Mich träumte, ich hätte Joe Hill gesehen, lebendig wie du oder ich. Sag' ich: "Aber Joe, du bist seit zehn Jahren tot!" - "Ich bin nie gestorben!", sagt er. - "Ich bin nie gestorben!", sagt er.
So (freilich auf Englisch) beginnt ein Lied, dessen Text im Jahre 1925 von dem 14-jährigen Alfred Hayes verfasst wurde. Elf Jahre später wurde es von Earl Robinson vertont. Pete Seeger machte das Lied international bekannt, und auf dem Woodstock-Festival wurde es 1969 von Joan Baez vorgetragen. Ein wichtiges Stück der populären Musikgeschichte im 20. Jahrhundert.
Sein Text hat etwas Irritierendes. Hätte Joe Hill selbst so sprechen können? Hätte er Unsterblichkeit für sich reklamiert? Er, der anarchistische Arbeiter-Sänger, der 1915 einem Justizmord zum Opfer fiel?
Sein Wirken hatte allerdings viel mit der Frage der Unsterblichkeit zu tun gehabt. Hill, der aus Schweden in die USA eingewandert war, hatte sich dort der anarchosyndikalistisch geprägten Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) angeschlossen und begonnen, Lieder für diese zu schreiben. Musik war ein entscheidendes Kampfmittel in den Klassenkämpfen jener Zeit, denn das US-Proletariat war ein Konglomerat von Menschen unterschiedlicher sprachlicher Herkunft, dessen solidarischer Zusammenhalt durch rein sprachliche Mittel kaum herzustellen war.
Dies wussten auch die Bosse. Gegen die Organisations- und Propagandatätigkeit der IWW heuerten sie gerne (wir sprechen von der Zeit um 1905-1910) die mobilen Einsatzkommandos der evangelikalen Heilsarmee an, deren Kapellen mit ihren Trompeten und großen Trommeln imstande waren, auch die feurigste revolutionäre Rede zu übertönen. Die Heilssoldaten schmetterten hymnische Lieder, in deren Texten den Arbeitern versprochen wurde, dass sie dereinst für ihre Entbehrungen im irdischen Jammertal im Himmel entlohnt werden sollten, wenn sie ihr Joch hienieden nur geduldig trügen.
Eine der beliebtesten dieser Hymnen trug den Titel In the Sweet By and By („Im süßen Nach-und-nach“). Der zu Depressionen neigende Komponist Joseph P. Webster hatte sie 1868 zu einem Text von Sanford F. Bennett komponiert. Dieses Lied, das auch heute noch als Kirchenlied in den USA beliebt ist, schildert jenes „Land, heller als der Tag“, das wir durch unseren Glauben in der Ferne sehen können, wo Kummer und Leid ein Ende haben. Im Refrain wird im Wechselgesang ausgerufen:
In the sweet (in the sweet) by and by (by and by)
We shall meet on that beautiful shore (by and by)
In the sweet (in the sweet) by and by (by and by)
We shall meet on that beautiful shore.
Gegen die IWW-Propaganda war das allerdings ein handfestes politisches Statement.
Aber die Bosse und ihre frommen Marschierer hatten die Rechnung ohne Joe Hill gemacht. Er hatte die großartige Idee, das Schmettern der Blechbläser und das Dröhnen der Trommeln dankbar anzunehmen und einfach einen eigenen Text darüber zu legen, der die Heilsarmee lächerlich machte. Die christliche Idee vom glücklichen Jenseits wurde darin als pie in the sky („Pastete im Himmel“) verspottet – ein wichtiger Beitrag Hills zur englischen Umgangssprache. Hier sind die erste und die letzte Strophe (plus Refrain) von Joe Hills Version des Sweet by and by (das in den IWW-Liederbüchern den Titel trug The Preacher and the Slave), im englischen Original:
Long haired preachers come out ev’ry night
Try to tell you what’s wrong and what’s right
But when asked, how ‚bout something to eat (Let us eat)
They will answer with voices so sweet (Oh so sweet):
You will eat (You will eat) by and by (by and by)
In that glorious land above the sky (way up high)
Work and pray (work and pray), live on hay (live on hay)
You’ll get pie in the sky when you die (that’s a lie).
(…)
Workingmen of all countries unite
Side by side we for freedom will fight!
When the world and its wealth we have gained
To the grafters [Schieber] we’ll sing this refrain:
You will eat by and by
When you’ve learned how to cook and to fry.
Chop some wood, ‚twill do you good,
And you’ll eat in the sweet by and by.
Und die „starvation army“ spielte kostenlos die Begleitung. Genial! – Ein Grund mehr für Polizisten und Kapitalisten, Joe Hill aus dem Weg zu räumen! In seinem letzten Brief aus dem Knast schrieb er an den Generalsekretär der IWW die Aufforderung: Don’t waste any time in mourning. Organize … („Verschwendet keine Zeit mit Trauern – organisiert [euch]!“) Dem Gefängniswärter gab er einen Zettel, auf dem sein gereimtes Testament stand. Darin äußert er den Wunsch, seinen Körper zu Asche zu verbrennen und diese vom Wind verstreuen zu lassen – vielleicht könne sie so noch als Dünger ein paar welkende Blumen zu neuem Leben erwecken. Das ist schön poetisch, und zugleich treu materialistisch. Joe Hill hielt sich ganz gewiss nicht für unsterblich! – Alfred Hayes aber textete 1925 weiter:
„Die Kupferbarone töteten dich, sie erschossen dich!“, sag‘ ich. – „Es braucht mehr als Gewehre, um einen Menschen zu töten“, sagt Joe, „ich starb nicht“; – sagt Joe, „ich starb nicht“.
Der Gedanke dahinter ist natürlich, dass das Vermächtnis weiterlebte, als (und gerade weil) Joe Hill ermordet wurde. Wo Arbeiter sich organisieren, dort lebt der „Geist“ Hills. Aber es scheint mir doch, dass es auch etwas damit zu tun hat, dass Hill Musiker war. In der Poesie und im Sound der Gitarre steckt mehr von der Persönlichkeit des Verstorbenen, als es ein bloßer politischer Aufruf vermöchte. Oder es rührt einfach nur die Emotionalität der Nachgeborenen stärker an.
KünstlerInnen überschreiten hier und jetzt die Grenzen des Alltags – diese Nähe zur Transzendenz teilen sie mit den Kämpfern für eine klassenlose Gesellschaft (und ebenso mit den wirklichen religiös Gläubigen).
Deswegen sind es gerade PoetInnen und MusikerInnen, die von der Geschichte Joe Hills so angetan sind und die den Verspotter des pie in the sky selbst zum Dasein ewigen Lebens erheben.
Es ist ein Nachleben, das sich nicht in einen Gegensatz zum Diesseits setzt, etwa als Kompensation, sondern das völlig auf der Erde verankert ist. So wie die Asche eine welkende Blume erquicken kann, sollen die bleibenden Ideen und künstlerischen Zeugnisse dazu dienen, im Hier und Jetzt die Lage der Menschen zu verbessern. Sehr schön ist dieses Konzept des Weiterlebens über den Tod hinaus im Jahre 2005 in einem Lied von Chumbawamba (siehe Artikel in dieser GWR) eingefangen worden, das mit der ersten Strophe des Hayes-Songs endet und worin es vorher heißt:
„Don’t waste the days when I’m dead and I’m gone
Wind up the clocks, ring around, carry on
Don’t gather flowers, dry your eyes, call your friends
For all I sang was a start, not an end.
Catch your breath, feel the life in your bones
Enjoy what’s to come, not the things that we’ve done.
Save all your prayers, take the pain and the hurt
Add your chorus to my verse“
By and by, by and by
Forget that glorious land above the sky
Don’t you cry, don’t you cry
By and by
„Füge deinen Refrain zu meiner Strophe hinzu“, sagt hier der Todgeweihte, denn „alles, was ich sang, war ein Beginn, kein Ende“. Ist es reine Ironie, wenn Chumbawamba dieses Lied By and by genannt haben?
Mir scheint es eher, dass in der ganz ernsten Verwendung des Gedankens, „nach und nach“ solle der gewünschte seelische, nämlich lebensbejahende Zustand erreicht werden, auch etwas von der Aussage des alten Bennett’schen Kirchen-Hymnus In the sweet by and by aufgehoben ist. Nicht die Vertröstung auf eine Pastete im Himmel, aber die Legitimität des Sehnens nach einem besseren Leben, die darin immerhin auch durchscheint.
In den Händen der Heilsarmee war der Hymnus allerdings unrettbar reaktionär. Und wenn man sich heute auf Youtube die etwa zwanzig Versionen anschaut, in denen In the sweet by and by präsentiert wird, dann wird man schnell auf den Nashville-Schmalz einer Dolly Parton stoßen, der in Bild und Ton so unerträglich klebrig und verlogen ist, dass Joe Hill seine helle Freude daran hätte.
Zwischen all den Bluegrass- und Ragtime-Einspielungen des Stücks, zu denen man einmal den Text von The Preacher and the Slave ausprobieren möchte, gibt es auch die Schlussszene des Films Robert Altman’s Last Radio Show, der letzten Arbeit des Regisseurs Robert Altman aus dem Jahr 2006. Dort wird der beautiful shore so fröhlich und weltzugewandt besungen, wird getanzt und geschmust, dass man glauben möchte, die pie wäre aus dem sky direkt auf die Bühne gehüpft.
„Lebe jede Show“, heißt es in der Filmankündigung, „als wäre es deine letzte!“ Denn, so können wir hinzufügen, es könnte sein, dass nach der letzten Show tatsächlich keine mehr für dich kommt! Vielleicht ist das die schlimmste Demütigung für die frommen Herren Webster und Bennett, dass sie sich durch diese Adaption Seit‘ an Seit‘ mit Joe Hill und Chumbawamba wiederfinden.
Sei’s drum!