„Ich habe durch die großen philosophischen Gedanken von einem Mann wie Malatesta, die pazifistisch waren, die überzeugen wollten, erkannt, wie wichtig es ist, sich einer Autorität des Staates zu verweigern, um eigene Wege zu gehen.“
So wird der Filmemacher Peter Lilienthal auf dem Backcover der „Ungeschriebenen Autobiografie“ Errico Malatestas zitiert.
Jetzt werden sich vor allem jüngere LeserInnen fragen, wer denn dieser Malatesta war. Lassen wir ihn diese Frage persönlich beantworten. Bei einer Gerichtsverhandlung 1884 antwortete Malatesta auf die Frage, ob er Schlosser von Beruf sei: „Schlosser, Mechaniker, Chemiker, Revolutionär, wie es euch beliebt; von allem ein wenig“ (S. 31).
Tatsächlich entsprach der wohl bis heute einflussreichste italienische Anarchist in keiner Weise dem Klischee des „anarchistischen Bombenlegers“, das schon zu seinen Lebzeiten (1853-1932) in den Köpfen vieler unwissender Bürgerinnen und Bürger spukte.
Malatesta distanzierte sich von dem seinerzeit auch in Italien verbreiteten individuellen Terror, den kleine Teile der anarchistischen Bewegung ausübten. Stattdessen propagierte der Theoretiker und Praktiker effektivere kollektive Kampfformen.
Aufgewachsen als Sohn vermögender Eltern in der italienischen Provinz Caserta, engagierte er sich schon als Jugendlicher politisch. Zum ersten Mal verhaftet wurde er 1867, als 14-Jähriger, weil er sich in einem Brief an König Viktor Emanuel II. über die Ungerechtigkeiten der Behörden beschwert hatte.
Sein Medizinstudium war nur von kurzer Dauer. 1871 warf man den 18-Jährigen wegen Teilnahme an einer Demo von der Hochschule.
Er trat der italienischen Sektion der Internationale bei, traf 1872 erstmals den libertären Agitator Michail Bakunin und in den folgenden Jahren auch Pjotr Kropotkin, Rudolf Rocker, Emma Goldman und viele weitere historische Persönlichkeiten des Anarchismus. Malatesta widmete sein Leben der sozialen Revolution.
Er entwickelte sich schon zu Lebzeiten zu einer Legende, nicht zuletzt weil der Agitator von der Polizei in vielen Ländern Europas gesucht, überwacht, verhaftet, ausgewiesen oder inhaftiert wurde.
Als er nach Jahren im Londoner Exil zurück nach Italien kam, war ihm der Mythos, der sich um ihn entwickelt hatte, unangenehm. Während des biennio rosso, als die Begeisterung über seine Rückkehr „wahnhafte“ Ausmaße angenommen hatte, musste er selbst versuchen, dem Grenzen zu setzen, denn, „einen Menschen zu verherrlichen, ist politisch gefährlich und sowohl für den Verherrlichten wie für die Verherrlicher moralisch verderblich.“ (S. 39)
Malatestas Abneigung gegenüber jeglichem Personenkult fußte darauf, dass dieser die Gemüter für die Ermächtigung anderer empfänglich macht und sie von der Übernahme eigener Verantwortung abhält. Das Vorhandensein eines leader, selbst eines revolutionären, ist der erste Schritt zur Schaffung der Autorität. (ebd.)
Mit Malatestas „Anarchie“-Buch, das um 1900 im englischen Exil entstanden ist, bin ich erstmals Mitte der 1980er Jahre in Berührung gekommen. Ein durch und durch großartiges Werk. Damals wurde es auch als Raubdruck des Buchs aus dem Karin Kramer Verlag für zwei D-Mark unter die Leute gebracht.
Malatesta hat 1919 die erste anarchistische Tageszeitung Umanità Nova gegründet und war lange Zeit auch verantwortlicher Redakteur dieses heute noch erscheinenden Organs der italienischen AnarchistInnen.
Er war ein bescheidener Mensch und hat nie eine Autobiographie geschrieben.
Wie kann es also eine „ungeschriebene“ Autobiografie geben?
Die Anarchismusforscher Piero Brunello und Pietro Di Paolo haben jahrelang recherchiert, Dokumente gesichtet, Briefe, Zeitungen und Bücher zusammengetragen. Im November 2003 erschien dann unter dem Titel „Autobiografia mai scritta. Ricordi (1853-1932)“ ihr Buch in Italien. Seit Mai 2009 liegt es nun in deutscher Übersetzung vor.
Die „Ungeschriebene Autobiografie“ liest sich wie ein spannender Abenteuerroman. Sie ist klasse, bietet viele Neuigkeiten und Überraschungen. Die Texte Malatestas sind durchweg mitreißend.
Anders als an dem oben erwähnten „Anarchie“-Klassiker, muss ich an diesem Buch aber einiges beanstanden. Die Herausgeber leiten die Originale jeweils mit einer historischen Einordnung ein, was durchaus sinnvoll ist. Zu oft wiederholen sie aber die dann im Original zu lesenden Malatesta-Passagen.
Das ist unnötig.
Nervig ist auch die Froschperspektive, aus der sie allzu oft Errico Malatesta beschreiben. Äußerlichkeiten, z.B. wie er sich gekleidet, dass er keinen großen Wert auf sein Äußeres gelegt und selten in den Spiegel geguckt habe, werden penetrant wiederholt und zu sehr hervorgehoben.
Es wäre gut gewesen, hätte der Verlag solche Nebensächlichkeiten und Wiederholungen herausgekürzt.
Der Edition Nautilus ist zu danken, dass sie diese Flugschrift über das gelebte Leben eines der sympathischsten Anarchisten herausgebracht hat.
Zu hoffen ist, dass es nun auch hierzulande eine „Malatesta-Renaissance“ geben wird, in der zum Beispiel die im Karin Kramer Verlag erschienenen, aber längst vergriffenen Malatesta-Bücher neu aufgelegt und die vielen noch gar nicht übersetzten Malatesta-Schriften ins Deutsche übersetzt werden.
Errico Malatesta: Ungeschriebene Autobiografie : Erinnerungen (1853 - 1932) / Hg. von Piero Brunello und Pietro di Paola. Aus dem Italienischen übersetzt von Egon Günther, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 207 Seiten, ISBN 978-3-89401-594-7, 16.90 Euro