Titelseite Gwr 395

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

es war eine Atmosphäre wie bei einem Rockkonzert, als Edward Snowden am 14. Dezember 2014 gegen Mittag endlich zu sehen war. Standing ovations, tosender Applaus, der übervolle Urania-Saal jubelte dem sichtlich bewegten Whistleblower zu, als er per Livestream aus seinem Moskauer Exil auf Großleinwand zugeschaltet wurde. „Edward Snowden, welcome in Berlin“, begrüßte ihn Fanny Michaela Reisin von der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR). Sie gab der Hoffnung Ausdruck, ihn bald nicht nur virtuell, sondern auch persönlich in Berlin begrüßen zu können. Ob Snowden je sein Asyl in Moskau verlassen kann, bleibt aber fraglich. Während ihn Menschenrechtsorganisationen für seine Zivilcourage ehren, droht ihm außerhalb Russlands die Auslieferung an die USA, wo ihn ein ähnliches Schicksal wie Wikileaks-Whistleblower Chelsea Manning erwartet, die für die Dokumentation von US-Kriegsverbrechen misshandelt und zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde.

Snowden hat den größten geheimdienstlichen Ausspähskandal aller Zeiten aufgedeckt. Dafür wurde der ehemalige NSA-Mitarbeiter im November 2014 mit dem Stuttgarter Friedenspreis und nun mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille geehrt. Mit Snowden wurden in Berlin auch die anwesende Dokumentarfilmerin Laura Poitras und der Journalist Glenn Greenwald geehrt, die die Erkenntnisse Snowdens öffentlich gemacht und somit über Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt haben. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck sprach für Greenwald, der zur Zeit der Medaillenverleihung im Luftraum von irgendwo nach irgendwo war und es nicht nach Berlin schaffen konnte. Die Laudatio auf Poitras hielt Peter Lilienthal, der Filmregisseur und Ossietzky-Medaillenträger von 2012. Die GWR war u.a. mit einem Büchertisch und GWR-Mitherausgeber Wolfram Beyer vertreten, der mit dem Trio Paco für die Live-Musik sorgte. Während u.a. Rolf Gössner und Reisin für die ILMR, sowie Snowden, Lilienthal, Kaleck und Poitras bewegende Reden hielten, erntete der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum für seine nur in Teilen gelungene Laudatio auf, so Baum, „Eckwart“ [sic!] Snowden nicht nur Zuspruch. Es ist erfreulich, dass sich Baum öffentlich mit Snowden solidarisiert. Als FDP-Parteipolitiker nutzte er aber leider auch die Gelegenheit für eine geschichtsverfälschende Gleichsetzung von Nazi-Deutschland und DDR und behauptete allen Ernstes, das Grundgesetz sei eine „Antwort auf die beiden Unrechtsstaaten auf deutschem Boden“ gewesen, obwohl bekanntlich die DDR erst einige Monate nach Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Die großartige Stimmung konnte Baum mit seiner überlangen Politikerrede aber nicht trüben.

Mit Snowden, Poitras und Greenwald hat die ILMR drei MenschenrechtsaktivistInnen geehrt, die im Sinne des Pazifisten Ossietzky (1889-1938) arbeiten. Ossietzky war Mitglied der ILMR-Vorgängerin Deutsche Liga für Menschenrechte. Als Herausgeber der Weltbühne wurde er 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Rückwirkend erhielt Ossietzky 1936 den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935. Er konnte den Nobelpreis nie entgegennehmen und starb 1938 an den Folgen der Haft in zwei Konzentrationslagern. Die Weltbühne gilt trotz kleiner Auflagen zwischen 2.000 und 15.000 Exemplaren zu Recht als eine der bedeutendsten Zeitschriften des 20. Jahrhunderts.

Ich hoffe, dass die Graswurzelrevolution im Sinne der Weltbühne-Autoren Mühsam, Tucholsky, Kästner und Ossietzky auch in Zukunft weiterhin aufklären, eine antimilitaristische Weltanschauung verbreiten und ein Stück Gegenöffentlichkeit schaffen kann. Viel Spaß beim Lesen, ein schönes und widerständiges Jahr 2015 wünscht Euch