anarchismus

So was gibt’s noch?

5. Anarchietage in Winterthur

| Felix Blind

Ja, so was gibt es noch! Zukunftsorientierte, emanzipatorische Libertäre. Auch in der Schweiz? Vor allem in der Schweiz. Die Libertäre Aktion Winterthur (LAW) lädt nach der ersten libertären Buchmesse in Winterthur gleich noch zum geselligen Beisammensein und Lernen; zu den bereits 5. Anarchietagen. Und nichts von bekämpft, zerschlagt und nehmt euch sonst was. Das Programm war eine reine Beschäftigung mit sich selbst: Welche Diskussionen stehen an? Wie muss die libertäre Theorie verändert werden, um modern zu sein? Und modern meint mal nicht, wie der Finanzkrise am besten getrotzt werden könnte.

Winterthur ist ein gutes Pflaster für Libertäre. Sechs besetzte Wohnprojekte, von Ranzig bis Bauernhof, die Kollektivkneipe „Zum Widder“, Sprayer, Autonome und natürlich die LAW. Wir entschieden uns für die sozialrevolutionäre Pension „Gisi“ in der Namen gebenden General Guisanne Straße. Ohne Reservierung bekommt mensch dort auch kurzfristig und unkompliziert ein Zimmer.

Mein Bild von dieser Stadt war vom ersten Tag an gut. Erst einmal ausschlafen, noch einen Willkommenstee mit Schuss getrunken und los zur alten Kaserne, die ganz anders aussieht als gedacht.

Die alte Kaserne ist ein schnuckeliges Fachwerkhaus, welches manchem autonomen Revolutionsromantiker zu spießig sein dürfte. Außerdem ist es sauber und etwas, das in Deutschland Bürgerhaus genannt werden würde.

Die Anarchietage zwischen Schach für Rentner und Yoga für Manager. Diskussion, wie sie sein soll: in der Mitte der Gesellschaft, erstes Obergeschoss nach rechts wenden.

Anders als in libertären Kontexten in Deutschland geht es bei den Anarchie-Tagen weniger um hierarchiefreies Organisieren und Handeln – auch wenn das natürlich allen Beteiligten am Herzen liegt – sondern mehr um die Diskurse, denen sich eine libertäre Bewegung zu stellen hat, die sie aufnehmen und fortführen sollte.

Der Schwerpunkt in der Alten Kaserne in Winterthur lag dann darauf, wie AnarchistInnen eine Gesellschaft gestalten können, die sie auch wollen, im Gegensatz zu der Abwehr einer Gesellschaft, die wir nicht wollen.

Vor dem Vortrag zum Thema „Anarchie und Sex“ von Rudolph Mühland wurde dann auch noch einmal seitens der LAW betont, wie sie sich zu Kommerzialisierungsvorwürfen verhält: Polemisch; die LAW wüsste von diesen Vorwürfen, habe sich aber entschlossen, dann dem Ruf erst recht treu zu bleiben, und eben einen Reißer wie „Anarchie und Sex“ zu veranstalten.

Die Schwerpunkte sind andere in Alpennähe

Begonnen aber wurde erst einmal mit einem regionalen Thema: „Der Antisemitismus der Schweizer Fröntler – Worin unterschied sich der Antisemitismus der Fröntler von jenem von Katholisch-Konservativen und von Freisinnigen?“

Hans Stutz berichtete über die Vergangenheit und Gegenwart dieser Antisemiten. Der Raum blieb jedoch wenig gefüllt.

Mensch mag es den vielen Gästen aus Deutschland, die zu den Anarchie-Tagen anreisten – und denen das Thema unter Umständen etwas fern ist – oder den bereits informierten Menschen vor Ort in Rechnung stellen. 25 Menschen und noch nicht wirklich Interesse in Form von Fragen oder Diskussion. (Anm. d. Setzerin: Doch, es gab Fragen, du hast aber gepennt)

Wesentlich reger war da schon die Beteiligung bei Simone Otts Illustrationen zu den verschiedenen Widerstandsaktionen gegen mutierte Saaten. Sie hatte sich an diversen Aktionen beteiligt und konnte einen guten Überblick geben. Von den Freiwilligen Feldbefreiungen der Initiative Gendreck weg! über Gegensaaten und vor allem Feldbesetzungen, um bereits zu verhindern, dass gesät werden kann. Aber so richtig überwältigt waren die ZuschauerInnen und -hörerInnen immer noch nicht. Zu viel Wissen über die Widerstände steckt wohl schon in den Köpfen der AnarchistInnen hierzulande, zu fern ist der Diskurs über Hybridisierung und Co. bei den Schweizer GenossInnen. Zumindest ersteres empfinde ich als sehr positiv, ist aber auch kaum anders denkbar nach den umfassenden Mobilisierungen und Info-Veranstaltungen, gerade in 2008. Außerdem scheint die Schlechtigkeit der Gen-Tech-Konzerne erwiesen. Kein Funke, an dem sich eine kontroverse Diskussion entzünden könnte.

„Wir sind gegen mutiertes Saatgut, wir werden die Saat verhindern“ ist vielleicht das einstimmige Motto des Abends.

Und beinahe hatte ich das ungute Gefühl, jetzt wüssten wir alles, jetzt hätten wir eine abgesicherte Theorie in allen Bereichen und ich würde doch wieder nur bestätigt, kam eben der oben schon erwähnte Reißer „Anarchie und Sex“.

Rudolph Mühland schilderte mit anschaulichen, persönlichen Beispielen (einigen zu persönlich) die gesamte Problematik, die sich für Libertäre mit dem Begriff „Sex“ verbinden könnte und vielleicht müsste: von BDSM über Gender-Debatten bis zur asexuellen linken Prüderie und Dresscode.

Essentials, die offenbar keine sind

Zu dieser Veranstaltung fanden sich zum ersten Mal mehr Menschen ein, als Stühle vorhanden waren. Und zum ersten Mal während der diesjährigen Anarchie-Tage gab es kontroverse Debatten über das vorgestellte Thema.

Dabei waren es weniger die sexuellen Praktiken, die besonders angeregt diskutiert wurden. Etwa ob und wie weit Grenzen beim Sex ausgereizt und verschoben werden können, sollen und können sollen, oder ob Gewalt zur beid- oder mehrseitigen Befriedigung legitimiert werden kann.

Besonders wichtig scheinen die Tabus und Dogmen, die gerade in linken Zusammenhängen bestehen, sowie die eigene Unzulänglichkeit, also der Spalt zwischen eigenem emanzipatorischen Anspruch und gelebten menschlichen Beziehungen, zu sein.

Immer noch wird augenscheinlich nicht offen genug miteinander umgegangen, oder Probleme mit Sexualität und Beziehungen werden in ein wie auch immer geartetes Privates abgeschoben, und können somit für den politischen Alltag als unbedeutend beurteilt werden. Einige hatten das Gefühl, es würde der Druck in ihnen aufgebaut, mensch müsse jetzt polygam o.ä. werden, weil es anders ist, als die vorherrschenden sexuellen Ausrichtungen der Gesellschaft. Darüber wurde auch lang gesprochen.

Ebenfalls als unbedeutend und zur Not auch als Nebenwiderspruch bezeichnet wird auch das Thema Tierrechte und Antispeziesismus, welches die Tierrechtsgruppe Zürich am Donnerstag in ihrem Vortrag „Tierrechte und soziale Revolution“ aufgearbeitet hatte. Sie boten einen breiten Überblick über das doch etwas leidliche Thema. Immerhin geht es der Tierrechtsgruppe Zürich darum, sich sowohl von FaschistInnen wie der „AG Tierrecht“, von Sekten wie „Universelles Leben“ und radikalen AntispeziesistInnen, deren Eifer und moralische Beschuldigungen bei Zeiten bis in religiöse Dogmen reichen, abzugrenzen und dennoch einen Vorschlag für eine normative Ethik innerhalb herrschaftsfreier Strukturen anzubieten. Im Vortrag und gerade auch in der anschließenden Diskussion wurde auf das „So weit wie möglich herrschaftsfrei“ eingegangen. Gerade die anwesenden GärtnerInnen zeigten sich sehr interessiert ob dieser Problematik.

Die Forderungen der AntispeziesistInnen nach veganer Lebensart umfassen vor allen Dingen erhebliche Änderungen der Nahrungsgewohnheiten.

Und mehr noch: Auch Kleidung, Medikamente und Technik in allen Spielarten müssten überdacht und verändert werden. Das Argument, welches anmerkt, dass nicht einmal auf diese Weise Hierarchien zwischen den Spezies völlig abgebaut werden können. Mensch denke an die Mäuse, die eben die Vorratskammer plündern wollen, oder die Würmer im Boden, der gepflügt werden soll. Das schreckt viele Menschen von der Problematik ab, und weniges geht in interne Diskussionen innerhalb anarchistischer Zusammenschlüsse ein.

Anlässlich der Anarchietage wurde aber dennoch rege um Sinn oder Unsinn veganer und antispeziesistischer Ethik-Forderungen gestritten.

Bleibt zu hoffen, dass diese Diskussionen mehr Einzug in den „libertären Mainstream“ finden. Hier zeigt sich, wo noch gebastelt und gearbeitet werden muss, damit der Anarchismus modern und authentisch bleibt.

Am Freitag Abend kamen wir noch in den Genuss eines Vortrags von außerhalb; außerhalb des herrschaftsfreien Diskurses. Ulrich Klemm berichtete über die Einstellung, welche ihn zu seinem Buch „Mythos Schule“ und zur Gründung der Montessori Schule Nürnberg bewogen hat: die Liberalisierung der Bildung. Bzw. dann vielleicht des Bildungsmarktes?

Dies versuchte er den anwesenden StaatsgegnerInnen mit verschiedenen Studien der Europäischen Union und PISA-Studie näher zu bringen. Empfohlen wurde hier als Nonplusultra der antiautoritären Pädagogik der Film „Treibhäuser der Zukunft“ von Reinhard Kahl, dem aber wohl keine eigene Besprechung gebührt.

Tagungen wie die Anarchietage halten die Bewegung lebendig. Gerade deswegen ist es schade, dass nur knapp 100 Personen irgendwie daran beteiligt waren.

Die Vorträge hätten sich auch für die restlichen AnarchistInnen gelohnt und werden sicherlich Wellen schlagen und Denkanstöße schaffen.