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Die Aktualität des anarchistischen Kampfes

Vor 50 Jahren starb Albert Camus. Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen, macht: "Ich revoltiere, also sind wir"

| Wolf Dieter Narr

Brigitte Sändig (Hg.): "Ich revoltiere, also sind wir." Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus' "Der Mensch in der Revolte", Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2009, 191 S., 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-12-0

Appetizer: „Camus‘ besondere Variante eines demokratischen, anarcho-syndikalistischen Sozialismus … Heute, angesichts der Krise entfremdeter Großorganisationen, gewinnt der anarchistische Kampf und Diskurs des 19. Jahrhunderts, den Camus fortführt, wieder große Aktualität.“ (Horst Wernicke, S. 128)

„Camus lesen und weiterdenken im Sinne eines ‚learning by doing'“ (John Dewey)

Vor 50 Jahren, am 4. Januar 1960, starb Albert Camus.

Lang ist’s her, dass ich seine Schriften intensiv gelesen habe. Ende der 50er Jahre habe ich ihn mir entdeckt und sogleich politisch-moralische Blutsbrüderschaft in gehörigem Abstand verspürt. Sisyphos, Camus‘ „Versuch über das Absurde“, ist seither eine zeitgeronnene Bezugsperson.

„Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr“, so heißt es im vorletzten Absatz meiner seinerzeitigen, noch druckheiß erstandenen Rowohlt-Ausgabe (Juni 1959) zu Camus‘ Aufruf, hier, im mühseligen Diesseits Momente des Glücks zu finden. Und sie endet mit den berühmten, fast versgleichen Sätzen:

„Ich verlasse Sisyphos am Ende des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, dass alles gut ist. Dieses Universum, das keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar, noch wertlos vor. Jedes Grau des Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Indem man vor allem seine politischen Gelegenheitsschriften beachtet, nicht primär Nobelgepreistes, ist Camus nach dem Nietzsche-Slogan zu studieren: Sei eine Frau oder ein Mann und folge mir nicht nach. Ersetze an erster Stelle nie eigenes Nachdenken dadurch, dass du dich mit „großen“ Theorien, Parteien, Versprechungen identifizierst.

Dieses Buch enthält nach einer Einleitung sieben Beiträge einer Konferenz vom 15. Juni 1991 in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Alle Beiträge sind jung, als wären sie gestern geschrieben, nicht „nur“ kurz nach Fidelios rarem Erscheinen: Die Mauer war zerbrochen.

Brigitte Sändig erinnert einleitend an diese Umstände. Aus ihrem Titel schlägt sie kein Kapital: „L’Homme révolté – 20 oder 60 Jahre später“. Bedenkenswert die Bemerkung: „Mir scheint, dass der ideologische Druck des ‚realen Sozialismus‘ die große Mehrheit der ihm Ausgesetzten zu einem gemeinschaftlichen politischen Interesse, wie oberflächlich es auch immer gewesen sein mag, zwang, und dass bei kritischen Geistern dieses Interesse kohärent, bisweilen lebensbestimmend war; jetzt hingegen wird dieses Interesse am Politischen, also am Gemeinwesen, durch die allgegenwärtige Vernichtungskonkurrenz erstickt oder treibt kritische Geister zu Ohnmachtgedanken und -positionen.“ (S. 4)

Die Camus gewidmete Perlenkette hebt an mit Martina Yadel: „L’Homme révolté – eine Einführung“. Wer diesen Klassiker Camus‘ nicht kennt, erhält eine zuverlässige Schnupperstunde. Freilich, eine eigene Auseinandersetzung mit Camus fehlt. Vorgeführt werden Camus‘ „Leidenschaft des Relativen“ gegen identifikatorisch aufgeblähte Abstraktionen; sein allein gültiges Urteilskriterium, wonach das Leben des einzelnen Menschen hier und jetzt zählt; seine Option für die tägliche Revolte im Unterschied zu umfassend projizierten Revolutionen, die nur gewaltsam vorzustellen sind und scheitern, weil sie Hekatomben von Opfern kosten. Diese politischen Urteile grenzt Camus aber auch wieder gegen menschenwidrig glatte Gegensätze wie totale Verneinung oder runde Bejahung des Bestehenden ab. Eigene Wege, ein Maß und Grenzen sind allzeit in Kopf und Hand zu erinnern.

Christa Ebert fügt einen zweiten Stein hinzu. Sie beschreibt, wie Camus sich mit den russischen Terroristen auseinander setzte. In Camus‘ Stück „Die Gerechten“ wird die tödliche Kontroverse zwischen Stefan und Kaliajew zugespitzt. Stefan: „An dem Tag, an dem wir beschließen, keine Rücksicht auf Kinder zu nehmen, … an dem Tag wird die Revolution siegen.“ Kaliajew dagegen vermochte das vereinbarte Attentat nicht auszuführen. Kinder waren nicht vorhergesehen worden. Was aber, wenn „die Organisation“ immer recht hat und befiehlt?

Kenntnisreich reiht Wolfgang Klein die dritte Perle auf die Schnur. Camus‘ Kritik der revolutionären Denker-Täter, der Hegel, Marx und Lenin, mutet ihm zu simpel, unanalytisch und fast moralisch abstrakt an.

Ohne so oder so zu verurteilen, sucht Klein die zu pointierte Darstellung Camus‘ zu differenzieren. Die Kürze des dichten Beitrags kann gerade hier freilich nicht zufrieden stellen.

Auf Klein folgt Maurice Weyembergh zu „Camus und Nietzsche“ mit belesenen und guten Argumenten zur Nähe und Differenz beider. Beide ziehen Menschen befreiende und eigentümlich belastende Folgen aus dem vom „tollen Menschen“ (Nietzsche: „Fröhliche Wissenschaft“) von Kneipe zu Kneipe weitergesagten Wort: „Gott ist tot“.

In ihrer fünften Perle, schnurgereiht, setzt Brigitte Sändig die ungleichen Freunde und Gegner Camus und Sartre in ihren Kunstäußerungen zusammen und auseinander. Sie wird – verständlich – Camus mehr gerecht als Sartre. Letzterer versteht Kunst zugespitzt auf Veränderungen. Ersterem ist sie ein eigener Natur- und Vorstellungsraum des Menschen. Für Camus lehrt die Kunst, dass der Mensch „auch in der Ordnung der Natur einen Daseinsgrund findet“. Schade auch hier, dass der Platz fehlte, beider Kontroversen mit Brüchen, den Algerienkrieg eingeschlossen, tiefer zu loten. Die nicht zu versöhnende Differenz zwischen beiden: die Einschätzung des damals herrschenden Sowjet-Kommunismus.

Horst Wernickes sechster Beitrag „Camus – Sozialist“ holt am meisten – mit Verweisen auf Pierre-Joseph Proudhon einerseits und Simone Weil andererseits – Camus‘ syndikalistischen und individualistischen, aber auf Gegenseitigkeit angelegten Anarchismus hervor.

Herrliche Proudhon-Zitate, angefangen mit dem Ausdruck „Zukunftsregierungscanaillen“ über die revolutionären Parteien. Oder Simone Weils Motto: „Toujours Antigone“.

Der Beitrag verflacht dort, wo Wernicke allzu oberflächlich schöne sozialdemokratische Äußerungen anführt oder Grass in nicht vorhandene Verhaltensnähe zu Camus rückt. Das und dort gerade nicht.

Dann würde anarchischer Sozialismus zur Schminke.

Der Band endet mit Heinz Robert Schlettes verweisdichtem Aufsatz zu „Camus und ‚die Griechen'“. Der ist wichtig als grundierender Hintergrund von Camus‘ Liebe zur Sonne Griechenlands und zu den Mittelmeerländern in mehrdimensionaler Bedeutung. Es geht um das Maß und damit zugleich um immer bewusst zu haltende Grenzen. Die griechische Scheu – überliefert vor allem von den Vorsokratikern, Sokrates und den klassischen Tragikern – warnt vor menschlicher Hybris, dem Übermut der Machbarkeit, dem Sich-Verrennen in Einbahnstraßen. Aber über allem ist die Schönheit, die alles Dunkel ausleuchtende Sonne nicht zu vergessen: Nur in diesem Leben können wir glücklich sein.

Weder Camus, der „Systeme“-Verächter, noch diese Kette mit sieben Perlen sind – und dürfen – „auf einen Begriff“ gebracht werden. Hegel wohnt fern, Ambivalenzen sind zu sehen und auszuhalten. Mit ihnen ist in künstlerischer Balance umzugehen. Darauf kommt es an. Darum ist Gewalt, ist Zwang das, was Camus überall schreckt, auch Staatsgewalt. Er ist sich in aller Unsicherheit sicher, dass auf das passende Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln sorgsam geachtet werden muss. Selbst die wahre Tugend – vorausgesetzt, wir würden sie tatsächlich kennen – darf nie und nimmer mit Schrecken herrschen. Seid wachsam, Leute, angesichts der Zerbrechlichkeit des Guten.

Die Aufsätze, vor bald 20 Jahren geschrieben, regen an. Sie machen Lust, Camus selbst zu lesen und zu erproben. Die Beiträge mögen dort nicht genügen, wo sie Camus‘ Zusammensicht von Politik, Moral und Theorie ihrerseits zu allgemein referieren. Darum droht, dass aus Camus‘ an konkreten Menschen hier und heute orientierte politisch-moralische Einheit allzu leicht fibelhafte Formeln werden. Das ist und wäre dann nicht der Fall, wenn nüchtern radikale, und das heißt auch materialistische Gegenwartsanalyse sich verbindet mit einem moralischen Politisieren oder politischem Moralisieren an prekären Fällen. Mit dem dauernden Wissen um Grenzen in Analyse und Praxis – so wie dies Camus häufig auch im Fall seines geliebten Algerien getan hat.

Der „L’Homme révolté“ mag das vorletzte Wort haben. Letzte Worte im Sinne von Absoluta finden sich glücklicher Weise nicht bei Camus:

„Jeder Revoltierende plädiert also, allein durch seine Erhebung im Angesicht des Unterdrückers, für das Leben, verpflichtet sich, gegen die Knechtschaft, die Lüge und den Terror zu kämpfen, und bekräftigt blitzartig, dass diese drei Plagen das Schweigen zwischen Menschen herrschen lassen, einen vor dem anderen verdunkeln und sie hindern, sich im einzigen Wert zusammenzufinden, der sie vor dem Nihilismus retten könnte: der Komplizität der Menschen, die mit ihrem Schicksal ringen.“

P.S.: Wer’s noch nicht gelesen hat und ein Genussbuch ohne Reue lesen will, der greife, schenke und lese: Albert Camus, „Der erste Mensch“. Sie und er werden dann dem Camus’schen Lehrer im Anhang zustimmen: „Mein lieber Kleiner!“ Darin ist menschliche Größe verborgen.

Anmerkungen

Dr. Wolf-Dieter Narr (*13. März 1937) lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie.