Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

ich hoffe ihr seid gut ins neue Jahr gerutscht. Uns allen wünsche ich ein bewegtes und friedliches Jahr 2003!

Ein Jahr des Friedens?

Danach sieht es leider nicht aus. Die US-Regierung ist offenbar entschlossen, innerhalb der nächsten Wochen einen Angriffskrieg gegen den Irak zu führen.

Nach Ansicht von US-Militärs ist Ende Januar, Anfang Februar 2003 ein „optimaler Monat“ für eine Invasion am Golf, so ein Bericht der Washington Post vom 19. Dezember 2002.

In den USA und England demonstrierten in den letzten Wochen Hunderttausende gegen die Kriegspläne der dortigen Regierungen. Hier dagegen ist die Friedensbewegung noch klein. Zur bundesweit angekündigten Demo am 14. Dezember an der Rhein/Main-Airbase in Frankfurt/M. (siehe resist-Beilage in GWR 274) kamen 500 KriegsgegnerInnen. Warum gehen hier so wenige Menschen gegen Kriegspolitik und Militarisierung auf die Straße? Hängt das mit Resignation oder Staatsgläubigkeit von Teilen der hiesigen Friedensbewegung zusammen? Manche sehen in dem Mann, der als erster deutscher Staatschef nach dem 2. Weltkrieg Angriffskriege (in Jugoslawien 1999 und seit 2001 in Afghanistan) geführt hat, einen „Friedenskämpfer“. Bundeskanzler Schröders Wahlkampfversprechen, dass sich Deutschland nicht an einem Krieg beteiligen werde, hat ihm in letzter Minute genug Wählerinnen- und Wählerstimmen für eine zweite Amtszeit beschafft. Dabei war und ist der deutsche Staat auch diesmal in vielerlei Hinsicht an den Kriegsvorbereitungen beteiligt (vgl. z.B. GWR 271).

Was schon in GWR 272 (S. 1) prophezeit wurde, ist nun Gewissheit: Die seit einem Jahr in Kuwait stationierten Bundeswehrsoldaten und „Fuchs“-Spürpanzer werden im Kriegsfall nicht, wie von Kriegsminister Struck im Wahlkampf versprochen, abgezogen, sondern sollen die dort stationierten verbündeten US-Soldaten unterstützen.

Der Kriegseinsatz in Afghanistan wird nun vom Deutsch-Niederländischen Korps angeführt (vgl. GWR 273, S. 4), so dass US-Truppen für den Golfkrieg aus Afghanistan abgezogen werden können. Auch von deutschem Boden läuft die Vorbereitung des 3. Golfkriegs.

Vor einigen Wochen berichteten die Aachener Nachrichten, in deren Einzugsbereich die zentrale Awacs-Basis Geilenkirchen liegt, über ein leicht obskures Manöver der Awacs in der Türkei. Wenn man der Meldung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 8. Dezember 2002 Glauben schenken darf, finden die damaligen Vermutungen des Geilenkirchener Lokalredakteurs nun ihre Bestätigung. Die Aachener Nachrichten:

„Offenbar ist diese Anforderung [der USA, Awacs-Maschinen bereit zu stellen], die gestern in Berlin noch nicht offiziell bestätigt wurde, bereits seit längerem vorbereitet worden. Vor wenigen Wochen flogen die Geilenkirchener Maschinen zu einer überraschend angesetzten Übung in die Türkei und steuerten dabei erstmals die US-Basis Antalya am Mittelmeer an. Dieser Flugplatz ist auch im Winter offen, während der sonst stets von der Nato benutzte Stützpunkt Konya im Osten der Türkei während der kalten Jahreszeit nicht immer genutzt werden kann. Als die ‚Nachrichten‘ von der Übung auf dem neuen Flughafen berichteten und Vermutungen weitergaben, die Aktion diene dem Training für denkbare spätere Irak-Einsätze, dementierten die Militärs sofort. Es handele sich um eine Routineübung. Die Basis bei Antalya sei nur angeflogen worden, weil es am anderen Flughafen Reparatur-Arbeiten gebe. An einen Awacs-Einsatz im Irak-Konflikt sei nicht gedacht. Inzwischen ergibt das Puzzle ein anderes Bild und innere Logik. Das bringt Berlin in die Bredouille. Bundeskanzler Schröder hat eine deutsche Beteiligung an Irak-Einsätzen strikt ausgeschlossen.

Die Awacs-Mannschaften bestehen zu rund einem Drittel aus Bundeswehr-Soldaten, auch an verantwortlicher Stelle. Sie müssen selbst bei zunächst reinen Überwachungsaufgaben am Rande von Einsatzgebieten jederzeit damit rechnen, aktiv und unter Umständen sogar in einsatzleitender Funktion in das Kampfgeschehen zu geraten. Für die Deutschen an Bord bedeutet das automatisch einen Konflikt zwischen Bündnistreue und dem ‚Nein‘ der Bundesregierung. Ohne Beschluss des Bundestages dürfen die Soldaten auf keinen Fall in Kampfhandlungen eingreifen, und das Parlament hat nur Einsätze im Rahmen der Anti-Terror-Operation ‚Enduring Freedom‘ genehmigt – nicht aber für den Irak. Im Kampf-Fall würden sich die deutschen Soldaten also womöglich strafbar machen, weil die Politik bis heute keine tragfähige Gesetzesgrundlage für Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen hat.“ (AN 9.12.2002, S. 1)

Wir wollen Ende Januar 2003 eine GWR-Aktionszeitung gegen den Krieg herausbringen und sind auf eure Unterstützung angewiesen (siehe Kasten auf Seite 3). Es liegt an uns, ob wir dem Krieg etwas entgegenstellen, oder ob wir in Lethargie verfallen. „Sandkörner“ sind es, die die Kriegsmaschinerie zum Stottern bringen können. Also: kein Grund zu resignieren. Auch kleine Erfolge machen Mut. Und dass der Einsatz für eine entmilitarisierte Welt sich lohnt, zeigt der Blick z.B. in Richtung Türkei:

Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal aus der Haft entlassen

Die Tatsache, dass die Türkei gerne Mitglied der Europäischen Union werden möchte, eröffnet offensichtlich auch für soziale Bewegungen die Möglichkeit, durch öffentlichen Druck Sachen durchzusetzen, die früher aufgrund der Verhältnisse in dem vom Militär dominierten Staat ungleich schwerer durchzusetzen waren. Das gilt auch im Bereich Kriegsdienstverweigerung, die in der Türkei nicht legal ist und verfolgt wird. Dies legt die schnelle Reaktion des türkischen Staates auf eine sich abzeichnende transnationale Kampagne nahe. Eine kritische Öffentlichkeit, die im Fall des türkischen Kriegsdienstverweigerers Mehmet Bal (siehe GWR 274, S. 2) durch das Solidaritätskomitee Izmir, durch Connection e.V., DFG-VK, War Resisters‘ International und andere antimilitaristische Gruppen hergestellt werden konnte, ist für die türkische Militärdemokratur, die gerne EU-Mitglied werden möchte, offenbar bedrohlich. Am 27. November 2002, nach der Überstellung nach Ankara, wurde Mehmet Bal überraschend aus der Haft entlassen. Da die Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung eine individuelle Aussage sei und somit keinen Aufruf zur Distanzierung vom Militär darstelle, hat der Staatsanwalt des Militärs im Generalstab die Ermittlungen wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ (Artikel 155 des türkischen Strafgesetzbuches) eingestellt. Zudem führte der Staatsanwalt, Major Zekeriya Duran, die Situation westlicher Länder an, die durch die Einführung des Zivildienstes den systemkritischen Ansatz der Kriegsdienstverweigerung entschärft hätten. Allerdings sehe sich die Türkei in einer anderen geopolitischen Lage und habe nach der Europäischen Menschenrechtskonvention auch freie Hand, die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. Ein Verweigerer habe daher eine Anklage wegen „wiederholter Befehlsverweigerung“ zu erwarten.

Mehmet Bal wurde im Anschluss an die Entscheidung dem Rekrutierungsbüro in Mamak/Ankara überstellt. Dort erhielt er eine zweitägige Frist, um sich bei seiner Einheit zu melden. Dieser Aufforderung will er nicht nachkommen. Wie das türkische Militär darauf reagieren wird, ist noch nicht klar. Ständig aktualisierte Informationen dazu findet ihr im Internet auf den Homepages www.graswurzel.net und www.Connection-eV.de/Tuerkei/Mehmet_Bal.html.

Und nun: Viel Spaß beim Lesen und li(e)bertäre Grüße,