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Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg

| Katja und Nicolay

Kommunikation ist nicht nur notwendig, um soziales Miteinander zu organisieren, sie ist in ihren unterschiedlichen Ausprägungen häufig ein Bedürfnis. Kommunikation ermöglicht nicht nur den Austausch von Informationen, sondern auch das sich Mitteilen, das Aufbauen menschlicher Beziehungen und die Entwicklung der eigenen Identität. Kommunikation findet alltäglich, häufig unreflektiert statt: Beim Sprechen und Zuhören, in Gestik und Mimik, in Gedanken und beim Schweigen. Wie beeinflusst Kommunikation unser Befinden, Denken und Handeln? Wie wollen wir über Kommunikation mit anderen in Kontakt treten?

Die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation

Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg ist mehr als eine Werkzeugkiste. Die Methoden isoliert betrachtet können missbräuchlich auch zu gewaltvollen Zwecken, wie dem Einreden von Schuldgefühlen oder emotionaler Erpressung eingesetzt werden. Schwerpunkt der GFK ist deshalb die Haltung, in der die Kommunikation stattfindet. Die Methoden sind ein Weg, sich dieser Haltung übend anzunähern. Teil der Haltung ist es, sich ergebnisoffen im Prozess des Verbindungsaufbaus mit dem Gegenüber zu befinden, und nicht das Überstülpen einer Meinung. Ein weiterer Teil ist der Abbau von Feindbildern, das empathische Zuhören ausgehend von der Annahme, dass alle Menschen die gleichen Grundbedürfnisse haben und stets so handeln, wie es ihnen aktuell als die beste Möglichkeit der eigenen Bedürfnisbefriedigung erscheint. Im Gegensatz zur heute üblichen von komplizierten gesellschaftlichen Konventionen, missverständlichen Andeutungen und Unausgesprochenem durchsetzten Sprache ist GFK eine sehr direkte, einfache und klare Art des sich Verständigens.

Ohne den beiden Tieren Eigenschaften zuschreiben zu wollen nennt Rosenberg zur Vereinfachung seiner Erklärungen Sprache nach GFK „Giraffensprache“ und im Gegensatz dazu gewaltvolle Sprache „Wolfssprache“. Wolfssprache zeichnet sich unter anderem durch das Denken in Schuld und Unschuld, Richtig und Falsch, das Aufrechnen von Gefallen, (moralisches) Verurteilen, Bewerten und Leugnen von Verantwortung aus.

Eine Methode der Giraffensprache, die hilft, sich eine im Sinne der GFK veränderte Denkweise anzueignen, ist die der vier Schritte: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte. Diese Schritte können beispielsweise beim aktiven Zuhören, zur Kommunikation der eigenen Situation, zur Selbstklärung, beim Ausdruck von Wertschätzung oder auch beim Schreien in Situationen extrem unbefriedigter Bedürfnisse eingesetzt werden. Rosenberg ermutigt, sich mit der Übung nach und nach von dem schematischen Vorgehen zu lösen und die vier Schritte in den eigenen „Slang“ zu übersetzen.

Beobachtung

In Wolfssprache wird statt einer Beobachtung häufig eine Bewertung oder ein Vorwurf geäußert: „Du bist immer zu spät.“ Problematisch an dieser Art der Kommunikation ist die Annahme eines von außen gesetzten „richtig“ (oder „zu spät“). Zudem erzeugen Bewertungen beim Gegenüber meist eine Abwehrhaltung, sodass das Gespräch an dieser Stelle schon zu Ende sein kann. In der GFK wird statt dessen versucht, wertfrei zu beobachten oder zu zitieren. Wenn auf eine Äußerung Widerspruch möglich ist, handelt es sich eher um eine Bewertung als um eine Beobachtung. In Giraffensprache könnte der obige Satz lauten „Du bist letzte Woche zweimal nach 20 Uhr angekommen“.

Gefühl

In der Wolfssprache werden statt eines Gefühls häufig Gedanken und Interpretationen geäußert: „Ich fühle mich herabgesetzt und missverstanden.“ „Wir haben Dich nicht angegriffen.“ Bedenklich dabei ist, dass der/die Sprecher_in sich als Opfer der Handlungen des Gegenübers darstellt und durch die Anmaßung einer Interpretation der Handlungsweise des Gegenübers möglicherweise Abwehr erzeugt. Gefühle sind Signale für erfüllte oder unerfüllte Bedürfnisse und damit ein wichtiges Zeichen beim bedürfnisorientierten Umgang miteinander. Um zu testen, ob es sich bei einer Äußerung um ein Gefühl und nicht um eine Interpretation handelt, kann geprüft werden, ob sich das gesagte in „ich bin …“ umformulieren lässt. Beispiele in Giraffensprache sind „Ich bin beunruhigt, verbittert, wütend, ängstlich, deprimiert, optimistisch …“

Bedürfnis

Unter Bedürfnissen werden in der GFK allen gemeinsame Grundbedürfnisse wie Nahrung, Autonomie, Klarheit, Unterstützung, gesehen Werden, beitragen Können oder Freude verstanden. Statt ein Bedürfnis als Ursache für die eigenen Gefühle zu benennen, wird in Wolfssprache häufig die Verantwortung für die eigenen Gefühle dem Gegenüber zugeschoben: „Wir kommen nicht weiter, weil Du dazwischen quatschst.“ Das ist die aus meiner Sicht problematische Sprache der Schuld und Unschuld. Wölfe präsentieren zudem alternativlose Strategien wie „ich will, dass Du heute bei mir bleibst“, anstatt das dahinter liegende Bedürfnis (Gemeinschaft) zu benennen, was wegen des universellen Charakters der Bedürfnisse im Gegensatz zu individuellen Strategien Verständigung fördert. Die Kommunikation über Bedürfnisse eröffnet viele Handlungsperspektiven. Um zu testen, ob es sich bei einer Äußerung um ein Bedürfnis oder eine Strategie handelt, kann geprüft werden, ob das Gesagte frei von Zeit-, Orts- oder Personenangaben ist. Ein Beispiel in Giraffensprache ist: „mir ist es wichtig, konzentriert an diesem Thema zu bleiben“.

Bitte

Als abschließender Schritt empfiehlt die GFK, eine konkrete ausführbare Bitte zu äußern, um dem Gegenüber klar zu machen, wie es zu meinem Wohlbefinden beitragen kann. „Sei bitte fair“ ist zu unkonkret und wird daher eher als Kritik verstanden werden oder mit „bin ich doch“ abgeschmettert werden. Wölfe versuchen häufig mittels Schuldgefühlen das Gegenüber zur gewünschten Handlung zu bewegen: „Wenn Du mich wirklich lieben würdest …“. Da mir wichtig ist, dass das Gegenüber sich aus Eigenmotivation zu seiner Handlung entscheidet, halte ich diese Vorgehensweise für sehr bedenklich. Der Unterschied zwischen Forderung und Bitte wird übrigens erst in meiner Reaktion auf ein „Nein“ des Gegenübers deutlich. Die Testfrage lautet hier: „Ist die Bitte konkret machbar und überprüfbar?“. Neben Handlungsbitten lautet eine typische Giraffenbitte „kannst Du mir bitte mitteilen, was Du mich hast sagen hören“, um sicher zu stellen, dass das Gesagte nicht doch als Kritik gehört wurde.

Die „vier Ohren“

GFK ist nicht nur eine Methode des Sprechens, sondern auch eine des Zu_hörens. Um für unterschiedliche Arten des Zuhörens zu sensibilisieren, zeigt Marshall B. Rosenberg anschaulich, wie mensch sich bewusst entscheiden kann, wie sie_er das Gehörte aufnehmen will: Ich kann mich zwischen den in der GFK so genannten „vier Ohren“ entscheiden. Entscheide ich mich für die Wolfsohren nach innen, so gebe ich mir selbst Schuld, mache mir Vorwürfe oder schäme mich. („Ach, er hat ja so Recht, ich bin wirklich eine totale Versagerin.“) Wähle ich die Wolfsohren nach außen, so lehne ich jede Verantwortung ab, gebe dem Gegenüber die Schuld und mache ihm wütende Vorwürfe. („Jetzt reicht’s mir! Du bist ja selber Schuld, wenn Du mir nicht klar sagst, was Du willst.“) Setze ich die Giraffenohren nach innen auf, so achte ich auf meine eigenen Bedürfnisse und kommuniziere diese. („Ich bin jetzt echt irritiert, weil mir Ehrlichkeit und Klarheit wichtig ist.“) Die vierte Entscheidungsmöglichkeit sind die Giraffenohren nach außen. Dabei achte ich auf die Bedürfnisse des Gegenübers und gebe diesem Empathie (Einfühlung). („Bist Du ärgerlich, weil Du Zuverlässigkeit in der Organisation brauchst?“)

Empathie

Einfühlung (oder Empathie) ist ein wichtiger Teil der GFK, der in unterschiedlichen Phasen der Kommunikation und in zwei Ausprägungen – als Selbsteinfühlung und Fremdeinfühlung – vorkommt. Empathie bedeutet zuzuhören, durch volle Präsenz Aufmerksamkeit zu schenken, wertfrei wahrzunehmen, durch aktives Zuhören und Nachfragen zusätzliche Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten zu eröffnen, einzufühlen. Empathie bedeutet nicht, ungefragt von eigenen Erfahrungen zu berichten, Ratschläge zu geben und auch nicht Sympathie (Mitfühlen) zu bekunden („ich verstehe dich und fühle mit dir“), denn diese drei Strategien lenken die Aufmerksamkeit weg von der sprechenden Person auf mich. Auch Nicken, Kopfschütteln oder ähnliche Reaktionen können die Empathie stören.

Empathisch zu zuhören bedeutet die sprechende Person zu begleiten ohne ihr Lösungsvorschläge zu unterbreiten. (Diese können möglicherweise später, wenn das Bedürfnis der sprechenden Person wahrgenommen zu werden erfüllt ist, in Form einer Bitte geäußert werden.) Die Idee hinter dieser Art des Zuhörens ist, dass jede Person die Lösungen für ihre Anliegen selbst in sich trägt. Die zuhörende Person kann in Sprechpausen mitteilen, welche Gefühle und Bedürfnisse sie in dem Gesagten gehört hat. Selbst wenn dies nicht dem entspricht, was die sprechende Person fühlt und bedarf, so kann dadurch dennoch eine Verbindung sowohl zwischen den beiden Personen als auch zwischen der sprechenden Person und ihren Gefühlen und Bedürfnissen entstehen.

In einer Situation, in der durch eine Äußerung oder einen anderen Umstand eines oder mehrere meiner Bedürfnisse nicht erfüllt sind, kann ich die vier Schritte der GFK in vier Phasen anwenden. In der ersten Phase gebe ich mir Empathie, um meine Gefühle anzuerkennen, meine Bedürfnisse klar zu bekommen und neue Kraft zu sammeln: Was ist passiert? Wie geht es mir damit? Was ist mir jetzt wichtig? In der zweiten Phase versuche ich mit stiller Fremdeinfühlung meine das Gegenüber betreffenden Feindbilder abzubauen und mich auf die geplante Kontaktaufnahme einzustellen: Wie fühlt sich das Gegenüber und was braucht es jetzt? Wenn dies geschafft und der Ärger gegen das Gegenüber sich in Trauer um nicht erfüllte Bedürfnisse gewandelt hat, kann in der dritten Phase offen Empathie gespendet werden: „Bist Du aufgeregt, weil Dir Sicherheit bei der Aktion wichtig ist?“ Häufig ist das Gegenüber verwundert über die Aufmerksamkeit. Rosenberg empfiehlt, erst wenn das Gegenüber nach einigen Nachfragen beispielsweise durch tiefes Durchatmen zeigt, dass es sich verstanden fühlt, in Phase vier, das Äußern eigener Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten überzugehen. „Wenn du mich ’schwach‘ nennst, bin ich wütend, weil ich gerne mit meinen Stärken gesehen werden und beitragen möchte. Was denkst Du dazu?“

GFK als Keimform des bedürfnisorientierten und gewaltfreien Zusammenlebens?

Laut Rosenberg kommen 90% der Trauer, die wir täglich empfinden, aus Wolfsdenken, das heißt aus gegen uns selbst gerichtete Gewalt, hingegen nur 10% aus unerfüllten Bedürfnissen. Was wird geschehen, wenn wir das Giraffendenken üben, laut unsere Gefühle rausschreien, neue Bedürfnisse entdecken und diese selbstbewusst kommunizieren? Was, wenn wir uns dazu gewaltfrei mit anderen zusammenfinden, uns gegenseitig empathisch bestärken und gewaltfreie, bedürfnisorientierte Strukturen aufbauen?

In der nächsten Ausgabe der Graswurzelrevolution werden sich weitere Artikel zur GFK finden. Dabei werden Zusammenhänge, Differenzen und Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung zwischen gewaltfreier Kommunikation und anarchistischer Praxis beschrieben werden. Ein weiterer Artikel wird von Erfahrungen mit dem Einsatz von GFK in der (politischen) Praxis berichten.