anarchismus

Der ‚allgegenwärtige‘ Anarchismus und seine Verdrängung

Eine These, erläutert am Beispiel Johannes Agnolis

| Philippe Kellermann

Hoffentlich mit gerechtfertigter Spannung kann man den in GWR 336 angekündigten Kongress zum Thema "Anarchismus im 21. Jahrhundert" erwarten, der vom 10. bis 13. April in Berlin stattfinden soll. Unter vielen anderen Themen soll es dabei wohl auch um den Stellenwert der anarchistischen Theorie innerhalb der heutigen linken Bewegungen gehen. Ich möchte im Folgenden einen Vorschlag dazu machen, wie man die Rolle der anarchistischen Theorie(n) für gegenwärtige Politik und Theorie deutlich machen könnte.

Dabei gehe ich von der These aus, dass ein Großteil der Vorstellungen der kritischen emanzipatorischen Bewegungen (implizit und/oder unbewusst) anarchistischer Herkunft sind. Es scheint mir eine für die anarchistischen Bewegungen (um es pathetisch zu überspitzen) geradezu tragische Situation darin zu bestehen, dass anarchistische Denkformen relative Verbreitung gefunden haben – allerdings unter völlig anderen Labels. Beispielhaft lässt sich dies am ‚kritischen Marxismus‘ beobachten, der ursprünglich anarchistische Ideen (Kritik der Partei etc.) übernommen hat, bei gleichzeitiger Verdrängung ihrer Herkunft.

Am Beispiel Johannes Agnolis, ehemals Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, möchte ich dieses Vorgehen aufzeigen. Gerade bei Agnoli ist die (allerdings nicht völlige) Anarchieverdrängung erstaunlich, da dieser sich doch erstens immer wieder gegenüber dem „Marxpfaffentum“ (Franz Mehring) abgrenzte: „Wenn in meinen Seminaren die Marxistische Gruppe auftaucht und sagt: ‚Johannes, was Du sagst, stimmt nicht mit Marx überein‘, dann antworte ich: ‚um so schlimmer für Marx!'“ (Agnoli 1984, 218). Zweitens mit seinem Projekt einer „Kritik der Politik“, das er als eine notwendige Ergänzung der Marxschen „Kritik der politischen Ökonomie“ verstand (Agnoli 1983, 186), in vielerlei Hinsicht durchaus anarchistische Positionen vertrat (Kritik der Partei, Kritik des Parlamentarismus, Kritik der Form Staat etc.).

Anhand von fünf Beispielen soll dieser Vorgang der Anarchieverdrängung dargestellt werden, bzw. die unzureichende Auseinandersetzung Agnolis mit anarchistischen Positionen.

1. Als erstes ein Beispiel, wie Agnoli die historischen Begebenheiten zugunsten Marx verfälscht, um Marx eine anarchistische Position zuzuschreiben. So findet sich in einem Interview aus dem Jahre 1984 (im Schwarzen Faden! – und vom Interviewer erstaunlicherweise unwidersprochen) folgende Bemerkung: „Marx hat in einem Punkt leider Recht behalten gegenüber Bakunin: Die Institutionen sind stärker als der Wille des Einzelnen. Die Institutionen entwickeln eine eigene Dynamik und Klebrigkeit.“ (Agnoli 1984, 217)

Zweierlei ist hier vor allem hervorzuheben. Erstens ist es Marx gewesen, der die Macht der Institutionen in fataler Weise unterschätzt hat, wie seine Ausführungen zu einer parlamentarischen Strategie der Arbeiterbewegung zeigen, die ja gerade gegen anarchistische Bedenken durchgesetzt wurde.

Liegt dieser doch die Vorstellung zugrunde, dass man den Einfluss im Staat dazu benutzen könnte, emanzipatorisch tätig zu sein. Engels empörte sich z.B. darüber, dass die „bakunistischen Internationalen“ noch „die revolutionärste Maßregel zurückzuweisen verpflichtet sind, sobald sie vom ‚Staat‘ ausgeht“ (Engels 1873, 480). Bakunin hingegen betonte immer wieder, dass „Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muss“ (Bakunin 1873, 281). Ganz in diesem Sinn heißt es im Protest der Allianz: „Es ist also klar, dass das Fehlen beständiger Opposition und Kontrolle unvermeidlich eine Quelle der Verdorbenheit für alle mit irgendeiner sozialen Macht betrauten Personen ist, und dass diejenigen unter ihnen, denen am Herzen liegt, ihre persönliche Moralität zu retten, Sorge tragen sollten, zunächst diese Macht nicht zu lange zu behalten und ferner solange sie dieselbe behalten, gegen sich selbst diese Opposition und heilsame Kontrolle ins Leben zu rufen.“ (Bakunin 1871a, 351)

Nicht Bakunin oder die AnarchistInnen, sondern die MarxistInnen haben immer wieder gemeint, sie könnten die Institutionen als instrumentelle Formen benutzen und ihnen ihre Inhalte aufprägen.

2. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie Marx erneut, diesmal eher implizit, aber gleichwohl zu Unrecht in die Nähe anarchistischer Positionen gerückt wird. So nimmt Agnoli die revolutionären Syndikalisten mit folgenden Worten in Schutz: „Die bürgerlichen Theoretiker sagen unisono, es sei für die revolutionären Syndikalisten bezeichnend, dass sie, weil sie die Wahlen boykottierten, den politischen Kampf ablehnten. Aber tatsächlich verstanden sie unter politischem Kampf etwas anderes, nämlich den zwar außerinstitutionellen, aber allerdings öffentlichen Kampf zur Zerschlagung von Kapital und Staat. – Die bürgerliche Gleichsetzung von Politik und Öffentlichkeit vermag sich unmöglich vorzustellen, was Karl Marx den Kommunismus nannte: eine Öffentlichkeit ohne politischen Charakter, das heißt eine Öffentlichkeit ohne Herrschaftsstrukturen.“ (Agnoli 1989/90, 73)

Bezieht sich Agnoli auch auf Marx‘ Vorstellung des Kommunismus und nicht auf Marx‘ Äußerungen zur politischen Strategie, wird Marx dennoch in die Nähe der Syndikalisten gerückt und gleichzeitig positiv gegenüber den ‚bürgerlichen Theoretikern‘ abgegrenzt.

Was Agnoli damit verschweigt, ist allerdings, dass die Kritik von Marx an den erwähnten politischen Strategien der von Agnoli erwähnten bürgerlichen Kritik zum Verwechseln ähnelt und zeigt, dass auch Marx in Auseinandersetzung mit dem Anarchismus einen etatistisch-beschränkten Politikbegriff vertrat. Das Ablehnen einer staats-politischen Strategie durch Teile der Internationale kommentiert Marx in seiner Schrift „Der politische Indifferentismus“ wie folgt: „Mit einem Wort, die Arbeiter sollen die Hände verschränken und ihre Zeit nicht für politische und ökonomische Bewegungen verschwenden.

(…) In ihrem alltäglichen praktischen Leben müssen die Arbeiter die gehorsamsten Diener des Staats sein, in ihrem Innern aber müssen sie auf das energischste gegen seine Existenz protestieren und ihm ihre tiefe theoretische Verachtung durch Kaufen und Lesen von literarischen Traktaten über die Abschaffung des Staats bekunden; sie müssen sich aber hüten, der kapitalistischen Ordnung einen anderen Widerstand entgegenzusetzen als Deklamationen über die Gesellschaft der Zukunft, in der die Existenz dieser verhassten Ordnung aufhören wird!“ (Marx 1873, 300)

Solcherart absurde Vorwürfe kommentierte Bakunin folgendermaßen: „Die Marxanhänger werfen uns vor, politische Kämpfe außer Acht lassen zu wollen und stellen uns fälschlicherweise als eine Art arkadische, platonische oder friedliebende, jedenfalls nicht als revolutionäre Sozialisten dar. Mit solchen Behauptungen über uns lügen sie ganz bewusst, denn sie wissen besser als sonst jemand, dass auch wir dem Proletariat empfehlen, sich mit Politik zu beschäftigen. Nur dass die Politik, die wir predigen, absolut auf die Massen bezogen und internationalistisch statt bürgerlich-national ausgerichtet ist und nicht die Gründung und Umgestaltung von Staaten, sondern deren Zerstörung zum Ziel hat.“ (zit.n. Eckhardt 2004, 47)

3. Zum dritten Beispiel. Hier geht es nicht um irgendwelche Verfälschungen oder falsche Suggestionen. Vielmehr zeigt sich, wie hier eine anarchistische Position vertreten wird, ohne diese kenntlich zu machen. So heißt es: „die Organisationsform einer auf Emanzipation gerichteten Bewegung soll die Bewegung vorwegnehmen. Eine revolutionäre Organisationsform, die stramm hierarchisch ist, wird eine stramm hierarchische Gesellschaft hervorbringen.“ (Agnoli 1988, 238)

Diese wohl vor allem auf das Leninsche Parteikonzept gemünzte Kritik findet man schon bei jenem libertären Flügel der Internationale, der gerade gegen Marx‘ Zentralisierungsversuche der Internationale im so genannten Jurazirkular betonte: „die künftige Gesellschaft soll nichts anderes sein, als die Verallgemeinerung der Organisation, welche die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also dafür sorgen, dass diese Organisation sich unserm Ideal so viel als möglich nähert“. (zit.n. Nettlau 1927, 193)

In Engels‘ Kommentierung dieser Schrift zeigt sich im Übrigen erneut das Unverständnis einer solchen Position: „Und namentlich keine disziplinierten Sektionen! ja keine Parteidisziplin, keine Zentralisation der Kräfte auf einen Punkt, keine Waffen des Kampfs! Wo bliebe da das Vorbild der künftigen Gesellschaft? Kurz, wohin kämen wir mit dieser neuen Organisation? Zu der feigen, kriechenden Organisation der ersten Christen, jener Sklaven, die jeden Fußtritt mit Dank hinnahmen und die nach dreihundert Jahren allerdings ihrer Religion durch Kriechen den Sieg verschafften – eine Methode der Revolution, die das Proletariat wahrlich nicht nachahmen wird!“ (Engels 1872, 478)

Weder erfahren wir bei Agnoli von der Herkunft dieser Kritik an der Parteiform, noch etwas darüber, dass diese Kritik gerade auch in Auseinandersetzung mit Marx und Engels formuliert wurde.

4. Das vierte Beispiel wäre eigentlich nicht der Rede wert, wenn es nicht zur generellen Anarchieverdrängung passen würde. Kommt Agnoli nämlich in seiner Vorlesung zur Geschichte der subversiven Theorie auf Prometheus zu sprechen, wird selbstverständlich auf Marx‘ Ausspruch verwiesen, wonach dieser den griechischen Gott als den „vornehmsten Heiligen“ gekennzeichnet hatte (Agnoli 1989/90, 37f.).

Kommt er aber auf Satan zu sprechen, den er ebenfalls „in die Geschichte des Subvertierens“ aufnimmt (Agnoli 1989/90, 38), wird dagegen nicht auf Bakunin verwiesen. Dabei beginnt doch dessen wohl bekannteste Schrift Gott und der Staat damit, Satan als „ewigen Rebell, (…) ersten Freidenker und Weltenbefreier“ lobend zu erwähnen (Bakunin 1871b, 34). Überspitzt: Wo immer es möglich ist, wird auf Marx zurückgegriffen und im Diskurs untergebracht, wo dies bei anarchistischen DenkerInnen möglich wäre, wird es versäumt.

5. Ein letztes. Es ist sympathisch – und Agnoli nimmt damit auch eine recht singuläre Position ein, dass er explizit für eine Wiederannäherung zwischen Anarchismus und Marxismus eingetreten ist. Allerdings versäumt Agnoli auch hier, diese Annäherung vor dem Hintergrund einer inhaltlichen Auseinandersetzung einzufordern. Stattdessen heißt es schlicht: „Es war die private Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin – beide waren übrigens autoritäre Personen -, die auch in eine organisatorische Auseinandersetzung mündete.“ (zit. n. Burgmer 2002, 16) Dass der Streit zwischen Anarchismus und Marxismus nur mit Marx und Bakunin zu tun habe, ist an sich schon absurd (was ist mit Proudhon, Stirner, Kropotkin, etc.?).

Wichtiger aber noch ist, dass Agnoli hier genau jene Marxsche Strategie reproduziert, die die Auseinandersetzung innerhalb der Internationale personalisierte (vgl. Eckhardt 2004, 99). Ein Unternehmen, gegen das sich nicht nur Bakunin (vgl. Eckhardt 2004, 81), sondern auch andere GegnerInnen von Marx vehement zur Wehr setzten (vgl. Eckhardt 2004, 131). Umso trauriger, dass diese Einebnung der Konflikte auch von AnarchistInnen vertreten wird – im Übrigen, ohne irgendwelche Beweise für eine solche Sicht des Konflikts anzuführen (so Bewernitz 2007, 22).

Agnoli (von dem hier nur ein kleiner Teil seines Werks in den Blick geriet) ist nur als ein Beispiel von vielen genannt (man denke an John Holloway, für den, was die Anarchismusverdrängung angeht, ähnliches gilt). Die Wertschätzung und Relevanz, die jedenfalls Denker wie Agnoli oder Holloway in den gegenwärtigen Debatten genießen, bieten vielleicht gute Anknüpfungspunkte für anarchistische Interventionen auf dem theoretischen Feld, indem man auf die (implizite) Schnittmenge zwischen deren und anarchistischen Positionen aufmerksam macht. So ließe sich zeigen, dass der Anarchismus keineswegs eine verstaubte Angelegenheit des 19. Jahrhunderts ist, sondern im Gegenteil von vielen durchaus angesehenen TheoretikerInnen implizit rezipiert und (zumindest in Teilen) übernommen wurde.

Freilich ist es weder sinnvoll noch macht es sonderlich attraktiv, wenn man sich besserwisserisch darauf beschränkt, den Anderen nachzuweisen, dass sie doch eigentlich AnarchistInnen seien. Man verwechsele diesen Nachweis auch nicht mit dem Wahrheitsgehalt der anarchistischen Theorie.

Denn dass diese selbst zu lernen und sich beständig selbst zu kritisieren hat, darf durch ein vermeintliches ‚durch die Geschichte im Recht sein‘ nicht aus dem Blick geraten.

Jedenfalls scheint mir das Nachweisen der Herkunft von bestimmten Denkfiguren ein vernünftiger Ausgangspunkt, um die inhaltlichen Debatten der Gegenwart mit einem Bewusstsein über die Geschichte des linken Denkens zu verbinden.

Literatur

Agnoli, Johannes (1983): 'Zwischen Bewegung und Institution. Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar.' In: Ders. 1968 und die Folgen. Gesammelte Schriften. Band 5. Freiburg, 1998. S.185-209.

Agnoli, Johannes (1984): 'Marx, der Staat, die Anarchie. Ein Gespräch mit Wolfram Beyer für die Zeitschrift "Schwarzer Faden".' In: Ders. 1968 und die Folgen. Gesammelte Schriften. Band 5. Freiburg, 1998. S.211-221.

Agnoli, Johannes (1988): 'Und immer noch kein Staatsfreund. Gespräch mit Clemens Nachtmann und Justus Wertmüller für die Zeitung Arbeiterkampf. In: Ders. 1968 und die Folgen. Gesammelte Schriften. Band 5. Freiburg, 1998. S.235-248.

Agnoli, Johannes (1989/90): Subversive Theorie. "Die Sache selbst" und ihre Geschichte. Gesammelte Schriften. Band 3. 2.durchgesehene und verbesserte Auflage. Freiburg, 1999.

Bakunin, Michael (1871a): 'Protest der Allianz.' In: Ders. Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Hg. von Horst Stuke. Frankfurt am Main, 1972. S.348-394.

Bakunin, Michael (1871b): Gott und der Staat. Berlin, 2007.

Bakunin, Michael (1873): Staatlichkeit und Anarchie. Berlin, 2007.

Bewernitz, Torsten (2007): 'Give the anarchist a theory. Renaissance des libertären Kommunismus?' In: Grundrisse Nr. 24, S.21-29.

Burgmer, Christoph (2002): Das negative Potential. Gespräche mit Johannes Agnoli. Freiburg.

Eckhardt, Wolfgang (2004): Michail Bakunin. Konflikt mit Marx. Teil 1: Texte und Briefe bis 1870. Berlin.

Engels, Friedrich (1872): 'Der Kongress von Sonvillier und die Internationale.' In: MEW 17. S.475-480.

Engels, Friedrich (1873): 'Die Bakunisten an der Arbeit.' In: MEW 18. S.476-493.

Marx, Karl (1873): 'Der politische Indifferentismus.' In: MEW 18. S.299-304.

Nettlau, Max (1927): Geschichte der Anarchie. Band 2. Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880. 1993.