Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

am 8. Mai 2005 jährt sich zum sechzigsten Mal die Kapitulation des Deutschen Reiches, die Befreiung vom Nationalsozialismus, das Ende von NS-Terror und Holocaust. Mehr als 55 Millionen Menschen fielen dem vom NS-Regime entfachten Terrorkrieg zur Eroberung der Welt zum Opfer. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden, 500.000 Sinti und Roma waren in den Vernichtungslagern ermordet worden. Hunderttausende starben als ZwangsarbeiterInnen für IG-Farben, Mercedes-Benz, Deutsche Bank, Dresdner Bank und andere deutsche Konzerne und Banken.

Arno Klönne, Autor des Standartwerks „Jugend im Dritten Reich“, konstatiert in seinem GWR-Artikel (S. 1 & 7), dass die meisten Deutschen 1945 nicht in einer mentalen politischen Verfassung waren, die dem Begriff ihrer „Befreiung“ vom Faschismus recht geben könnte. „Mentalitätsgeschichtlich und in der gesellschaftlichen Realität musste und muss immer noch eine Befreiung von faschistischen Erbschaften nachgeholt werden; auch der Wechsel der Generationen besorgt dies nicht von selbst.“

KommunistInnen, AnarchistInnen, SozialistInnen, … unzählige Menschen, die Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, wurden in KZs gebrochen und getötet. Nur wenige überlebten.

Stefan Proske erinnert in seinem Artikel „Was übrig bleibt“ an den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald (S. 7).

Hunderttausende, die dem NS-Rassenbild und der bürgerlichen Sexual- und Arbeitsmoral nicht entsprachen, wurden von den Nazis als „unwertes Leben“ vernichtet.

Paul Brune hat „Glück“ gehabt. Er überlebte die Mordaktionen der NS-Psychiatrie, obwohl er 1943 als Achtjähriger in eine der Tötungsstationen der „Euthanasie“ eingewiesen wurde. Die Stigmatisierung, „lebensunwert“ zu sein, wurde er nie mehr los. Für ihn war der 8. Mai 1945 noch keine wirkliche „Befreiung“. Als vermeintlicher Psychopath blieb er auch nach Kriegsende gegen seinen Willen in der Psychiatrie und musste erleben, dass die Misshandlungen an PatientInnen dort nahezu unverändert weiter gingen. Erst 1957 hob ein Gericht seine Entmündigung auf. Er studierte und wollte Lehrer werden. In den 70er Jahren holte ihn seine alte „Irrenhausakte“ wieder ein. Monika Nolte und Robert Krieg haben mit „‚Lebensunwert‘. Der Weg des Paul Brune“ einen bewegenden Film produziert, der am 24. August 2005 um 23 Uhr in der ARD gezeigt werden soll. Ihr GWR-Beitrag über die NS-Psychiatrie und ihre Folgen (S. 1, 8 f.) zeichnet am Beispiel Paul Brunes die Geschichte der NS-Psychiatrie und die Kontinuitäten in der Bundesrepublik nach.

Zu selten wird der Menschen gedacht, die sich dem Dienst in der deutschen Wehrmacht widersetzt und dabei ihr Leben riskiert oder es verloren haben. Weitgehend unbekannt ist, dass auch in Großbritannien und den USA Menschen den Kriegsdienst verweigert haben. Aber nicht, weil sie mit Hitlers Zielen sympathisierten, sondern aufgrund ihrer ethischen Überzeugung, die sie jede Beteiligung an Kriegen ablehnen ließ.

Im Mai werden auf Initiative des pazifistischen Versöhnungsbundes Deserteure des 2. Weltkriegs in vielen Städten Vorträge halten. Auf Einladung der GWR-Redaktion, des AStA-Friedensreferats und der ESG referiert am 21. Mai, ab 20 Uhr der 89-jährige, US-amerikanische Pazifist George Houser gemeinsam mit einem britischen Kriegsdienstverweigerer in der ESG-Aula Münster (Breul 43). Uns bewegt die Frage, warum sie die Teilnahme an diesem „gerechtesten aller gerechten“ Kriege verweigert haben. Wir möchten von ihnen hören, wie es ihnen bei ihrer Kriegsdienstverweigerung und im Leben danach ergangen ist.

Weitere Termine der Rundreise der US-amerikanischen Kriegsdienstverweigerer des 2. Weltkriegs Dr. Charles Swift und George Houser finden sich auf der Website des Versöhnungsbundes.

Ebenfalls um das Menschenrecht auf (Totale) Kriegsdienstverweigerung geht es zum Beispiel am 10. Mai im „Labor“ (Warendorfer Str. 45-47, Münster). Auf Einladung des AStA-Friedensreferats, „Der Linse“ und der GWR referiert Emanuel Matondo über „Das andere Afrika. Widerstand gegen Krieg, Korruption und Unterdrückung“. Er lebt als angolanischer Kriegsdienstverweigerer und Menschenrechtler in Deutschland. 1998 gründete er die Angolanische Antimilitaristische Menschenrechtsinitiative. Weitere Veranstaltungen mit ihm: 9.5.: Celle; 11.5.: Bochum; 12.5.: Essen. Infos gibt es beim Veranstalter Connection e.V.

Unsere Solidarität gilt allen gewaltfreien RevolutionärInnen, DeserteurInnen und (Totalen) KriegsdienstverweigererInnen weltweit. In dieser Ausgabe finden sich Berichte über den türkischen Totalverweigerer und Anarchisten Mehmet Tarhan, über den US-Verweigerer Blake Lemoine, der gerade zu einer siebenmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde, und von dem Deserteur Camilo Mejía, der nun aus einjähriger Haft entlassen wurde (S. 3 f.).

Neben Antifaschismus, Antirassismus und Antimilitarismus, ist das Thema „Kunst, Revolution und Prekarisierung“ (S. 10 ff.) ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausgabe.

Im Juni 2005 erscheint die Graswurzelrevolution Nr. 300 (Redaktionsschluss: 11. Mai). Ich fände es schön, wenn sich in dieser Ausgabe viele kleine Geschichten rund um und über die Graswurzelrevolution finden könnten. Während des Kongresses zum 30-sten Geburtstag der GWR im Juni 2002 in Münster, gab es u.a. eine offene Veranstaltung „Meine erste Graswurzelrevolution und wie es dann weiterging“. Die war ausgesprochen spannend. Vielleicht kann etwas ähnliches schriftlich in unserer Zeitschrift umgesetzt werden. Also, wenn Ihr etwas zum Thema schreiben möchtet, wenn Ihr lustige, kuriose, interessante Geschichten rund um die Graswurzelrevolution zu erzählen habt, nur zu! Und dann bitte mailen an: redaktion@graswurzel.net

Ich freue mich drauf.

P.S.: Weitere Veranstaltungshinweise in eigener Sache:

5. bis 8. Mai, Mainzer Minipressen-Messe, in den Messezelten am Rheinufer (Nähe Rathaus/Fischtorplatz). Verlag und Zeitschrift Graswurzelrevolution sind mit einem Stand vertreten.

Freitag, 6. Mai, 18 Uhr, Rochusstr. 10, Mainz: Beatrix Müller-Kampel (Hg.) "Krieg ist der Mord auf Kommando" Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte Bertha von Suttner und Pierre Ramus (Verlag Graswurzelrevolution 2005), Buchvorstellung in Kooperation mit der DFG-VK Mainz.

Wir freuen uns über Besuch.