Am 30. August ist der Schriftsteller Horst Stowasser im Alter von 58 Jahren in einem Ludwigshafener Krankenhaus an einer Sepsis gestorben. Acht Tage später fand eine bewegende Trauerfeier statt. Anknüpfend an die Trauerreden von Bernd Elsner (Projekt A), Lutz Schulenburg (Nautilus), Andreas Hohmann (FAU/Edition AV) und Dieter vom Eilhardshof hat der GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke eine Trauerrede gehalten, die zusammen mit vielen Texten, Filmen und Tondokumenten auf der Horst Stowasser-Gedenkseite dokumentiert wurde. (1) In dieser GWR drucken wir neben dem folgenden Nachruf von Bernd Drücke die Trauerreden von Lutz Schulenburg und Bernd Elsner, sowie die Erinnerungen von Marianne Enckell (GWR-Red.).
Die Polizei war präsent, hielt sich aber dezent im Hintergrund, als am Montag, den 7. September 2009 um 10 Uhr morgens auf dem Friedhof in Neustadt an der Weinstraße rund 300 Freundinnen und Freunde Abschied genommen haben von einem lieben und geliebtem Menschen, dem großartigen Schriftsteller und Anarchisten Horst Stowasser.
Ich erinnere mich gerne an Horst.
Seit ich am 30. August die Nachricht von seinem Tod erhalten habe, bin ich erschüttert.
Sein Tod macht mich traurig.
Es ist unfassbar, dass er so plötzlich und unerwartet gestorben ist.
Er stand mitten im Leben
Wenige Tage vor seinem Tod haben wir noch ausgiebig telefoniert. Horst wollte eine Rezension für die Libertären Buchseiten und einen weiteren Artikel für die Graswurzelrevolution Nr. 342 schreiben, über das generationsübergreifende Wohnprojekt „Eilhardshof“, das er in Neustadt mit vielen Freundinnen und Freunden ins Leben gerufen hat.
Gemeinsam wollten wir auch das etwas angestaubte Layout der Graswurzelrevolution überarbeiten. Er steckte voller Lebenskraft und Tatendrang – seiner Kinderlähmung zum Trotz.
Seine große Menschenfreundlichkeit und sein Optimismus waren mitreißend. Er war ein unermüdlicher Säer anarchistischer Utopien. Ein toleranter, genießender und großherziger Mensch. Sektierertum und Dogmatismus waren ihm fremd.
Stattdessen begegnete er allen Menschen mit einer großen Offenheit, unabhängig von ihrer Weltanschauung. Er konnte gut zuhören, reden, diskutieren, Menschen integrieren und begeistern. Ganz im Sinne Gustav Landauers war Anarchie für ihn keine Sache der Forderungen, sondern des Lebens.
Horst wird uns fehlen
Geprägt wurde der sprachgewandte Agitator des freiheitlichen Sozialismus nicht zuletzt durch Weltreisen und seine Kindheit, die er mit seinem älteren Bruder Klaus und seinen Eltern in Deutschland und später in Argentinien verbrachte. In Argentinien kam er als Schüler durch einen Lehrer erstmals in Berührung mit anarchistischer Literatur.
Seit 1969 engagierte er sich in der anarchistischen Bewegung, nahm an wichtigen internationalen Treffen und Kongressen teil. Aufgrund libertärer und antimilitaristischer Agitation saß er zeitweise im Gefängnis. Ähnlich wie in den 20er und 30er Jahren der Pazifist Kurt Tucholsky und der Anarchopazifist Ernst Friedrich, wurde in den 80er Jahren auch Horst Stowasser immer wieder aufgrund der Verwendung des Satzes „Soldaten sind Mörder“ kriminalisiert.
Horst war seit den 70er Jahren durch die von ihm mitgeprägten Bewegungszeitungen, durch seine Vorträge und Bücher der wohl einflussreichste Anarchist in Deutschland.
Auch bei meiner persönlichen Politisierung spielte er eine große Rolle. Anfang der 80er Jahre habe ich das vor allem von ihm verfasste Buch „Was ist eigentlich Anarchie?“ (2) aus dem Berliner Karin Kramer Verlag gelesen.
Seitdem verstehe ich mich als Anarchist. Als ich 1986 sein Standardwerk „Leben ohne Chef und Staat“ (3) zum ersten Mal gelesen habe, war ich 20 und begeistert. So lebendig und klar, ohne verschwurbelte Fachtermini, ohne soziologenchinesische Tendenzen – so wie Horst schreiben leider nur wenige AnarchistInnen.
Inspiriert unter anderem durch das Lebenswerk des am 2. Mai 1919 ermordeten Anarchisten Gustav Landauer entwickelte Horst die Idee vom Projekt A. Seine Vorstellungen vom „Projektanarchismus“ zielten auf die Verankerung libertärer „Doppel-Projekte“ im Alltagsleben einer Kleinstadt. Ziel war der Aufbau und die Vernetzung dezentraler, ökologischer und anarchistischer Strukturen, die wirtschaftlich, kulturell und politisch wirken. Der „Projektanarchismus“ sollte Arbeits- und Wohnmöglichkeiten in kollektiver Selbstverwaltung schaffen.
Ab 1989 wurde unter anderem in Wetzlar, in Alsfeld, in Neustadt an der Weinstraße sowie weiteren Orten im In- und Ausland versucht, das Projekt A zu realisieren.
In Horsts Wohnort Neustadt gab es vor der Krise des Projektes Mitte der 90er Jahre 14 selbstverwaltete Betriebe, von denen etwa die Hälfte bis heute überlebt und sich im „Werk Selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen“ (WESPE) zusammengeschlossen haben.
Horst Stowassers „Projekt-A-Buch“ (4) wurde seit Erscheinen 1985 konspirativ verbreitet. Es hatte aber dennoch einschlagende Wirkungen. Auch in meiner Wahlheimatstadt Münster spielte es als Inspirationsquelle z.B. bei der Gründung von libertären Zentren und Projekten eine große Rolle.
Die bundesweiten, szeneinternen Konflikte um das Projekt A führten allerdings dazu, dass sich Horst ab 1995, nach Erscheinen seines „Freiheit pur“-Wälzers (5), 10 Jahre lang enttäuscht aus der libertären Szene zurückzog. Er kümmerte sich liebevoll um seine Kinder, arbeitete viel und verdiente zeitweise gutes Geld in der Werbebranche. Aber er verfasste 10 Jahre lang keine Artikel für anarchistische Zeitungen und er schrieb keine Bücher mehr.
Als ich in den 90er Jahren meine Doktorarbeit über Anarchistische Presse geschrieben habe, konnte ich zig Bewegungs-Archive in Europa besuchen und dort libertäre Schätze auftun. Natürlich habe ich zu jener Zeit auch mehrfach Horst Stowasser angeschrieben, um das von ihm 1971 gegründete, legendäre „AnArchiv“ zu besuchen. Ich bekam damals keine Antwort. Es war die Zeit, in der er die Schnauze voll hatte von der anarchistischen Szene.
Trotzdem habe ich in diversen Bewegungsbibliotheken 500 verschiedene Periodika gefunden und auswerten können, darunter auch viele, an denen Horst in den 70er und 80er Jahren beteiligt war – z.B. die anarchosyndikalistische direkte aktion, die 1977 gegründet wurde und heute immer noch alle zwei Monate als bundesweites Sprachrohr der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) erscheint.
„Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?“ (6), der als Frage formulierte Titel der 1998 veröffentlichten Buchfassung meiner Dissertation, bezieht sich auf eine Stowasser-These. In „Freiheit pur“ hatte Horst geschrieben, der Anarchismus in Deutschland bewege sich „seit 20 Jahren im Wesentlichen nur zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht“. Diese These habe ich in meiner Studie verworfen. Und letztlich tat das auch Horst. Nicht zuletzt inspiriert auch durch seine Werke, entstanden nämlich viele Projekte, darunter Kommunen, libertäre Zentren und selbstverwaltete Wohnprojekte, wie der generationsübergreifende Eilhardshof in Neustadt.
Im November 2005 habe ich ein einstündiges Radiointerview mit Horst geführt. Es wurde im Bürgerfunk auf Antenne Münster in zwei Teilen ausgestrahlt (7), erschien gekürzt in der Graswurzelrevolution Nr. 304 und in einer überarbeiteten und erweiterten Version in dem Interviewband „ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert“ (8).
In vielen Gesprächen und bei gemeinsamen Veranstaltungen in Münster und Könnern entwickelte sich eine tiefe Freundschaft.
Ich bin froh, dass ich Horst dazu motivieren konnte, Artikel für die Graswurzelrevolution zu schreiben und sein Standardwerk „Freiheit pur“ zu aktualisieren und um weitere Kapitel zu ergänzen. „Freiheit pur“ heißt jetzt „Anarchie!“ (9). Es ist das beste Buch zum Anarchismus, das im Deutschland des 21. Jahrhunderts bisher erschienen ist.
Während „Der Kleine Stowasser“ ein Buch ist, mit dem seit Generationen Latein-Schülerinnen und Schüler gequält werden, ist „Der Große Stowasser“ (10) ein Werk, das Generationen von Anarchie-Begeisterten hervorbringen wird.
Horst ist gestorben. Aber sein Traum von einer herrschaftslosen Gesellschaft, von einem Leben ohne Chef und Staat, ist lebendig.
Wir sollten alles tun, damit dieser Traum Wirklichkeit wird.
Ich schließe mit einem Zitat des 1934 von den Nazis ermordeten Anarchisten Erich Mühsam: „Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen, Menschen, lasst die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen.“
(1) Horst Stowasser ist tot - Die Erinnerung an ihn lebt! Gedenkseite mit Videos, Texten, Radiosendungen und Fotos: http://dadaweb.de/wiki/Horst_Stowasser_-_Gedenkseite
(2) Autorenkollektiv (Hg.): Was ist eigentlich Anarchie?, Karin Kramer Verlag, Berlin 1981, ISBN 3-87956-700-X
(3) Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. 14. Auflage. Karin Kramer Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-87956-120-6
(4) Das Projekt A, An-Archia, Wetzlar 1985
(5) Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft. Eichborn, Frankfurt/M. 1995
(6) Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, ISBN 3-934577-05-1
(7) Die zweiteilige Radio-Sendung vom 7.11.2005 wurde im September 2009 erneut gesendet und ist online zu finden:
Teil 1 (Archiv-Nr. 29800)
Teil 2 (Archivnr. 29801)
(8) Projekt A / Plan B. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Horst Stowasser; in: Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert; Karin Kramer Verlag, Berlin 2006; ISBN 3-87956-307-1; S. 233-247
(9) ANARCHIE!. Idee, Geschichte, Perspektiven. 2. Auflage. Edition Nautilus, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89401-537-4
(10) Der Große Stowasser, Rezension von Bernd Drücke zu Horst Stowassers ANARCHIE!. Idee, Geschichte, Perspektiven, in: GWR 322/Libertäre Buchseiten, Oktober 2007, www.graswurzel.net/322/stowasser.shtml
Horst Stowasser, ausgewählte Artikel und Interviews in der Graswurzelrevolution (GWR)
Kritik am Staat, in: GWR Nr. 200/1995, S. 13
Projekt A / Plan B, Interview mit Horst Stowasser, von Bernd Drücke, in: GWR 304/2005, S. 1, 10f., www.graswurzel.net/304/stowasser.shtml
Barcelona, 70 Jahre "danach" (Teil 1), in: GWR 311/2006, S. 1, 14-15, www.graswurzel.net/311/barcelona.shtml
Barcelona, 70 Jahre "danach" (Teil 2), in: GWR 312/2006, S. 16-17 (Teil 1 & 2 finden sich auch in: Horst Stowasser, Anti-Aging für die Anarchie? Das libertäre Barcelona und seine anarchistischen Gewerkschaften 70 Jahre nach der Spanischen Revolution - Eine Reportage, Verlag Edition AV, Lich 2007, ISBN 3-936049-72-6), www.graswurzel.net/312/barcelona.shtml
Projekt "Eilhardshof", in: GWR 319/2007, S. 1, 6, www.graswurzel.net/319/eilhardshof.shtml
Das AnArchiv - Ende einer Odyssee?, in: GWR 319/2007, S. 6
Der "Schwarze Block", in: GWR 320/2007, S. 1, 7, www.graswurzel.net/320/block.shtml
Jetzt wird's ernst!, in: GWR 322/2007, S. 1, 17, www.graswurzel.net/322/eilhardshof.shtml
Die "Mutter der Archive", 50 Jahre CIRA - Internationales Treffen in Lausanne,in: GWR 322/2007, S. 5, www.graswurzel.net/322/cira.shtml
Ausgewogenes Kraftfutterpaket für lesefreudige Libertäre, in: GWR 322/2007, S. 9, www.graswurzel.net/322/a.shtml
"Eilhardshof" gekauft!, in: GWR 329/2008, S. 1, www.graswurzel.net/329/eilhardshof1.shtml
"Eilhardshof" - eine Utopie wird aufgebaut, Interview mit Horst Stowasser, von Bernd Drücke, in: GWR 329/2008, S. 3, www.graswurzel.net/329/eilhardshof2.shtml