Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
es war eine schöne Abwechslung mitten in der GWR-437-Endproduktion: Raven gegen den Rechtsruck, Blockaden, viele Redebeiträge, Livemusik, eine beeindruckende Demonstration (1), die sicher auch meinem 1999 im Alter von 78 Jahren gestorbenen Freund Paul Wulf (2) gefallen hätte. Zeitweise mehr als 10.000 Menschen haben am 22. Februar 2019 in Münster gegen den „Neujahrsempfang“ der AfD demonstriert. Eine der beiden Auftaktkundgebungen des „Keinen Meter den Nazis“-Bündnisses fand an der Paul Wulf Skulptur am Servatiiplatz statt. Der Münsteraner Anarchist Paul Wulf wurde 1938 von den Nazis als „Lebensunwerter“ zwangssterilisiert. An ihn erinnern die Skulptur, eine Straße, aber auch eine Broschüre (3) und ein Buch aus dem Verlag Graswurzelrevolution (4).
Nach Redner*innen u.a. von Ende Gelände, dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und diversen Antifa-Gruppen hielt ich als Sprecher des Freundeskreis Paul Wulf spontan eine kurze Rede, weil mir wichtig war, dass an der Skulptur auch etwas zu Paul, zu seinem Vermächtnis im Kampf gegen NS-Kontinuitäten gesagt wird. Ich endete in etwa so: „Würde Paul noch leben, wäre er heute hier bei uns – mit einer klaren Botschaft: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Stoppt die AfD! Für Anarchie und Glück!“ Die Demo hat Mut gemacht. Entsprechend gut gelaunt bin ich jetzt.
Meine Laune wird allerdings getrübt, wenn ich sehe wie übel gerade unserem Genossen Vladimir Slivjak und seinen Mitstreiter*innen in Russland mitgespielt wird. Der Graswurzelrevolutionär und GWR-Autor beteiligt sich international an Protesten der Ökologiebewegung und ist Co-Vorsitzender der vom russischen Staat seit 2014 als „ausländische Agenten“ stigmatisierten Umweltschutzorganisation Ecodefense. (5) Nun verschärft das Putin-Regime die Repression gegen unsere Freund*innen.
Hintergrund ist die erfolgreiche Arbeit von Ecodefense. So hat ihre internationale Vernetzungs- und Aufklärungsarbeit dazu geführt, dass Urantransporte aus Gronau (NRW) in russische Zwischenlager (unter freiem Himmel) beendet wurden und der Bau eines Atomkraftwerkes in der Exklave Kaliningrad verhindert wurde. Ecodefense spielte zusammen mit südafrikanischen Aktivist*innen auch eine Schlüsselrolle beim Stopp des Projektes zum Bau von acht russischen Atomreaktoren in Südafrika. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) wird seither noch stärker überwacht. Ecodefense setzt sich gegen die Vorwürfe des russischen Justizministeriums zur Wehr und betont seine Unabhängigkeit. Bisher wurden mehrere Strafbefehle erlassen, denen die Genoss*innen nicht nachgekommen sind. Nur einem persönlichen Strafbefehl gegen den Direktor der NGO wurde Folge geleistet, um ihn persönlich nicht weiter dem Druck der Staatsmacht auszusetzen. Im Februar 2019 hat nun das russische Justizministerium drei weitere persönlich adressierte Strafbefehle zugestellt und weitere Geldstrafen in Höhe von 2,1 Million Rubel (ca. 28.000 Euro) gegen die NGO ausgesprochen, das Konto von Ecodefense wurde eingefroren.
Ecodefense ist Mitglied im Climate Action Network und beteiligt sich im Bündnis Don‘t Nuke The Climate an den Weltklimakonferenzen. Seit 2005 bin ich mit Vladimir befreundet und ich bin begeistert von seiner aufklärerischen Arbeit. Ecodefense braucht jetzt unsere Solidarität. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg hat eine Petition gestartet, der sich auch die GWR-Redaktion angeschlossen hat. Bitte unterschreibt und verbreitet die Infos. (6)
Seit vier Jahren erscheint die Graswurzelrevolution mit jeweils 24 statt 20 Seiten im Berliner Tageszeitungsformat. Trotzdem haben wir auch diesmal wieder zu wenig Platz, um die vielen Artikel abzudrucken, die uns vorliegen. Deshalb müssen wir den Abdruck der eigentlich monatlich erscheinenden „Postanarchismus-Kolumne“ von Oskar Lubin ebenso verschieben wie den Artikel von Michael Schulze von Glaßer zum Rüstungskonzern Rheinmetall und drei Interviews mit den griechischen Genoss*innen María und Vangélis, mit Anne und Jürgen vom Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum und Jannis und Susanne von der Fairteilbar. Auch einen von Rudi Friedrich ins Deutsche übersetzten „Offenen Brief von Aktivist*innen und Organisationen für Frieden und Gewaltfreiheit aus Venezuela an unsere Freund*innen in der ganzen Welt“ werdet Ihr leider nicht in dieser GWR finden. Er erscheint stattdessen in den nächsten Tagen auf unserer Homepage.
Berücksichtigt wurden in der Graswurzelrevolution Nr. 437 vor allem Artikel zu den beiden Schwerpunkten „Feminismus heute“ und „Klimagerechtigkeitsbewegung“. Außerdem findet Ihr als GWR-Supplement eine neue, zwölfseitige Ausgabe der Libertären Buchseiten, wie immer im März (zur Leipziger Buchmesse) und im Oktober (zur Frankfurter Buchmesse).
Viel Spaß beim Lesen!
Li(e)bertäre, pro-feministische Grüße,
Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur), 23.2.2019
Der aktuellen Ausgabe der GWR liegen die Libertären Buchseiten bei.
Anmerkungen:
Siehe: WN-Bericht: https://m.wn.de/Muenster/3665739-Demonstrationen-gegen-Meuthen-Auftritt-Breiter-Protest-gegen-die-AfD-in-Muenster ; WDR-Fernsehbericht: https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/demonstrationen-muenster-afd-100.html
http://uwz-archiv.de/fileadmin/wulf%20web/Brosch%FCre/Paul%20Wulf%20Brosch%FCre.pdf
Siehe Interview mit Vladimir in GWR 395: https://www.graswurzel.net/gwr/2015/01/wir-werden-uns-dem-staat-nicht-beugen/
Warum Clara Wichmanns Aufsätze auch heute noch äußerst aktuell sind
Eine famose Broschüre über den Widerstand im Hambacher Forst
Zwei lehrreiche Bücher beschäftigen sich historisch mit dem Thema Sabotage
Wiji Thukuls „graswurzellieder“ sind wunderschöne Appelle an die Menschlichkeit
Erfahrungen und Konsequenzen mit dem Bolschewismus an der Macht
Eisner, Landauer, Mühsam und Toller in Laura Mokrohs „Dichtung ist Revolution“
Wie wirksam sind die Methoden des zivilen Ungehorsams heute?
Muss man die alten Interviews aus dem Ja-Anarchismus-Band neu auflegen? Muss man!
Ein Gespräch mit den Feministinnen Kerstin Wilhelms-Zywocki und Marina Minor
Jetzt erst recht! Der Kampf für die Abschaffung des § 219a ist noch wichtiger geworden
Ein Interview mit dem Kommunikationsguerillero Thomas Billstein