Die Angst habe ihm in den Knochen gesessen, bekennt Ricardo Horcajada. Der heute Einundachtzigjährige war es, der damals, am 12. Februar 1972, auf dem Friedhof San Justo in Madrid die Fahne über den Sarg breitete. Eine Fahne, die niemals zuvor und niemals danach unter der Herrschaft Francos auf einer spanischen Beerdigung zu sehen gewesen war, deren Besitz allein Gefängnisstrafe oder Schlimmeres bedeuten konnte: ein längliches Rechteck, schräg geteilt in eine rote und eine schwarze Fläche. Die Fahne des Anarchosyndikalismus. Das Banner der CNT (Nationale Konföderation der Arbeit).
Keine Polizei griff ein. Im Gegenteil: „Es gab keine Zwischenfälle“, erinnert sich Javier Martín: „Mein Vater hat sogar ein Vaterunser gebetet, ohne dass ihn jemand schief angesehen hätte.“ Sein Vater war Javier Martín Artajo, ehemaliger Parlamentarier der rechts-katholischen Confederación Española de Derechas Autónomas (CEDA) und nach der Zerschlagung der II. Republik im Spanischen Bürgerkrieg Abgeordneter im franquistischen Ständeparlament und einflussreicher Verleger und Zeitungsmann. Ein Günstling des Regimes. Er trug eine schwarz-rote Krawatte. Das hatten er und der Verstorbene so abgesprochen, Jahre zuvor: „Also schön! Wenn Du vor mir stirbst, dann küsse ich eben dieses Stück Holz“ – gemeint war das Kruzifix – „aber wenn ich als erster sterbe, dann trägst Du bei meiner Beerdigung eine Krawatte in anarchistischen Farben.“
In Spanien nennt man so etwas einen pacto entre caballeros. Eine Ehrensache. Wer war der Mann, an dessen Grab sich, drei Jahre vor Francos Tod, polizeilich gesuchte Anarchisten und hohe Funktionäre des Regimes versammeln konnten, um gemeinsam Abschied zu nehmen? Dessen Tod, und sei es nur für den Moment, die Gesetze des franquistischen Staatsterrors ebenso außer Kraft setzte wie die mörderische Feindschaft zwischen den ehemaligen Kriegsparteien?
Ein Bilderbuchanarchist
Melchor Rodríguez García wurde im Jahre 1893 in Triana in der Provinz Sevilla geboren. Der Vater arbeitete im Hafen der Provinzhauptstadt, die Mutter in einer Tabakfabrik. Es reichte mit Mühe zum Leben. Als Melchor gerade 10 Jahre alt war, verlor er seinen Vater durch einen Arbeitsunfall. Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als ihren ältesten Sohn zur Arbeit zu schicken. Er fand eine Anstellung in einer Metallwerkstatt.
Mit der Zeit wurde aus dem minderjährigen Lehrling ein gewiegter Blechschmied, dessen Fähigkeiten in den frühen Kraftfahrzeugwerkstätten der Region hoch im Kurs standen.
Gleichzeitig träumte der junge Melchor von einer Karriere als Stierkämpfer – in Andalusien ein so wenig origineller Wunsch wie in Deutschland Feuerwehrmann oder Fußballprofi zu werden. Melchor stieg tatsächlich in die Arena und gebrauchte den Degen mit beachtlichem Geschick – bis ihn bei einer Corrida in Madrid ein Stier auf die Hörner nahm.
Freunde erklärten später, angesprochen auf das furchtlose Verhalten Melchors während des Bürgerkriegs, wer einmal dem Stier gegenübergestanden habe, der kenne keine Furcht mehr. Eine sehr spanische Sicht der Dinge, zweifellos.
1920, nach weiteren Fehlschlägen, begrub Rodríguez seine Hoffnung auf eine Laufbahn als Torero für immer. Und trat der CNT bei. Deren andalusische Sektion war damals, in den frühen zwanziger Jahren, vor der Diktatur Primo de Riveras, eine ernst zu nehmende politische Kraft. In Sevilla gehörten ihr Männer wie Pedro Vallina an, der „anarchistische Arzt“, der zu einer wahren Legende des spanischen Anarchismus werden sollte. Es dauerte nicht lange, und Rodríguez geriet in Konflikt mit der Staatsgewalt. Nach einer kurzen Haft im Anschluss an einen Streik floh er nach Madrid, um der Verfolgung durch die andalusische Polizei zu entgehen. Dort schloss er sich dem in der CNT föderierten Syndikat der Karosseriebauer an, wurde dessen Vorsitzender und trat 1927 als einer der ersten in der Hauptstadt der FAI (Iberische Anarchistische Föderation) bei. Seine Mitgliedskarte trug die Nummer 3.
In den Reihen der CNT machte sich Rodríguez schnell einen Namen als angriffslustiger Redner, streitbarer Diskutant und wortgewandter Polemiker. Er war ein Hitzkopf, der bis zur Starrsinnigkeit auf seinem Standpunkt beharren konnte. Zum Ausgleich galt er als absolut ehrlich, und seine Konsequenz im Handeln gebot Respekt. In den großen Debatten der 20er und 30er Jahre ergriff er Partei für das Bündnis der beiden großen Gewerkschaften UGT (Generalunion der Arbeiter [sozialistisch]) und CNT, dem nach der unrühmlichen Rolle der UGT während der Diktatur Primo de Riveras viele anarchosyndikalistische Genossinnen und Genossen skeptisch gegenüberstanden. Er kritisierte die „revolutionäre Gymnastik“, eine an Überlegungen Errico Malatestas angelehnte Taktik, die durch das Anzetteln immer neuer Aufstände die Revolution gewissermaßen „einüben“ wollte. Er schrieb Artikel und literarische Texte für anarchistische Zeitungen wie CNT, La Tierra, Campo Libre, Castilla Libre, Frente Libertario und Crisol. Und wurde ins Gefängnis geworfen. Immer wieder. Zum Ende seines Lebens zählte Rodríguez, nicht ohne Stolz, insgesamt 34 längere Haftstrafen. Spöttisch merkte er an, er sei wahrscheinlich der einzige Anarchist Spaniens, der unter drei verschiedenen Regimes im Gefängnis gesessen habe: Monarchie, Republik und Francodiktatur. Seine Phasen hinter Gittern wurden so alltäglich, dass, wenn seine kleine Tochter Amapola Sehnsucht nach ihrem Vater hatte und wissen wollte, wo er sei, die Mutter zu antworten pflegte: „Wo wird er schon sein, mein Töchterchen? Zuhause im Knast natürlich!“. Was Wunder, dass er, angesichts eines solchen „Erfahrungsschatzes“, zum nationalen Beauftragten des Comité Pro-Presos der CNT gewählt wurde; einer Organisation, die sich um tausende von anarchistischen Häftlingen in spanischen Gefängnissen zu kümmern hatte. Im November 1936 dann, mitten im Bürgerkrieg, ernannte ihn der anarchistische Justizminister Juan García Oliver zum Generalbevollmächtigten der CNT für die Gefängnisse im Raum Madrid.
Der „rote Engel“, der keiner sein wollte
Was Melchor Rodríguez García vom Juli 1936 bis zum März 1937, zuerst als Aktivist, dann als Verantwortlicher für die Madrider Gefängnisse leistete, macht ihn zu einer Gestalt, auf die nicht nur spanische Anarchistinnen und Anarchisten mit Stolz und Bewunderung blicken sollten. In der jüdischen Kultur würde man ihn als einen „Gerechten unter den Völkern“ geehrt haben. Der konservative Katholik Javier Martín Artajo, dem Rodríguez, gemeinsam mit über tausend anderen inhaftierten (vorgeblichen und tatsächlichen) politischen Gegnern, am 22. Dezember 1936 im Gefängnis von Alcalá de Henares das Leben rettete, nannte ihn statt dessen el ángel rojo, den „roten Engel“ – ein Name, der Rodríguez nicht behagte: „Wenn ich mich menschlich verhalten habe“, sagte er einmal, „dann nicht, weil ich Christ bin, sondern, weil ich Anarchist bin.“ Damals hatte er sich volle sieben Stunden lang (!) einer aufgebrachten Menschenmenge in den Weg gestellt, die ihren Schmerz und ihre Verzweiflung über die Toten eines franquistischen Luftangriffs an den wehrlosen Gefangenen rächen wollte, von denen einige zu den exponiertesten Parteigängern der putschenden Militärs gehörten: Ramón Serrano Suñer zum Beispiel, der Schwager Francos, der faschistische Schriftsteller Rafael Sánchez Mazas und viele andere mehr. Immer wieder drängte die Menge vor, wollte das Gebäude stürmen, kurzen Prozess machen. Und immer wieder hielt Rodríguez sie zurück: mit der Autorität seines Amtes und seiner Persönlichkeit, mit seiner allen Zeugnissen zufolge außergewöhnlichen Redegabe, aber wohl auch mit der Pistole, von der er Zeit seines Lebens schwor, sie sei nicht einmal geladen gewesen. Schließlich ließ die Menge, in der sich nicht wenige bewaffnete Milizionäre befunden hatten, vom Gefängnis ab. Für Melchor Rodríguez gehörte der Respekt vor dem menschlichen Leben zu den Grundwerten des Anarchismus. In seiner Vorstellung konnte und durfte die libertäre Revolution nicht mit der Freisetzung niederer Instinkte einhergehen. Sie war kein blutiges Großreinemachen, sondern der Beginn einer neuen, gerechteren und im besten Sinne menschlicheren Ordnung, in der schließlich auch die ehemaligen Gegnerinnen und Gegner ihren Platz finden sollten. „Man kann für seine Ideale sterben“, lautete sein oft wiederholtes Credo, „aber man darf niemals für sie töten“.
Als Madrid in den ersten Wochen des Bürgerkriegs im Blut versank, als willkürliche Razzien, Verhaftungen und Hinrichtungen von Faschisten, Rechtskonservativen, Industriellen, Gewerbetreibenden, Priestern oder ganz einfach nur persönlichen Feinden an der Tagesordnung waren, als sich die Gefängnisse mit 11.200 (!) politischen Häftlingen füllten und die rücksichtslose Bombardierung der Stadt durch die franquistische Luftwaffe eine ungute, rachsüchtige Stimmung innerhalb der Bevölkerung schuf, tat Rodríguez, gemeinsam mit seinen Genossen von der anarchistischen Gruppe Los Libertos, alles in seiner Macht Stehende, um eine revolutionäre Ordnung zu schaffen und zu verteidigen, die seinen humanitären Grundüberzeugungen entsprach. Und das hieß: notfalls auch das Leben seiner schlimmsten Feinde zu beschützen. Schon am 23. Juli 1936, fünf Tage nach dem Militärputsch, requirierte er mit den Libertos den Viana-Palast in der Calle del Duque de Rivas und funktionierte ihn zu einem Zentrum für Flüchtlinge um.
Der alte Adelspalast, Symbol einer abgelebten, repressiven Ordnung, wurde nun zum Asyl für die Verfolgten der Revolution; zu einer Planke in den blutigen Stürmen, die durch die Gassen der Stadt tobten.
Rodríguez stellte Passierscheine aus, bot an Leib und Leben Bedrohten schützendes Obdach, und nicht selten machten er und seine Genossen sich nach einem verzweifelten Telefonanruf persönlich auf den Weg, um eine Milizrazzia aufzuhalten, die leicht ein blutiges Ende hätte nehmen können. Als er am 22. August 1936 im Cárcel Modelo, dem modernsten Gefängnis von Madrid, den Lynchmord an 15 Gefangenen verhinderte, war es in der Calle del Duque de Rivas bereits empfindlich eng geworden.
Trotzdem musste selbst der ursprüngliche Besitzer, der Marqués Teobaldo Saavedra, als er nach dem Krieg aus dem römischen Exil zurückkehrte, zugeben: „Es fehlt nicht einmal ein Teelöffel!“ In dem mörderischen Tohuwabohu des beginnenden Bürgerkriegs war der Palacio de Viana einer der sichersten Orte der Stadt gewesen.
Rodríguez García gegen die Junta de Defensa
Als Rodríguez im November 1936 in Madrid zum Generalbevollmächtigten der CNT für die Gefängnisse ernannt wurde, trat er einem Gegner gegenüber, der noch schwerer zu kontrollieren war als eine erboste Menschenmenge: der Abteilung für Öffentliche Ordnung der Junta de Defensa de Madrid (Verteidigungsjunta von Madrid).
Die Anarchisten hatten bis 1936 in Madrid keine starken Positionen, und nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs änderte sich an diesem Zustand wenig. Die Junta de Defensa, die die Verteidigung der Stadt koordinierte, stand unter der Kontrolle der Kommunisten, und in der Abteilung für Öffentliche Ordnung herrschten die damaligen Spitzen von JSU (Vereinigte Sozialistische Jugend) und PCE (Kommunistische Partei Spaniens) Santiago Carrillo, Serrano Poncela, José Cazorla und Fernando Claudín. Carrillo und Claudín waren 1936 kaum den Kinderschuhen entwachsen und mit ihrer Verantwortung – wie Carrillo Jahrzehnte später öffentlich eingeräumt hat – bestenfalls überfordert.
Melchor Rodríguez war Zeit seines Lebens ein glühender Anti-Kommunist gewesen.
Aber auch ohne ideologische Reibungsfläche wäre ein Zusammenstoß mit den heimlichen Herrschern der Stadt unvermeidlich gewesen: Santiago Carrillo und seine Genossen hörten auf die Stimmen ihrer sowjetischen Berater. Diese waren eingedenk ihrer Erfahrungen im russischen Bürgerkrieg der Ansicht, dass es notwendig sei, die „Etappe zu säubern“. Das bedeutete: die systematische Ermordung der lästigen Gefangenen, die man als „fünfte Kolonne“ Francos fürchtete oder zu fürchten vorgab. Ein solches Vorgehen erschien vielen – auch anarchistischen – Revolutionären angesichts der Massaker, die Francos Truppen in den von ihnen besetzten Gebieten anrichteten, als gerechtfertigt.
Dass die Junta de Defensa die politischen Häftlinge von Madrid nur mehr als lebende Leichen betrachtete, musste Rodríguez im November 1936 feststellen. Als er kurz nach Amtsantritt mit einem Funktionär der Junta über die völlig unzureichende Verpflegung der Gefangenen sprach, blickte der ihn nur misstrauisch an: „Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich so für ein paar Faschisten einsetzt.“
„Ich setze mich für sie ein“, schrie Rodríguez zurück, „weil es meine Aufgabe ist! Ob sie erschossen werden oder nicht, ist Sache der Gerichte. Bis dahin sind es Menschen, und man muss ihnen zu essen geben.“
Eine seiner ersten Amtshandlungen war, die Überführung von Gefangenen zwischen 6 Uhr abends und 8 Uhr morgens zu verbieten. Dies war, wie er sehr wohl wusste, die gefährlichste Zeit: Viele Gefangene kamen niemals an ihrem Bestimmungsort an. Stattdessen fand man ihre Leichen Tage später im Straßengraben oder auf dem Friedhof irgendeines Vorortes. Er verbot den Milizen jeglicher politischen Zugehörigkeit – also auch den eigenen, anarchistischen – sich im Inneren der Gefängnisgebäude aufzuhalten. Nur vor den Außenmauern durften sie Dienst tun. Und schließlich sorgte ausgerechnet der Anarchist Rodríguez, der im Laufe seines Lebens mehr als manch anderer unter den Schikanen des Wachpersonals hatte leiden müssen, dafür, dass die alten Wärter, Schließer und Direktoren wieder auf ihre Posten kamen.
Nicht, weil er mit einem Mal an die segenbringende Wirkung von Gefängnissen geglaubt hätte. Sondern weil er die Junta daran hindern wollte, das Personal mit ihren Leuten zu durchsetzen, um ein Blutbad anzurichten. Ein republikanisches Rechtssystem war dem humanitären Pragmatiker Rodríguez immer noch lieber als gar keins. Es waren freilich nicht nur Kommunisten, die ihn einen „Verräter“ und „Francoagenten“ schimpften und sogar Mordanschläge auf ihn verübten. Auch in seinen eigenen Organisationen, CNT und FAI, gab es manche, die für Rodríguez‘ „Sympathien mit Faschisten“ wenig Verständnis aufbrachten. Alfonso Domingo Zamora, der 2009 eine bewundernswerte Biographie über ihn veröffentlicht hat, stellt fest: „Melchor Rodríguez García hatte treue Freunde in der CNT. Und ebenso treue Feinde.“
Aber selbst, wenn er jedes Mal, wenn er von illegalen Massentransporten von Gefangenen erfuhr, in seinen Dienstwagen sprang und in halsbrecherischer Fahrt zu den Gefängnissen raste, um sie aufzuhalten; selbst, wenn er Schmähungen, Drohungen und auf ihn gerichtete Gewehrläufe ertrug; selbst, wenn er auf diese Weise tausende von Menschen vor dem Tod bewahrte – er konnte doch eines der größten Verbrechen innerhalb der republikanischen Zone nicht verhindern: Am 6. und 7. November 1936, passender weise zum Jahrestag der russischen Revolution, wurden in Paracuellos, mit (zumindest) wohlwollender Duldung der Junta de Defensa, tausende von politischen Gefangenen in einer Massenexekution umgebracht. Der Ort ist bis heute eine Pilgerstätte rechtsradikaler Spanier und Franco-Nostalgiker geblieben; ein Beweis für den „unmenschlichen Blutdurst“ der Revolutionäre.
Den Berghang über dem Hinrichtungsort ziert ein gigantisches, weißes Kreuz. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass revisionistische Historiker in Spanien gegenwärtig versuchen, dieses Verbrechen ausgerechnet den Anarchisten Madrids anzulasten. Anarchisten wie Melchor Rodríguez García, zum Beispiel.
Ein Anarchist im Francostaat
Den Unterlagen zufolge war Melchor Rodríguez der letzte republikanische Bürgermeister von Madrid. Im März 1937 hatte er sein Amt als Generalbevollmächtigter der CNT niedergelegt.
Die ewigen Reibereien zwischen der Junta de Defensa und der CNT hatten den sozialistischen Regierungschef Largo Caballero schließlich dazu bewogen, die Junta aufzulösen. Rodríguez war nun verantwortlich für die Friedhöfe der Hauptstadt, und auch hier verhielt er sich eigensinnig, undogmatisch und im besten Sinne menschlich: Noch 1938 genehmigte er ein katholisches Begräbnis für einen Freund, der dies gewünscht hatte.
Am 28. Februar 1939 übertrugen ihm Coronel Casado und Julián Basteiro die Aufgabe, für eine geregelte Übergabe der Hauptstadt an die Truppen Francos zu sorgen – eine Aufgabe, um die sich wahrlich niemand riss. Madrid war im Laufe des Bürgerkriegs zu einem internationalen Symbol für den Kampf gegen den Faschismus geworden. Aber der Krieg war verloren. Am 28. März 1939 war es dann soweit: „Amapola, ich habe Madrid übergeben!“, sagte er seiner Tochter mit Tränen in den Augen. Als Franco unter dem neu errichteten Triumphbogen stand und seine Siegesparade abnahm, saß Rodríguez längst auf der Anklagebank eines Militärgerichts. Ihm drohte die Todesstrafe.
Da erhob sich General Agustín Muñoz Grandes und trat in den Zeugenstand. Muñoz Grandes war zu diesem Zeitpunkt einer der mächtigsten Kommandeure des franquistischen Militärs und in den folgenden Jahren die rechte Hand Francos. Vor allem aber war er einer derjenigen, die ihr Leben dem Eingreifen des Angeklagten verdankten.
Er präsentierte dem Gericht eine Petition, unterschrieben von 2.000 der höchsten Funktionäre des neuen Staates. Alle verwandten sich für Rodríguez. Denn alle waren nur noch am Leben dank seiner Hilfe. Das Gericht verurteilte ihn schließlich zu 20 Jahren und einem Tag Haft, von denen er 5 Jahre absaß. Wieder in Freiheit, bot man ihm einen Posten in der faschistischen Gewerkschaft an, wollte ihm eine Rente aussetzen, sich in jeglicher Form erkenntlich zeigen, seine Lebensschuld abzahlen. Rodríguez lehnte alle Angebote der von ihm Geretteten ab – höflich, aber bestimmt. Er arbeitete weiter als Karosseriebauer. Später, als seine Gesundheit eine solche Arbeit nicht mehr zuließ, lebte er, mehr schlecht als recht, vom Verkauf von Versicherungen. Nie gab er seine illegale anarchistische Agitation im Franco-Spanien auf, die ihn, nur wenige Jahre nach seiner Freilassung, wieder ins Gefängnis brachte. Bis zum Ende seiner Tage blieb er, der er war: ein stattlicher Andalusier mit hoher Stirn, ein starrköpfiger, aufbrausender, keineswegs uneitler, aber selbstloser, bescheidener und in seiner Menschlichkeit und Toleranz unerschütterlicher Anarchist.
Nichts deutet darauf hin, dass er je an seiner Entscheidung, sich während des Bürgerkriegs für das Leben seiner Feinde eingesetzt zu haben, irre geworden wäre – selbst, als diese zu tragenden Säulen des Unrechtsregimes geworden waren. Seine Freundschaft mit Javier Martín Artajo hielt ein Leben lang – ohne dass einer von beiden sich auch nur einen Jota in seinen Überzeugungen bewegt hätte. Für Rodríguez García stand die Ideologie nie an oberster Stelle. Oder war es gerade diese unaufgeregte, gelebte Menschlichkeit, die ihn so anarchistisch machte? Gewiss, Melchor Rodríguez García wollte nicht, wie Hannah Arendt einmal geschrieben hat, „für den Rest seines Lebens mit einem Mörder zusammenleben – nämlich mit sich selbst“. Aber ebenso wenig wollte er, dass die libertäre Revolution, in die er all seine Hoffnungen gesetzt hatte und die für wenige Monate Wirklichkeit zu werden schien, als blutbeflecktes, rachsüchtiges Monster vor den Augen der Geschichte stünde. Als eine Zeit, in der es keine moralischen Regeln mehr gab. Von seinem Traum einer menschlicheren Gesellschaft war niemand kategorisch ausgeschlossen.
Nach seinem Tod geriet Rodríguez‘ Leistung in Vergessenheit. Erst die neuerliche Auseinandersetzung unabhängiger Initiativen mit der jüngsten Vergangenheit Spaniens hat seine Person wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Am 16. September 2009 fand im Ateneo de Madrid ein von der CGT (Generalföderation der Arbeit [Schwestergewerkschaft der CNT]) ausgerichtetes Symposium zu seinen Ehren statt.
In Sevilla tragen mittlerweile eine Straße und ein Resozialisierungszentrum seinen Namen.
Rodríguez war nicht einzigartig. In Barcelona verhielt sich der anarchosyndikalistische Theoretiker und Organisator Joan Peiró in vergleichbarer Weise couragiert.
Gelebte Menschlichkeit mag eine Frage des Charakters sein, und nicht der Weltsicht. Aber es bleibt die bis auf weiteres unwidersprochene Tatsache: Auf Seiten Francos gab es keinen Melchor Rodríguez García.
Anmerkungen
Materialien zu M. Rodríguez García:
Barbería, José Luis, "Le llamaban el ´ángel rojo´", in: El País, 10. Januar 2009.
Cid, Rafael, "Melchor Rodríguez, el Schindler de la FAI", in: www.memorialibertaria.org/spip.php?article705 [6.12.2009].
Domingo Zamora, Alfonso, El ángel rojo. La historia de Melchor Rodríguez, el anarquista que detuvo la represión en el Madrid Republicano, Córdoba (Almuzara) 2009.
Domingo Zamora, Alfonso, "Melchor Rodríguez García", in: www.memorialibertaria.org/spip.php?article1085 [6.12.2009]
Gómez Casas, Juan, Historia de la F.A.I., Madrid, Lérida (Editorial Zyx) 1977 (Biblioteca Promoción del Pueblo, 95).
Iñíguez, Miguel, Enciclopadia histórica del anarquismo español, Bd. II, Vitoria (Fundación Isaac Puente) 2008, S. 1477.
Marquez Reviriego, Victor, "Melchor Rodríguez. El matador sevillano que salvaba vidas", in: el mundo (Andalusia), 10. November 2007.