Unterstützung des Präsidenten nach militärischem Schema und Rängen realisiert und der bevorzugte Diskurs des sogenannten „bolivarianischen Prozesses“ enthält viele Verben und Vokabeln aus den Strategien kriegerischer Auseinandersetzungen.
„Wer von Revolution und Klassenkampf redet, ohne sich auf das alltägliche Leben zu beziehen hat einen Kadaver im Mund“. Dieser Satz veranschaulicht die venezuelanische Situation.
Herausforderungen für die ganz unten gibt es viele. Vorerst das Zerstören des Manichäismus (3), den die Rechte der Regierung aufgezwungen hat, und der rechten Opposition. Dies einhergehend mit dem Wiederaufbau des Netzes vielfältiger, schlagkräftiger und autonomer Basisorganisationen.
Die Ausrichtung unserer Dynamiken auf eine Wählerschaft oder öffentliche Akzeptanz weisen wir von uns. Unser Mobilisierungs- und Widerstandsplan muss sich vor allem gegen jegliche Schlechtigkeiten und Probleme richten, die uns als Unterdrückte im alltäglichen Leben quälen.
(1) Barrio Adentro (dt. etwa: Hinein ins Viertel) ist ein Programm der venezuelanischen Regierung, das eine medizinische Grundversorgung der ärmsten Menschen Venezuelas vor allem in den Barrios (Armenvierteln) gewährleisten soll. (www.de.wikipedia.org)
(2) Referendum 2-D am 2.12.07 (Anm. d. Ü.)
(3) Der Manichäismus war eine antike Religion. In der manichäistischen Weltsicht stehen sich das göttliche Lichtreich und das Reich der Finsternis als Gegner gegenüber. Vgl.: www.de.wikipedia.org
Übersetzung aus dem venezuelanischen Spanisch: Thomas Grünewald