Liebe Leserinnen und Leser,
zum 20. Jahrestag des Mauerfalls erschien im November 2009 in der Graswurzelrevolution Nr. 343 ein Interview mit Wolfgang Rüddenklau. (1) Als Redakteur der „anarchistisch verfassten“ DDR-Oppositionsorgane „Umweltblätter“ und „telegraph“ hatte Rüddenklau ab 1986 großen Anteil an der Entstehung einer Graswurzelbewegung in der DDR. Im GWR-Interview bezeichnete er die rasanten Entwicklungen und das Entstehen von Freiräumen, Freien Alternativschulen und hunderten besetzter Häuser und Wohnprojekten in der DDR 1989/90 als „freieste Zeit des Landes“ und „Beschleunigung der Zeit“.
Im Gegensatz dazu empfinde ich das Corona-Pandemie-Jahr 2020 als Verlangsamung der Zeit, als unfreiste Zeit, die die Menschen in der Europäischen Union bisher erlebt haben. Das Zusammenkommen von mehr als zwei Personen ist untersagt, die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt und das soziale Leben minimiert, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Um Ältere und andere Risikogruppen zu schützen, leuchten viele der Maßnahmen (temporär) als sinnvoll ein und werden bisher zum großen Teil eingehalten.
Was vor wenigen Wochen unvorstellbar erschien, ist Realität. Wir erleben eine Zeitenwende, wie sie bisher nur in dystopischen Science-Fiction-Romanen vorkam, aber nicht ernsthaft im echten Leben. Weltweit verbreitet sich Covid-19. Autokraten wie Orbán nutzen die Gelegenheit, um auf dem Weg zur Diktatur einen großen Schritt nach vorne zu tun. Macron und andere Staatschefs reden vom „Krieg“ und treiben die Militarisierung voran. Trump schürt mit seiner Rhetorik vom „Krieg gegen das chinesische Virus“ den rassistischen Hass gegen asiatisch aussehende Menschen.
Im Vergleich mit dieser militaristischen Kriegs-Rhetorik kommt Merkels Rede an die Bevölkerung geradezu als angenehm sachlich herüber. Aber auch sie hat die Grenzen dicht gemacht und will die Bundeswehr einsetzen. Merkel kennt anscheinend nur noch Deutsche und setzt auf Nationalismus, anstatt auf internationale Solidarität mit den extrem von Covid-19 betroffenen Menschen in Italien und den Geflüchteten in den griechischen Lagern, die mitten in der EU unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und jetzt umso gefährdeter sind. Während Merkel eine empathische Rede hält, lässt sie weiter abschieben. Während die Bundesregierung über 100.000 deutsche Urlauber*innen zurückholt, weigert sie sich kaltherzig, auch nur eines der vielen Kinder aus den griechischen Elendslagern aufzunehmen. Bini Adamczak bringt diese Verlogenheit auf den Punkt: „Die Pandemie lehrt uns, wie verletzlich wir sind und wie abhängig voneinander. Und sie lehrt uns, dass wir nur gemeinschaftlich handeln können und solidarisch – sagt sinngemäß Merkel. Als habe sie nicht nur sozialistische Sozialisation erfahren, sondern auch feministische Philosophie studiert. Wie schade, dass die Erklärung auf den selben Tag fällt, an dem Deutschland die humanitäre Aufnahme von Flüchtenden aussetzt und weitere Abschiebungen erzwingt. Aber eine Ethik der Verletzlichkeit, die einige der Verletzlichsten ausschließt, lügt. Eine Solidarität, die in die Grenzen und den Dienst der Nation gezwungen werden soll, ist keine.“
Die Menschenwürde wird nicht nur von Rechten und Neoliberalen mit Füßen getreten. Auch im rot-rot-grün regierten Berlin fanden im März 2020 weiterhin Zwangsräumungen statt. Während sie die Bevölkerung auffordert, das eigene Zuhause nicht zu verlassen, lässt die rot-rot-grüne Stadtregierung Menschen mit Gewalt aus ihren Wohnungen und in die Obdachlosigkeit schmeißen. Empörend!
Menschenrechte durchsetzen!
Die neoliberale Ideologie ist gescheitert. Die Corona-Krise zeigt uns, wie wichtig es ist, die Menschenrechte und Würde für alle weltweit von unten zu verwirklichen. Es ist notwendig, das Menschenrecht auf Wohnen und ein Bedingungsloses Grundeinkommen für alle durchzusetzen, um zu verhindern, dass viele Menschen ins Elend gestürzt und krank werden. Gerade jetzt sind die Obdachlosen, die Geflüchteten und Prekarisierten besonders in ihrer Existenz gefährdet.
Seit den Schließungen von Kneipen, Cafés, Buchläden und Betrieben bangen Millionen um ihre Existenz. Gleichzeitig fehlt es vielen aufgrund der Schließung von Tafeln an Lebensmitteln und etliche, die jetzt zu Kurzarbeit verdammt sind, kommen nicht mehr über die Runden.
Viele Frauen und Kinder sind ihren schlagenden Ehemännern und Vätern ausgesetzt. Die Frauenhäuser sind überfüllt. Psychische Erkrankungen und Suizide werden unter den Bedingungen der „Zu Hause“-Isolation zunehmen.
Kulturell, ökonomisch und sozial droht unseren Gesellschaften der GAU. Die neoliberale Globalisierung und die EU-Austeritätspolitik haben dazu geführt, dass auch im Gesundheitsbereich massiv gekürzt wurde. Das führt dazu, dass die Pandemie vor allem in Italien und Spanien viele Todesopfer fordert, weil dort in den letzten Jahren besonders viele Krankenhäuser geschlossen wurden.
„Wir erfahren den moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus, der Regierungen und der EU“, stellen Verena Kreilinger und und Christian Zeller fest. (2)
Was tun?
Es gilt, sich nicht an den Ausnahmezustand und die Unfreiheit zu gewöhnen. Krisen bieten auch Chancen zur Veränderung hin zu einer solidarischen, egalitären Gesellschaft. Solidarität ist eine Eigenschaft, die viele auch in der Corona-Krise zeigen. Menschen unterstützen Nachbar*innen, die gefährdet sind, beim Einkauf. Am 21. März, dem Internationalen Tag gegen Rassismus, wurden in tausenden Fenstern Transparente aufgehängt, gegen die Festung Europa und für Solidarität mit Geflüchteten. Gegen die EU-Flüchtlingspolitik fand z.B. an der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und Flüchtlinge in Bremen eine Demo statt, bei der alle Teilnehmer*innen die Abstandsregeln einhielten.
Statt Nationalismus und Kapitalismus brauchen wir eine solidarische, freiheitlich-sozialistische Gesellschaft, die Grenzen einreißt und allen ein würdevolles Leben ermöglicht, Freie Kooperation und Gegenseitige Hilfe statt Konkurrenz und Ausbeutung. Oder, wie es Maria Braig in ihrem Artikel auf Seite 3 formuliert: „Bleiben wir also gemeinsam am Ball, bleiben wir solidarisch mit allen, die unsere Solidarität brauchen, ganz egal welche Grenze uns trennt.“
Bleibt gesund und zu Hause! Anarchie und Glück,
PS: Dadurch, dass die Buchläden geschlossen sind und Veranstaltungen nicht stattfinden können, sind auch soziale Bewegungsmedien wie die Graswurzelrevolution und Kleinverlage wie der Verlag Graswurzelrevolution bedroht. Möchtet Ihr uns unterstützen? Abonnieren könnt Ihr die GWR und bestellen könnt Ihr die Bücher unseres Verlags direkt auf www.graswurzel.net
PPS: Genoss*innen haben eine kostenlose Graswurzelrevolution-App fürs Handy entwickelt. Ihr könnt sie u.a. hier herunterladen: https://graswurzel.de.aptoide.com/app
Anmerkungen:
1) www.graswurzel.net/gwr/2009/11/die-beschleunigung-der-zeit-trat-ein/
2) www.oekosoz.org/2020/03/corona-pandemie-eine-historische-wende/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
Das selbstverwaltete Wohn- und Künstler*innenprojekt KuMi*13
Corona in Polen. Vernachlässigung durch die Regierenden und Globalisierung der Angst
10 Jahre UN-Behinderten- rechtskonvention gehen an der Deutschen Bahn vorbei