Sie war groß, sie war bunt, sie war kraftvoll: Mit der Demonstration in Berlin am 5. September 2009 hat sich die Anti-Atom-Bewegung deutlich zu Wort gemeldet.
Schon Stunden vor Demobeginn waren im Berliner Hauptbahnhof an allen Ecken und Enden Buttons und Fahnen mit roten Sonnen auf gelbem Grund zu sehen. In der Eingangshalle empfingen die Lebenslaute die Ankommenden, draußen spielte eine Samba-Band. Als der erste Sonderzug auf der oberen Ebene einrollte, winkten aus den Fenstern Menschen mit Wendlandfahnen und Anti-Atom-Sonnen – und unten in der Halle standen Hunderte und winkten zurück.
Kanzlerin Merkel hielt sich dem Vernehmen nach zum Zeitpunkt der Demo in Stralsund auf – sonst hätte sie von einem Fenster des Bundeskanzleramtes aus stundenlang zusehen können, wie sich immer mehr Menschen in den Demonstrationszug einreihten.
Stunden dauerte es, bis alle von dort losgegangen waren; erst gegen 16 Uhr kamen die letzten Demonstrant_innen am Ende der ca. 4 km langen Strecke an. Schade, dass nur 50 Traktoren im Demonstrationszug mitfahren konnten. Der wirklich eindrucksvolle Zug von weiteren 300 Traktoren fuhr direkt vom Camp in Gatow (zwischen Berlin und Potsdam) zum Brandenburger Tor und war für die meisten Demonstrant_innen nur im Ruhezustand zu sehen.
Ein breites Bündnis hatte zu dieser Demo mobilisiert. Am Anfang stand ein Nicht-Ereignis: Da für die neuen Transportbehälter noch keine Genehmigung vorliegt, rollt dieses Jahr erstmals seit 2001 kein Castor-Transport nach Gorleben. Zeit für eine Pause? Denkste.
Die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg und die Bäuerliche Notgemeinschaft haben sich etwas einfallen lassen, um die freiwerdenden Ressourcen sinnvoll zu nutzen. Der Treck der Bäuerinnen und Bauern aus dem Wendland nach Berlin sorgte schon vor der Demo für tägliche Schlagzeilen und wirkte als Sympathieträger und Motivator. Zeitgleich begab sich campact vom virtuellen Raum des Internets direkt auf die Straße und suchte mit einem nachgebauten Atommüllbehälter in verschiedenen Städten nach einem Endlager. Greenpeace hängte wenige Tage vor der Demo ein Transparent ans Brandenburger Tor: „Dem deutschen Volke… eine Zukunft ohne Atomkraft“. Was die Parteien angeht, so waren neben der Linkspartei nun auch die Bündnisgrünen und die SPD wieder mit von der Partie, weil sie ihren bisher nur auf dem Papier vollzogenen „Atomausstieg“ in Gefahr sehen. Wie viel Wert sie so kurz vor der Wahl darauf legten, bei der Demo gesehen zu werden, zeigten die vielen Parteifahnen.
Mobilisiert hatte auch die IG-Metall – die Belegschaft des VW-Werkes Salzgitter hatte dem Treck der Bauern bereits einen vergoldeten Motor als zusätzlichen Antrieb mitgegeben. Mit von der Partie waren außerdem die Grüne Liga, die Naturfreunde, contratom, das Berliner Anti-Atom-Plenum und viele mehr. Besonders ausgefallene Mobilisierungsideen hatte .ausgestrahlt: Postkarten mit Bildern aus fast 40 Jahren Anti-Atom-Widerstand regten dazu an, alte Anti-Atom-FreundInnen einzuladen; Bonbons mit dem Datum der Demo ließen sich auch an Leute verteilen, die bei Flyern grundsätzlich sagen „hab ich schon“; mit Blogs und Twitter wurden auch die neuesten Medien genutzt und besonders junge Leute erreicht. Dementsprechend war das Bild der Demo: vom Säugling bis zur Oma, von bieder bis punkig, von Gundremmingen im Süden bis Krümmel im Norden waren viele verschiedene Menschen und Gruppen dabei. Eine deutliche Mehrheit stellten die Jugendlichen – diejenigen, die bei den großen Demos nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 noch nicht geboren waren.
Die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg zieht nach dem Wochentreck und der Abschlussveranstaltung in Berlin eine positive Bilanz: „Wir schreiben Geschichte, Anti-Atom-Geschichte! Wer geglaubt hat, dass mit dem Thema Energiepolitik und Atom niemand mehr hinter dem Ofen hervorzulocken ist, der wurde heute eines Besseren belehrt.“
Das politische Konzept, als außerparlamentarische Kraft im Schulterschluss mit Umweltinitiativen dafür zu sorgen, dass sich die politischen Parteien zum Thema Atomausstieg, zu Gorleben und für den massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien positionieren, sei voll aufgegangen. „Vielen Menschen wird klar, die Atomkraft behindert den forcierten Ausbau der Erneuerbaren Energien. Und die Katastrophenmeldungen aus der Asse und Morsleben graben sich ins Gedächtnis ein, es gibt weltweit kein sicheres Endlager. Die Wahrheit zu Gorleben setzt sich nach 30 Jahren beharrlicher Arbeit der Umweltbewegung endlich durch, dieser Standort ist geologisch unmöglich und politisch verbrannt. Reaktorrisiko plus Entsorgungslüge gleich Sofortausstieg“, heißt es in einer Presseerklärung der BI.
Eine große Demo macht noch keinen Ausstieg, aber sie ist ein wichtiger Schritt dahin. Eine Funktion hat die Demo vom 5. September erfüllt: der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Anti-Atom-Bewegung stark und präsent ist. Ob sie auch ihre zweite Funktion erfüllen kann, wird sich in den nächsten Wochen zeigen: Hat sie die vielen, die dabei waren, motiviert, auch weiter für die Stilllegung aller Atomanlagen aktiv zu sein? Egal wie die Wahl ausgeht, in den Koalitionsverhandlungen danach werden Weichen gestellt für die zukünftige (Anti-?)Atom-Politik in diesem Land. Ideen, wie wir den politischen Druck für einen Ausstieg verstärken können, hat .ausgestrahlt während der Demo in einem „Hausaufgabenheft“ verteilt (zu finden auch unter www.ausgestrahlt.de).
BI-Sprecher Wolfgang Ehmke zitierte in seiner Abschlussrede die alte Sponti-Parole „Wir haben keine Chance. Nutzen wir sie“ – und wandelte sie ab: „Heute sage ich: Wir haben eine Chance. Nutzen wir sie!“
Für alle, die bis zum Schluss ausgeharrt hatten, gab es am Ende der Demo noch zwei Schmankerl: Erst leuchtete ein doppelter Regenbogen über den Traktorkolonnen, dann war die eindrucksvolle Abfahrt der 350 geschmückten Trecker zu sehen. Auf einem stand eine Mahnung, die sich die Politiker_innen für den Wahlkampf gut merken sollten: „Wer lügt, hat die Wenden am Hals.“
Anmerkungen
Zur Demo siehe auch Kommentar in dieser GWR.