Wahrscheinlich ist die Debatte um die anarchistische Antipädagogik deshalb nicht sehr weit über die 1980er Jahre hinaus gekommen: Sie konnte das Dilemma nicht lösen, das darin besteht, niemandem etwas vorschreiben und gleichzeitig anderen die eigenen politischen Vorstellungen vermitteln zu wollen. Weg und Ziel sollten sich nicht widersprechen und blockierten sich so gegenseitig.
Von dieser Blockade handelt auch das Buch von Nora Sternfeld. Zwar geht es darin nicht um Anarchismus, aber das problematische Verhältnis von Pädagogik und Politik trieb schließlich auch andere um.
Zum Beispiel den kommunistischen Kulturtheoretiker und Parteivordenker Antonio Gramsci und die französischen Philosophen Michel Foucault und Jacques Rancière.
Dieses etwas ungewöhnliche, da ziemlich unterschiedlichen theoretischen Strömungen zugehörige Dreigestirn macht Sternfeld zu ihrer eigenen philosophisch-pädagogisch-politischen Triangel. Es geht ihr um eine „politische Theorie als Pädagogik, eine pädagogische Politik als Theorie und eine theoretische Pädagogik als Politik“. Was heißt das? Rancière lehnt die Verbindung von Pädagogik und Politik ab, denn ihm zufolge kann das Grundproblem einer kritischen Erziehung nicht gelöst werden: Befreiender Pädagogik, das haben schon die AnarchistInnen beschrieben, kann es nur um Selbstermächtigung gehen, aber eine Anleitung zur Selbstermächtigung kann es nicht geben. Sie ist ein Widerspruch in sich. Sternfeld lässt Rancière – und damit auch dem Anarchismus – diese Aussichtslosigkeit aber nicht durchgehen.
Da kommt Gramsci ins Spiel: Was schon Rancière festgestellt hatte, dass Lernen und Lehren immer ein Wechselverhältnis ist, dass also auch die Lehrenden lernen, macht der um kulturelle Hegemonie besorgte Kommunist zum Programm.
Selbstentfaltung kann sich demnach nicht individuell, sondern nur in einem kollektiven Prozess vollziehen.
Damit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint, und damit ist auch ein prinzipieller Unterschied zwischen „linker“ und „rechter“ Pädagogik genannt: Es geht nicht nur um den Austausch der einzuflößenden Inhalte, sondern um eine Form des Austausches selbst, um ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, Führenden und Geführten.
Diese Gleichberechtigung – und das ist der Einsatz Michel Foucaults – muss erst hergestellt werden. Sie ist nicht schon immer da, als prinzipielle „Gleichheit“ (Rancière) oder als Effekt des „Alltagsverstandes“ (Gramsci). Da Foucault bekanntlich auch die Vorstellung des autonomen Subjekts in Frage stellt, die sowohl Ausgangspunkt (LehrerIn) als auch Ziel (SchülerIn) aufklärerischer Bildung ist, ergibt sich laut Sternfeld eine interessante Konstellation: Gehe man von dieser radikalen In Frage Stellung des Subjekts aus, „dann durchziehen Regierungsdiskurse Lehrende gleichermaßen wie Lernende, dann können Widerstand und Veränderung überall im Klassenraum entstehen“.
So wie die Pädagogik seit mehr als zweihundert Jahren zwischen Normierung und Repression auf der einen und Kritik und Ermächtigung auf der anderen Seite hin und her pendelt, so können jedenfalls die Lehrenden nicht mehr nur als ExekutorInnen des Status Quo interpretiert werden.
Aber mehr noch: Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden selbst – ob die einen nun als diejenigen imaginiert werden, die das Wissen haben, das die anderen brauchen, oder ob sie als sich gegenseitig Austauschende vorgestellt werden – müsse hinterfragt werden. Stattdessen: Ein Unverhältnis.
Dessen Beschreibung allerdings fällt in Sternfelds letztem Kapitel etwas knapp aus.
Dafür ist das „Unverhältnis“ der Faden, der sich durch den gesamten Überblick über die Diskussionen um Pädagogik und Gesellschaftskritik zieht, dezent, kaum sichtbar, aber dennoch so gerade gezogen, wie es sich mit einem Faden eben machen lässt.
Bei Rancière gibt es den Begriff des „Unvernehmens“ im Gegensatz zum Einvernehmen.
Das Unvernehmen sprengt die einvernehmliche Verteilung von Ressourcen zwischen Besitzenden auf, es bringt die Ansprüche derer zur Geltung, deren Stimmen bislang nicht gehört oder nur als Rauschen wahrgenommen wurden. Auf einen solchen Bruch läuft wohl auch das Unverhältnis hinaus.
Nicht nur die Frage, wer wem Wissen und Werte vermittelt, sondern ihre Produktionsverhältnisse selbst stehen auf dem Spiel.
Sternfelds Buch gehört so gesehen nicht bloß unbedingt in die Bücherregale der Philosophischen Fakultäten auf der einen und jener der Freien Schulen und Kinderläden auf der anderen Seite. Auch die anarchistische Debatte könnte es wieder in Schwung bringen.
Nora Sternfeld. Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault, Verlag Turia + Kant, Wien 2009, 157 Seiten, ISBN-13: 978-3-85132-530-0, 15 Euro