Max Nacht nannte sich einmal „wildes Schaf“, weil er seine Revolte als die eines Lammes in einer Welt der Wölfe beschrieb, durch die er zum wilden Schaf geworden sei (S. 137). Werner Portmann macht daraus den Titel seines Buches, einer unterhaltsamen, materialreichen und gut recherchierten Biographie über die Gebrüder Nacht.
Siegfried Nacht (1878-1956), alias Arnold Roller oder Stephen Naft, wurde in Wien geboren, stammte aber wie seine Brüder aus dem jüdischen Milieu des ostgalizischen Städtchens Buczacz. Nach dem Studium und einer Phase sozialdemokratischer Parteimitgliedschaft kam er 1901 über Berlin und Paris nach London. Dort schrieb er unter dem Namen Arnold Roller 1902 eine erste Broschüre „Der Generalstreik und die soziale Revolution“, die im Laufe der Zeit 30 Auflagen in 17 Sprachen erlebte. Dann folgten seine „Wanderjahre“. Er wanderte zu Fuß durch Frankreich, Spanien und Nordafrika, was daran erinnert, dass vor dem Ersten Weltkrieg Reisen ohne Ausweis in Europa und über die Kontinente hinweg möglich war.
Siegfried wurde in Gibraltar wegen unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet und unter Anklage gestellt, er habe den Mord des spanischen Königs geplant. Eine internationale Solidaritätskampagne trug zu seiner Freilassung bei und machte ihn bekannt.
1905 in Berlin und 1906 in London veröffentlichte er als Arnold Roller Broschüren unter den Titeln „Der soziale Generalstreik“ und „Die direkte Aktion“. Dazu kam ein Liederbüchlein, das anarchistische Lieder seiner Wanderjahre zusammenfasste. Der Ton war zunächst martialisch.
Im Liederbuch sprach Siegfried von der „Poesie des Kampfgetümmels“ und der „Musik krachender Bomben“ (S. 89), doch schon ab „Die direkte Aktion“ brachte der Generalstreik als neue Aktionsform des Anarchosyndikalismus Siegfried langsam dahin, die Verherrlichung des individuellen Terrors aufzugeben. Wertvoll ist auch Siegfrieds Eliten-, Antisemitismus- und Nationalismuskritik. 1906 ging er nach London und geriet in einen Streit zwischen Rudolf Rocker und Pierre Ramus, wobei er sich bald auf die Seite des Ersteren schlug (S. 102ff.).
Wenn Portmann diesen Streit referiert und dabei Ramus‘ Eitelkeiten und sein Konkurrenzdenken als Triebfedern des Konflikts benennt, so sollte dies nicht dazu verleiten, die Verdienste Ramus bei der späteren Verbreitung des gewaltfreien Anarchismus in Österreich und in Teilen der FAUD in Zweifel zu ziehen.
Es ehrt Portmann, dass er auch Siegfrieds Anteil am Londoner Streit offenbart und bei ihm eine „oft mangelnde Toleranz gegen abweichende Ideen“ und eine „rechthaberische, sture Art“ (S. 111) konstatiert. Wichtiger als diese Streitereien war das antimilitaristische „Soldatenbrevier“ (1906) Siegfrieds, das in mehreren tausend Exemplaren über Schmuggelstationen an der deutsch-holländischen Grenze nach Deutschland geschafft und dann vor Musterungslokalen an Rekruten verteilt wurde – ein historischer Vorläufer der Aktionskampagnen gegen Bundeswehr-Rekrutenzüge gewaltfreier AnarchistInnen seit den 1980er Jahren.
Siegfried Nacht ging nach Birmingham, dann 1910 nach Rom. In dieser Zeit wurde er von Malatesta beeinflusst und erkannte „im politischen Mord ein ethisches Problem, das den Anarchismus diskreditiert“ (S. 114).
Weil er in fast allen Ländern Europas verfolgt wurde oder Einreiseverbote hatte, wanderte er im Ende 1912 in die USA aus.
Bruder Max Nacht (1881-1973), alias Max Nomad, einer der jüngeren Brüder Siegfrieds, wurde in Buczacz geboren und blieb dem jüdischen Milieu der Provinzstadt länger und intensiver verhaftet als Siegfried.
Die Familie war bereits der jüdischen Aufklärung (Haskala) verpflichtet, es wurde Deutsch und nicht Jiddisch gesprochen.
Der Anarchismus kam nach Buczaz durch eine Abspaltung vom örtlichen Arbeiterbildungsverein „Briderlichkeit“ nach der Art, wie sich damals die „Jungen“ oder „Unabhängigen Sozialisten“ von der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie abgespalten hatten.
Überdies wurde Max in seinen Wiener Studienjahren ab 1899 vom kommunistischen Anarchismus Kropotkins beeinflusst.
Bedeutsam für ihn waren die ostgalizischen Streiks der LandarbeiterInnen von 1900-1902.
Gegen anarchistische Zeitungsprojekte von Max setzte die Repression ein und er flüchtete 1904 nach Zürich. Dort redigierte er zeitweise seine wohl wichtigste Zeitung, „Der Weckruf“ (1903-1907), für die dann auch Bruder Siegfried schrieb.
Im Gegensatz zur Linie des redaktionellen Vorgängers von Max, Matthias Malaschitz, einem gewaltlosen tolstojanischen Anarchisten ungarischer Herkunft, wurde das Blatt unter der Ägide Max Nacht schnell zu einem Hort „verbaler Militanz“ (S. 75) und der gewaltsamen Propaganda der Tat, was älteren Genossen wie Fritz Brupbacher nicht gefiel. Portmann übernimmt zur Beschreibung eine spätere, plausibel wirkende Unterteilung von Max Nacht, der 1964 von einem westlichen Anarchismus sprach, welcher die Phase des Dynamits außer in Spanien um die Jahrhundertwende bereits überwunden hatte, während die osteuropäischen AnarchistInnen aufgrund der Repression osteuropäischer Despotien noch lange aus dem Untergrund und mit Mitteln des politischen Attentats agierten (S. 94). In einem Furor angeblicher „Radikalisierung“ distanzierte sich Max nach der Jahrhundertwende vom Anarchismus und wandte sich der Sekte des russisch-polnischen Revolutionärs Makhaïski zu, für die er unter dem Pseudonym Czarny 1908 im russisch-polnischen Untergrund arbeitete. Diese Gruppe war extrem verbalradikal, besonders gegen sozialistische und anarchistische Gruppierungen, und wandte sich besonders gegen Intellektuelle als neue Führungsschicht.
An einer Stelle diskutiert Portmann die verbalradikale Phase der Brüder und fragt, ob sie als „terroristisch(e) Schreibtischtäter“ (S. 96) zu bezeichnen wären. Er verneint dies, weil sie selbst kein Menschenleben auf dem Gewissen und keine Attentäter praktisch unterstützt hätten. Portmann will lieber vom „Terrorismus des Wortes“ (S.97) sprechen. Ich bin da nicht so sicher: „Schreibtischtäter“ ist ja gerade ein Begriff für jene, die eben nur den politischen Mord propagierten, aber die Konsequenz der Tat scheuten. Doch wie viele naive GenossInnen ließen sich von ihrem Verbalradikalismus verführen und die vermeintliche Konsequenz der Tat suchen? Der Begriff beschreibt da eine moralisch-politische Verantwortlichkeit und trifft deshalb m.E. auf die Gebrüder Nacht durchaus zu.
1913 emigrierte auch Max Nacht in die USA. Die Brüder besuchten sich zuweilen, vor allem in New York. Max, nun Max Nomad, schloss sich 1917 inhaltlich den Bolschewiki an und schrieb in den 1920er Jahren für prosowjetische Zeitungen, ohne jedoch der Partei beizutreten.
Siegfried, nun Stephen Naft, war unabhängiger, blieb in New York mit Rudolf Rocker in Kontakt, obwohl auch er für prosowjetische Zeitungen und die Nachrichtenagentur TASS schrieb, um überleben zu können. 1929 distanzierte sich Max Nomad vom Stalinismus und entwickelte eine interessante Theorie des „skeptischen Anarchismus“ (S. 131ff.), beeinflusst u.a. von Robert Michels‘ „eisernem (eigentlich: ehernem; d.A.) Gesetz der Oligarchie“.
Zusammen mit seinem Bruder verurteilte er in den USA kommunistische Denunziationen des spanischen Anarchismus während des spanischen Bürgerkriegs 1936-39. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Stephen Naft für das FBI, während Max zwar auch zu antikommunistischen Totalitarismustheorien neigte, sich aber einer direkten Zusammenarbeit mit dem FBI verweigerte.
Max, der nun für seine Publikationen das Pseudonym Max Norton benutzte, verstand sich wieder als Anarchist im Kampf gegen die Allmacht der Bürokratie. Portmann bescheinigt ihm, mit seinen letzten Büchern „Apostles of Revolution“ (1939), „Aspect of Revolt“ (1959), „Political Heretic“ (1963) und „Dreamers, Dynamiters and Demagogues“ (1964) zu einer „wichtigen Stimme gegen das allgemeine Vorurteil des Bomben werfenden Anarchisten“ (S. 138) geworden zu sein.
Werner Portmann: Die wilden Schafe. Max und Siegfried Nacht. Zwei radikale jüdische Existenzen. Unrast Verlag, Münster 2008, ISBN: 978-3-89771-455-7, 14 Euro