Am 18. Januar 2010 um 11.15 Uhr begann der Prozess gegen die Anti-Atom-Kletteraktivistin Cécile Lecomte, die wegen "verbaler Nötigung" eines Polizisten angeklagt war.
In der Nacht vom 27. auf dem 28. April 2009 hatte sie sich von einer Autobahnbrücke nahe Münster über einer Bahnstrecke abgeseilt, um einen herannahenden Zug mit Atommüll zu stoppen (die GWR berichtete).
Die herangeeilten Polizisten forderten sie auf, die Aktion zu beenden. Als das „Eichhörnchen“ der Forderung nicht nachkam, zog einer von ihnen am Seil. Cécile machte ihn freundlich darauf aufmerksam, dass das gefährlich sein könnte. Er sagte später aber aus, sie hätte gesagt: „Wenn Sie mich hochziehen wollen, klinke ich mich aus“, und es kam zur Anklage wegen „verbaler Nötigung“.
Schon vor der Hauptverhandlung ging es im wahrsten Sinne des Wortes hoch her: „Eichhörnchen“ Cécile und Franziska, eine weitere Atomkraftgegnerin, stiegen auf zwei der Masten, die vor dem Amtsgericht Münster stehen, und spannten in luftiger Höhe ein Transparent, das eine Kletteraktion darstellte. Einige DemonstrantInnen auf dem Boden zeigten derweil weitere Antiatom-Banner. Diese Aktion blieb natürlich nicht lange unbemerkt: Ein Polizist stürmte aus dem Gerichtsgebäude und forderte Cécile und Franziska auf, von den Masten zu steigen, außerdem dürfte auch auf dem Boden nicht demonstriert werden.
Als seine Forderung nicht sofort befolgt wurde, holte er Verstärkung. Damit war die Aktion beendet.
Allerdings wurde es ohnehin Zeit, sich auf den Weg in den Gerichtssaal zu machen.
Dort fiel zuerst auf, dass alle Beteiligten, abgesehen von den Justizbeamten, weiblich waren: Richterin, Staatsanwältin, Protokollantin. Eigentlich sollte auch eine Dolmetscherin anwesend sein, die im Bedarfsfall für Cécile ins Französische übersetzt hätte, doch ihr Platz war leer. Die Richterin telefonierte hinter ihr her, das Publikum unterhielt sich. Endlich kam die Dolmetscherin herein, aber nun fehlte die Richterin! Die PolizistInnen berichteten ihr offensichtlich in einem Nebenraum von der Aktion, die einige Minuten zuvor vor dem Gerichtsgebäude stattgefunden hatte.
Als die Richterin den Gerichtssaal wieder betrat, konnte die Hauptverhandlung beginnen. Die Zeugen, also der Polizist, den Cécile verbal genötigt haben soll und sein damals anwesender Kollege, wurden belehrt und mussten danach vor der Tür warten. Das brachte die GWR-Mitherausgeberin, die sich selbst verteidigte, auf die Idee, nachzufragen wo denn ihre beantragten Zeugen wären. Sie wurden ganz einfach nicht geladen! Belastungszeugen ja, Entlastungszeugen nein. So führt man also Verfahren in einem „Rechtsstaat“!
Nach längerem Hin und Her gelang es Cécile, ihren Nachbarn, der im Publikum saß, als Zeugen zu benennen. Er könnte bestätigen, dass die junge Französin das deutsche Wort „ausklinken“ vor dem Erhalt der Akte gar nicht kannte. Er hatte es ihr nämlich bei der Lektüre der Akte erklären müssen. Der neue Zeuge verließ den Saal, um später unvoreingenommen aussagen zu können. Doch dazu kam es nicht.
Während der Verhandlung deckte Cécile immer mehr Ungereimtheiten aus den Ermittlungen auf: Zunächst war ihr keine Akteneinsicht gewährt worden, obwohl sie ein Recht darauf hatte. Sie musste sich dieses Recht erst erkämpfen.
Ein weiterer Punkt war die Auswahl der ZeugInnen: Nicht nur ihr Nachbar war als Zeuge nicht geladen worden, es fehlte auch einE SachverständigeR, der oder die bestätigt hätte, dass ihr Sicherungsseil hätte reißen können, als der Polizist daran zog. Die Richterin sagte dazu, dass die von Cécile benannten Zeugen keine „gerichtlich bestellten Sachverständigen“ wären. Aber sie hatte auch darauf verzichtet, selber solche zu laden. Zudem war dem „Eichhörnchen“ die Pflichtverteidigung verweigert worden, sodass sie, abgesehen von ihren beiden Plüsch-Eichhörnchen und der Dolmetscherin, allein auf der Anklagebank saß. Die Richterin hatte wohl damit gerechnet, gegen eine junge Frau, zudem nicht deutsche Muttersprachlerin, ohne VerteidigerIn ein leichtes Spiel zu haben.
An einer Stelle der Akte drängte sich der Verdacht auf, dass die Richterin diese allenfalls überflogen haben konnte, bevor sie den Strafbefehl unterschrieb. Cécile las diese Passage vor: „Hinsichtlich der Nötigung der Beamten besteht hinreichender Tatverdacht. Die Einlassung, sie habe Angst gehabt, das Seil hätte beschädigt werden können, ist irrelevant und bloße Schutzbehauptung. Zum einen hätte sie selbst hochklettern können. Die gewaltsame Durchsetzung der Anweisung musste sie dulden, auch wenn dadurch die Kletterseile hätten beschädigt werden können.“ Mit anderen Worten: Laut der Akte musste Cécile einen Absturz auf die Bahngleise und damit Lebensgefahr in Kauf nehmen! Als die Richterin nicht einmal beantworten konnte, warum sie trotzdem den Strafbefehl unterschrieben hatte, waren zusammen mit allen anderen Ungereimtheiten genügend Argumente gesammelt, um einen Befangenheitsantrag zu stellen. Cécile bat um eine Unterbrechung von 45 Minuten, um diesen formulieren zu können. Die Richterin erwiderte: „Ich gebe Ihnen zwei Minuten“. Nach lautstarken Protesten der Angeklagten und des Publikums gewährte sie ihr eine Viertelstunde und ermahnte das Publikum: „Wir sind hier nicht bei Barbara Salesch“.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Cécile keinen Rechtsbeistand hatte und deutsch für sie eine Fremdsprache ist. Dass das „Eichhörnchen“ letztlich doch länger als 15 Minuten an dem Antrag schreiben durfte, machte kaum einen Unterschied, weil es ihr vorher nicht gesagt wurde. Sie musste also ständig damit rechnen, unterbrochen zu werden und schrieb somit unter enormem Druck.
Außerdem wurde ihr zum Schreiben weder ein Nebenraum angeboten, noch wurde das Publikum herausgebeten, was Céciles Konzentration nicht gerade erhöht haben dürfte.
Die Verhandlung endete damit, dass die Bewegungsaktivistin ihren frisch verfassten Befangenheitsantrag gegen die Richterin vorlas. Neben den festgestellten Ungereimtheiten begründete sie mit der Tatsache, dass ihr zu wenig Zeit für dessen Formulierung eingeräumt wurde. Die Richterin nahm den Antrag entgegen mit den Worten: „Wir vertagen den Prozess. Beim nächsten Mal sitzt an meiner Stelle vielleicht ein anderer Richter oder eine andere Richterin.“
In den nächsten Tagen wird Cécile Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwältin einlegen, die in der Verhandlung einräumte: „Ich kenne die Akte gar nicht.“
Fortsetzung folgt also…
Anmerkungen
Wer die Bewegungsarbeiterin Cécile als Pate oder Patin unterstützen möchte, findet Infos dazu unter: www.bewegungsstiftung.de/lecomte.html
GWR-Interview mit Cécile: http://www.graswurzel.net/334/cecile.shtml