Anarchistische Bewegungen jenseits des Atlantiks sind ein Themenbereich, der großes Interesse in Europa weckt. Betrachtet man Nord- und Zentralamerika, so sind es hier vor allem libertäre/magonistische/zapatistische Bewegungen in Mexiko und die heterogene anarchistische Szene in den USA, über die viel berichtet wird. Nach dem Interview mit dem US-amerikanischen Anarchisten Jean Black in der Graswurzelrevolution Nr. 326/Februar 2008 spricht in diesem Interview nun Reece Sonable aus Vancouver über Anarchismus in Kanada, welche Besonderheiten die Bewegung dort auszeichnen und weshalb es 2010 viele Gründe gibt, nach Kanada zu reisen (GWR-Red.).
Graswurzelrevolution (GWR): Spricht man hier in Europa von Anarchismus in Nordamerika, so meint man in der Regel anarchistische Bewegungen in den USA. Hierzu gibt es viele Artikel, Interviews und Bücher. Von Kanada ist selten die Rede und über die dortige anarchistische Szene ist wenig bekannt. Kannst du skizzieren, wie es um den Anarchismus in Kanada bestellt ist?
Reece Sonable: Es ist schwierig, vom Anarchismus in Kanada als Ganzes zu sprechen, da Kanada ein so großes und dünn besiedeltes Land ist und anarchistische Communities relativ klein und verstreut sind. Im Allgemeinen gibt es in allen mittleren und größeren Städten anarchistische Communities, die von kleinen Gruppen von FreundInnen bis hin zu größeren, sich überschneidenden Gruppierungen reichen.
AnarchistInnen arbeiten oft in Projekten wie Infoläden oder radikalen Buchläden, Buchmessen, für Freiräume, Food Not Bombs, etc. Einige der Themen, mit denen sie sich in Kanada verstärkt beschäftigen, sind u.a. die Solidarität mit den Autonomiebestrebungen der indigenen Bevölkerung Kanadas, Umweltschutz, Queer-Themen, Solidarität mit Häftlingen und autarke Lebensweise. Die Taktiken, die zur Anwendung kommen, sind in den anarchistischen Communities ebenfalls sehr unterschiedlich.
GWR: Gibt es Kooperationen mit AnarchistInnen aus den USA?
Reece Sonable: Es gibt Kontakte zwischen US-amerikanischen und kanadischen AnarchistInnen, diese sind aber eher informeller Natur. Wir sind normalerweise Verbündete und FreundInnen auf individueller Basis, ausgehend von gemeinsamen Prinzipien oder wenn man nahe beieinander wohnt. Es gibt nicht viele große und offen anarchistische Gruppen mit richtig guter Bindung zu US-amerikanischen Gruppen.
Obwohl es ideal wäre, Staatsgrenzen zu ignorieren, verhindern diese sehr den Austausch zwischen AnarchistInnen aus Kanada und den USA. Die Grenze zu passieren, nimmt viel Zeit in Anspruch und beinhaltet lange und penetrante Verhöre durch Grenzbeamte.
GWR: Welche Gruppen, Organisationen und Medien gibt es, die dezidiert anarchistisch sind oder als der anarchistischen Bewegung zugehörig bezeichnet werden können?
Reece Sonable: Es gibt zu viele Gruppen und Kollektive, um hier alle zu nennen, aber ein paar davon sind zum Beispiel der Exile Infoshop in Ottawa, Anarchist Black Cross in Winnipeg und Montreal, Kollektive für anarchistische Büchermessen unter anderem in Edmonton, Saskatoon, Montreal, Victoria und Calgary, L’insounise Anarchist Bookshop in Montreal und das Resist communications & technology collective in Vancouver. Zusätzlich gibt es noch einige aktive anarchistische Gruppen ohne öffentliche Präsenz bzw. ohne eine Präsenz, die einen Namen oder eine Website erfordern würde. Es gibt einige kollektiv geführte Buchläden, die anarchistische Literatur vertreiben, und Gruppen, die mit AnarchistInnen sympathisieren, aber nicht dezidiert anarchistisch sind. Websites aus Kanada bzw. Websites, die anarchistische Nachrichten aus Kanada beinhalten, sind z.B. anarchistnews.org, oat.tao.ca, news.infoshop.org, warriorpublications.com und www.ainfos.ca.
GWR: Du bist aus Vancouver, also aus dem Westen Kanadas. Gibt es zwischen den Städten im Osten wie Toronto oder Montreal und denen im Westen große Unterschiede, was die anarchistische Szene anbetrifft?
Seid ihr in Kontakt?
Reece Sonable: Die AnarchistInnen der Westküste haben in Kanada sowie in den USA den Ruf, mehr Wert auf Umweltthemen zu legen, was dann teilweise sogar ins Primitivistische geht, wobei Letzteres nur sehr wenige Menschen anspricht. Die Natur ist von den Städten der Westküste leichter zugänglich, weshalb die Leute mehr Zeit damit verbringen und lernen können, wie man dort Nahrung findet, wie man Nahrung selbst anbauen und ganz generell die Natur schätzen lernen kann. Es ist hier viel wärmer als im Osten, was es praktikabler macht, auch im Freien zu wohnen. Hier gibt es eine breitere Palette von Nahrungsmitteln, die man anbauen kann, und die Anbausaison ist länger. Gleichzeitig gibt es aber viele unterschiedliche AnarchistInnen in ganz Kanada und ebenso viel Austausch unter ihnen in den verschiedenen Städten. Ich habe Kontakte zu AnarchistInnen in Toronto, in Montreal und in kleineren Städten. Diese Kontakte sind ähnlich jenen zwischen kanadischen und US-amerikanischen AnarchistInnen, also eher auf einer individuellen Basis. Städte in Kanada sind sehr verstreut und liegen weit voneinander entfernt. Dann kann geographische Nähe eher dafür ausschlaggebend sein, mit welchen AnarchistInnen du dich triffst und zusammenarbeitest, als Staatsgrenzen.
In den kleineren Städten sind es vor allem die jährlichen anarchistischen Buchmessen, die AktivistInnen aus dem Umland – und das kann manchmal tausende Kilometer weit entfernt liegen – anziehen. Das ist hilfreich, um Kontakte zwischen Menschen aufbauen zu können, die in den verschiedenen Regionen leben.
Montreal hat eine französischsprachige und eine englischsprachige anarchistische Community, obwohl sich diese teilweise überschneiden und bestrebt sind, miteinander zu arbeiten. Dort gibt es auch eine größere und beständigere queer-anarchistische Präsenz als sonst irgendwo im Land und ich denke, dass es in Montreal überhaupt die größte anarchistische Szene in ganz Kanada gibt. Aus Toronto habe ich nicht so viel gehört in letzter Zeit, aber es gibt aktive anarchistische Communities überall in Süd-Ontario, wo Toronto und die größte Konzentration von Städten in Kanada zu finden ist.
GWR: Gibt es prägende Persönlichkeiten des Anarchismus in Kanada? Mir würde da spontan z.B. George Woodcock einfallen. Und Emma Goldman ist 1940 in Toronto gestorben.
Reece Sonable: Obwohl es eine Reihe von bekannten AnarchistInnen gibt, denke ich, dass es nicht wirklich üblich ist, sich hier an Individuen zu orientieren. Eine Ausnahme hierbei ist Ann Hansen/The Squamish Five/Direct Action, die sehr bekannt sind in anarchistischen Zirkeln in Kanada für ihre gezielten Anschläge, die in den 1980ern durchgeführt wurden.
Ann Hansen schrieb das Buch Direct Action, über die gleichnamige Gruppe, das meiner Ansicht nach gut geschrieben und informativ ist. (Ann Hansen ist eine kanadische Anarchistin und Mitbegründerin der Gruppe Direct Action, die vor allem bekannt wurde durch ihren Bombenanschlag auf eine Fabrik von Litton Industries 1982 in Toronto, wo Teile von amerikanischen „cruise missiles“ hergestellt wurden. Unter dem Namen Wimmin’s Fire Brigade wurden auch Pornoshops niedergebrannt. Squamish Five bezeichnet die fünf Mitglieder der Gruppe – Ann Hansen, Bret Taylor, Juliet Caroline Belmas, Doug Steward und Gerry Hannah – die im Bezirk Squamish in British Columbia 1983 festgenommen wurden. S.: Ann Hansen: Direct Action. Memoirs of an Urban Guerilla. AK Press 01 und die Audio-CD Direct Action: Reflections on Armed Resistance and the Squamish Five, G7 Welcoming Committee Records 2003. Anm. S.K.)
GWR: Eine der Hauptaktivitäten kanadischer AnarchistInnen ist die Arbeit, der gemeinsame Kampf mit den indigenen Communities. Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?
Reece Sonable: Das ist eine weitreichende Frage! Das kann vieles beinhalten, offensichtlichere Gesichtspunkte wie Solidaritätsaktionen und Unterstützung von Aktionen indigener Communities ebenso wie Subtileres: wie den Versuch, kolonialistische Strukturen im täglichen Leben und in unseren Komitees zu bekämpfen. Es geht darum, Kontakte herzustellen mit indigenen AktivistInnen oder Gruppen, die die gleichen Interessen verfolgen. Dies soll aber keine Alibifunktion haben oder nur deshalb gemacht werden, um die Schuldgefühle zu vermindern. Ganz Kanada und im Speziellen British Columbia (B.C.), wo sich Vancouver befindet, ist Land von indigenen Gemeinden.
Beinahe die gesamte Region B.C. wurde ohne irgendeine Art von Vertrag den Indigenen weggenommen. Das bedeutet, dass es nach britischem, kanadischem und sogar nach internationalem Recht illegal war, dass Kanada sich dieses Land einverleibt hat. West-Kanada wurde vor nicht allzu vielen Generationen kolonisiert und die Schäden der Kolonisation und Assimilationstechniken hallen bei indigenen Communities, Familien und Individuen immer noch nach. Diese Kämpfe sind also immer noch eine sehr dringliche Angelegenheit in Kanada. Die Kämpfe und die Solidarität sehen unterschiedlich aus, abhängig von den Communities in den Bezirken und den Arten des Widerstands.
GWR: Es gab in der Vergangenheit Aktionen zu diesem Thema. Wie sahen diese aus?
Reece Sonable: Die Olympische Flagge wird als Symbol für die bevorstehenden Olympischen Spiele von Land zu Land weitergereicht. Am 7. März 2007 wurde diese Flagge aus dem Rathaus von Vancouver entwendet. Unmittelbar danach wurde von der Native Warrior Society ein Communique veröffentlicht, in dem sie sich zu der Tat bekannte. Dort war zu lesen, dass diese Aktion im Gedenken an Harriet Nahanee gemacht wurde, die eine angesehene Aktivistin des Nuu-Chan-Nulth Stammes aus dem Gebiet von Squamish war und verhaftet wurde, als sie Land in Squamish vor Infrastukturprojekten der Olympics verteidigte. Sie starb an einer Lungenentzündung, als sie in Haft war. Das Communique endete mit dem Satz: „Wir solidarisieren uns mit all jenen, die gegen die Zerstörung kämpfen, die von den Olympischen Winterspielen 2010 verursacht werden. Keine Olympische Spiele auf gestohlenem indigenem Land!“
Oft werden in den verschiedenen Regionen Kanadas Bahnstrecken, Autobahnen und Infrastruktur, die der „Entwicklung“ der Regionen dienen soll oder zum Holzfällen benötigt wird, von indigenen Gruppen blockiert. Diese Blockaden werden Jahre, Monate, Tage oder Stunden aufrechterhalten.
Manchmal sind es totale Blockaden und manchmal wird es bestimmten Fahrzeugen erlaubt durchzufahren. Die Website warriorpublications.com ist zu empfehlen, wenn man auf der Suche ist nach aktuellen Informationen über Blockaden und andere Formen des Widerstands. Des weiteren findet man auch historische Infos von größeren und besser bekannten Protesten, wie beispielsweise die Oka-Krise 1990. (Die Oka-Krise war ein gewalttätiger Konflikt zwischen militärischen Einheiten Kanadas und dem Mohawk-Stamm resultierend aus einem Streit um Ländereien in Oka/Quebec. Die Krise dauerte von Juli bis September 1990 und hatte drei Todesfälle zur Folge. Anm. S.K.)
GWR: Was sind Themen, mit denen sich die anarchistische Bewegung sonst beschäftigt?
Reece Sonable: Nun, momentan sind es die Olympischen Spiele, die dazugehörigen Umweltthemen und die Aktionen von Indigenen, die den meisten Platz einnehmen, gefolgt von den Vorbereitungen zum G8-Gipfel. 2010 werden auch die Verhandlungen zur „Security and Prosperity Partnership“ in Kanada stattfinden. Das sind Verhandlungen zwischen Kanada, den USA und Mexiko, um eine Gemeinschaft zu organisieren ähnlich der EU, allerdings ohne freien Personenverkehr.
Kanadische AktivistInnen werden bald in Europa herumreisen, um über Aktionen zu den Olympischen Spielen in Vancouver und wie europäische AnarchistInnen mithelfen können zu sprechen.
GWR: Nicht nur die Olympischen Spiele und der Widerstand dagegen, sondern auch der G8-Gipfel findet 2010 in Kanada – in Huntsville/Ontario – statt. Wie weit sind die Vorbereitungen schon?
Reece Sonable: Besonders in Ontario, der größten Provinz in Kanada, bereiten sich die AktivistInnen schon auf die G8 vor. Momentan finden größere Treffen statt und es werden Infos gedruckt und verteilt.
GWR: Du hast auch Zeit in Europa verbracht. Wie ist dein Eindruck von der anarchistischen Szene hier? Wie schätzt du sie ein, verglichen mit der in Kanada?
Reece Sonable: Die anarchistische Szene in Europa ist größer und scheint besser organisiert und vernetzt zu sein als jene in Kanada.
Manche Aspekte europäischer AnarchistInnen-Communities, wie z.B. besetzte Häuser, sind in Kanada sehr rar oder nicht existent bzw. zumindest nicht so beständig.
Natürlich variiert dies zwischen den verschiedenen Ländern und sogar zwischen verschiedenen Städten in einem Land in Europa, weshalb es schwierig ist, zu verallgemeinern, aber die weit größere Anzahl von AnarchistInnen in Europa scheint auch ein Resultat von mehr öffentlicher Unterstützung zu sein, was sie langlebiger macht als jene in Kanada.
Ich will jetzt nicht so klingen, als hätte ich nur Negatives über Anarchismus in Kanada zu sagen, aber die Geschichte des Anarchismus in Teilen Europas hat diese Regionen vermutlich beeinflusst in einer Art und Weise, wie dies in Kanada nie der Fall war.
Anmerkungen
Es ist eine Tour kanadischer AnarchistInnen in Europa geplant, wo über den Widerstand gegen die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver informiert werden soll.