Es gab einmal eine Zeit, da trafen sich die von Hartz IV betroffenen und gegen Sozialraub engagierten Menschen in der Geschäftsstelle der WASG und späteren Linkspartei im westfälischen Hamm in der Oststraße. Aufbruchsstimmung herrschte hier, rege Diskussionen und Nachfolgeaktionen der Montagsdemos prägten das Bild. Optisch setzte Aktivist Olaf Akzente, indem er die gesamte Schaufensterfront mit einer Wandzeitung tapezierte - und ihm nach wenigen Tagen schonend beigebracht werden musste, dass die chinesische Kulturrevolution schon längst vorbei war und die vielen Texte kaum jemand lesen würde.
Von nun an schmückten zwei überdimensionale Poster mit den Köpfen von Oskar und Gregor die Schaufensterauslage.
Entschlossen schauten sie die schmale Einbahnstraße hinüber zum politischen Gegner. Zur CDU-Geschäftsstelle. Dort guckten Frau Merkel und Laurenz Meyer aus dem Fenster. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, wann die typische Blockkonfrontation im Stile von Don Camillo und Peppone ihre Uraufführung feiern konnte.
In der Zwischenzeit kamen zwei anarchistische Witzbolde mit ihren Überlegungen über das Planungsstadium leider nicht hinaus, vor dem linken Schaufenster ein Betbänkchen zum Niederknien vor den beiden großen Vorsitzenden zu stiften.
Also blieb es der rechten Konkurrenz von gegenüber überlassen, diesen Ort für ihre Aufführung zu nutzen. Es fing zunächst harmlos mit einer Frage im linken Büro an:
„Hör mal, Nuri, der Chef vom Westfälischen Anzeiger geht schon die ganze Zeit vor unserem Büro auf und ab. Hast du einen Termin mit dem?“ – „Nee, keine Ahnung, warum der da herumsteht. Vielleicht sollten wir ihn für ein Glas türkischen Tee hereinbitten?“
Doch jetzt kamen mehrere Leute mit einer zusammengeklebten Styropormauer direkt auf das Schaufenster zu. „Freiheit statt Neokommunismus“ stand drauf.
Die beiden anwesenden Nuri und Alisan, als Kinder aus der Türkei nach Westdeutschland gekommen und beim DDR-Mauerfall gerade erwachsen geworden, wunderten sich, dass sie jetzt als Mitglieder der Linkspartei ohne Umschweife für die politischen Zustände in der DDR verantwortlich gemacht werden. Die wackeren Linken regten sich auf: „Haben die noch alle Tassen im Schrank, sind das am Ende sogar … Faschisten?!“ Der Chef der konservativen Heimatzeitung hörte es – deswegen war er ja hier – und beobachtete mit verzücktem Paparazzoblick die absurde Szene. – Welch hinreißende Story bot sich hier an!
Die Weltpolitik war in der Provinz angekommen
Das Leben mit dieser Partei hätte interessant weitergehen können, aber die große Politik mit einem nahezu endlos-stupiden Wahlkampfmarathon, mühsamer KandidatInnenensuche und anstrengenden Parteitagen verhinderte das erfolgreich.
Nach der Kommunalwahl in NRW mussten flächendeckend neue Fraktionsgeschäftsstellen und Onlineauftritte eingerichtet, neue Telefonanschlüsse gelegt, Feuerwehrausschüsse, Kreispolizeiräte, Regionalkonferenzen und Wahlprüfungsausschüsse mit Personal bestückt werden. – Es waren vielfach Gremien, von denen das durchschnittliche Mitglied vorher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.
Nach dem Wahl-Rausch folgt der Kater
Allzu lange konnte diese Partei ihren Erfolg von 12 Prozent bei der Bundestagswahl nicht auskosten, denn gleich zu Beginn des Jahres 2010 wurden ihre Personalprobleme öffentlich.
Bundesgeschäftsführer Bartsch kandidiert wegen Meinungsverschiedenheiten mit Lafontaine nicht wieder; letzterer trat als Vorsitzender der Linkspartei aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Wochenlang herrschten Konfusion und Orientierungslosigkeit unter den Mitgliedern. Der innerparteiliche Katzenjammer zeigte deutlich, wie autoritätsfixiert das gemeine Parteivolk ihren Wahlerfolg bringenden Arbeiterführer bisher angehimmelt hatte und wie kritiklos sein autoritärer Führungsstil hingenommen wurde. Gleichzeitig wurde wenig auf die eigene Kraft vertraut, um mit selbstorganisierten, kämpferischen Aktionen dem politischen Gegner entgegenzutreten.
Der von den herrschenden Medien begierig aufgegriffenen Hetze von Westerwelle und Co. gegen ALG II-EmpfängerInnen hatte die Linkspartei nur ein paar empörte Presseerklärungen entgegenzusetzen. Massenhafte Proteste und direkte gewaltfreie Aktionen beispielsweise vor FDP-Parteizentralen fanden nicht statt, obwohl sie nach diesem unglaublich frechen und dreisten neoliberalen Angriff das Gebot der Stunde gewesen wären.
Bei den Zusatzbeiträgen der Krankenkassen hat sich die Linkspartei sogar das Heft von der SPD aus der Hand nehmen lassen. Diese sammelt jetzt massenweise Unterschriften gegen eine Regelung, die sie selbst in ihrer eigenen Regierungszeit mit beschlossen hatte und die nun das erste Mal unter Schwarzgelb zur Anwendung kommt! Auch die von Campact initiierten 60.000 Onlinepetitionen gegen die Zusatzbeiträge können nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, dass noch weitgehendere, kreativere und ungehorsamere Aktionen notwendig sind, um die schlimmsten Auswirkungen der geplanten Gesundheitsreform abzuwenden.
Linke in NRW
Wenn nach der NRW-Landtagswahl die letzten sozialpolitischen Rücksichten von der Bundesregierung fallen gelassen werden, treten wahrscheinlich die Defizite bei der Organisation des Widerstandes bei der Linkspartei und leider auch der „Bewegung“ noch offener zutage.
Inzwischen tritt der NRW-Wahlkampf in seine heiße Phase.
Nach der Bundestagswahleuphorie haben viele Mitglieder erfahren müssen, wie schnell es in der Wählergunst bergab gehen kann, wenn bestimmte Ereignisse bei der landespolitisch unerfahrenen Partei von den herrschenden Medien weidlich ausgenutzt werden. Jetzt müssen sie wieder um den Einzug in das NRW-Landesparlament zittern. Bei einer konsequenten Konzentration auf außerparlamentarische Aktivitäten hingegen würde ein solcher Einzug als zweit- oder drittrangig für die eigene Politikperspektive angesehen werden.
Doch sogar der vielgelobte, radikale NRW-Landesverband vollführt inzwischen im Scheinwerferlicht wahre Eiertänze, wenn er nach Koalitionsoptionen gefragt wird. Am 27. Februar 2010 sagte der NRW-Vorstandssprecher der Linken, Wolfgang Zimmermann, dem WDR: „Der Wille zum Regieren ist auch an der Basis grundsätzlich vorhanden.“
Und Vorstandssprecherin Katharina Schwabedissen erklärte im ND am 3. März: „Natürlich wollen wir regieren …“
Das klare Votum des Landesparteitages in Hamm besagt zwar bei nur drei Gegenstimmen das Gegenteil, aber der scheinbar abrupte Sinneswandel von Mandatsträgern angesichts lockender Machtperspektiven sollte niemanden ernsthaft in Erstaunen versetzen.
Natürlich gibt es in NRW auch vehemente KritikerInnen an der sich aktuell abzeichnenden Regierungswilligkeit der Linken. Insbesondere das undogmatische, agile Internetportal „Scharf-Links“ fällt durch kompetente, scharfzüngige und aktuelle Berichterstattung auf. Illusionen sind jedoch in jedem Fall unangebracht. Hier erklingt das seit Jahrzehnten immergleiche Lied der linken Linken, das da klagt über eine verratene Basis und aufgegebene radikale Positionen. Was bleibt, ist viel verlorene Zeit und Energie, die für sinnvollere Dinge aufgewandt werden könnte als für Rückzugsgefechte.
In den NRW-Kommunen herrschen unerbittlich Pleitegeier und Rotstift gegen soziale Projekte aller Art. Hannelore Kraft (SPD) macht mit ihrer Forderung nach einem Null-Euro-Arbeitsdienst für ALG II-BezieherInnen Unternehmern eine Freude. Und die Linkspartei beschäftigt sich mit sich selbst. Braucht ein Landtagswahlprogramm, ein Kurzwahlprogramm, ein Grundsatzprogramm, einen Mitgliederentscheid für die neue Doppelspitze und ein neues „Landeswahlquartier“ in Bochum – nur Betriebszeitungen, die an der Urquelle der Ungerechtigkeiten Öffentlichkeit herstellen, die gibt es in NRW seit einem Jahr nicht mehr.
Als die Linkspartei am 28. Februar 2010 ein letztes Mal vor der NRW-Wahl auf dem Landesparteitag zusammenkam, waren sogar nach Aussagen des parteieigenen ND die Delegierten „sichtlich erschöpft“. Die taz sprach von „vor sich hindämmernden“ Delegierten, die „ohne Elan“ ihre Veranstaltung „abspulten“. – Das ist also die Partei, die uns angeblich unerfahrenen BasisaktivistInnen vor wenigen Jahren noch eilfertig unter die Arme greifen wollte, um uns zu zeigen, wie effektiver Protest wirkungsmächtig werden würde!
Die Linke blickt zwar noch nicht „in den Abgrund“, wie es ein Autor in der Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vom März 2010 ausdrückt, aber unübersehbar steckt diese Partei in einem strategischen Dilemma.
Nicht nur die SPD will sich im Westen um eine rosarote Koalition herumdrücken, auch Teile der Linksparteibasis lehnt diese aus guten Gründen ab. Die Kraft, mit viel Power massive Sozialproteste auf den Weg zu bringen, hat die Linke andererseits nicht. Der Frühjahrsaufmarsch bewährter linker Fußtruppen am 20. März in Essen und Stuttgart unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise“ mobilisiert zwar ein paar tausend Menschen für ein wichtiges Thema, gibt aber keine wirklich neuen, wegweisenden Impulse, wie wir aus der Defensive herauskommen.
Was tut ein Institut?
Um diesem Mangel abzuhelfen, haben einige profilierte ParteipolitikerInnen wie Kipping, Giegold und Ypsilanti das „Institut für solidarische Moderne“ als parteiübergreifendes Gegengewicht zur neoliberalen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gegründet. Um die Hegemonie zurückzudrängen, will es sich „auf die Erarbeitung politischer Konzepte konzentrieren“ und „Anstöße für ein gesellschaftliches Reformprojekt geben“, steht im ersten Rundbrief. Mit 1.100 Mitgliedern, über 3.100 Interessierten auf „Facebook“ und über 5.000 Newsletter-AbonnentInnen innerhalb nur eines Monats ist die Resonanz groß.
In etlichen linksliberalen Zeitschriften wird die neue Initiative freudig begrüßt. Sie will jedoch „nicht als soziale Bewegung agieren“, sondern zur „Vertrauensbildung zwischen den Akteuren und ProtagonistInnen eines politischen Reformprojektes“ beitragen. Mit anderen Worten: Zögerliche und bockige Parteikader und Mitglieder sollen solange bequatscht und bearbeitet werden, bis rot-rot-grün in die parteipolitische Realität überführt worden ist.
Selbstverständlich ist hierfür ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld notwendig, damit dieses Projekt gedeihen kann.
Was aber ist, wenn die herrschenden Medien die Weisung ihrer Besitzer erhalten, die Dreckschleudern gegen die rot-rot-grüne Gefahr anzustellen? Ohne eine noch nicht vorhandene Gegenöffentlichkeit werden nur die in sozialen Kämpfen fest verankerten Bevölkerungsgruppen halbwegs immun gegen neoliberale Hetze sein. Ansonsten droht ein Desaster wie in Hessen unter Ypsilanti.
Allen Dementis zum Trotz ist dieses Institut ein von oben geschaffenes Instrument der Politikberatung zur Anbahnung eines parteipolitisch geprägten Richtungswechsels in der Regierungspolitik. Die sozialen Kämpfe ganz unten in all ihren Ausprägungen sind nicht das zentrale Thema.
Noch unbeeinflusst von den hochintellektuellen Bemühungen, rot-rot-grün herbeizujonglieren, herrscht in Hamm in der Geschäftsstelle der Linkspartei zumindest einmal im Monat ein munteres Treiben. Hier findet das üppige, gut besuchte Sonntagsfrühstück mit Rührei und Speck statt. Eine Mischung aus einem Stückchen vorweggenommener Anarchie und AWO-RentnerInnentreff.
Wenn es nach der NRW-Wahl mit wirklichen Protesten gegen den Sozialabbau hoffentlich wieder losgeht, weiß ich ja, wo ich meine alten FreundInnen wiederfinde: bei den Lachsschnittchen.
Nachtrag
Etwa 80.000 Menschen besetzten in einer planmäßigen Aktion im Ruhrgebiet öffentliche Verkehrsmittel und Straßen, um am 20. März 2010 das Bundesligaspiel Borussia Dortmund gegen Bayer Leverkusen zu sehen. Nur 4.000 Menschen demonstrierten fast zur gleichen Zeit in Essen gegen den zunehmenden Sozialraub.* Unter ihnen waren viele Linksparteimitglieder und wenige DGB-GewerkschaftlerInnen.
Einige TeilnehmerInnen hielten ein zutreffendes Transparent mit folgendem Text hoch: „Nicht dem Parlament vertrauen, auf Widerstand von unten bauen!“
Anmerkungen
PS: Auf der Demo wurde von der anarchosyndikalistischen FAU ein Mayday-Flugi für Dortmund verteilt. Eine interessante Sache: www.muenster.org/alternativ/mayday.pdf