Inhaftierung statt Schutz
Zwei beispielhafte Geschichten zur Kriminalisierung von Flucht in Griechenland und der EU
Seit über zwei Monaten herrscht Krieg in der Ukraine, mit brutalen Angriffen, Tausenden von Toten und zahlreichen Kriegsverbrechen. Doch die einzige Antwort, die die herrschenden Medien und erschreckenderweise auch Teile der linken Bewegungen auf das Morden bereithalten, sind Aufrüstung und Waffenlieferungen, um noch mehr Morden zu ermöglichen.
Diplomatische Verhandlungen und politisches Handeln jenseits militärischer Strategien werden als Traumtänzerei abgetan, und wer gar Überlegungen zu systematischer Verweigerung, Desertion, massenhaftem gewaltfreiem Widerstand und Sozialer Verteidigung anstellt, muss sogar damit rechnen, als menschenverachtend diffamiert zu werden. Es hat den Anschein, als sei mit dem russischen Angriff der zivilisatorische Firnis in Sekundenschnelle aufgeplatzt, als sei der früher postulierte Anspruch auf politische anstelle militärischer Lösungen nur Phrasendrescherei gewesen und als seien für die Mehrheit der Bevölkerung plötzlich keinerlei Alternativen zu Schützengräben mehr vorstellbar.
Zugleich interessiert sich kaum eine*r für die handfesten kapitalistischen Interessen, die hinter der staatlichen Unterstützung stehen: Die Militarist*innen wittern ebenso Morgenluft wie die Anhänger*innen der Neoliberalisierung, die im Windschatten des Ukraine-Kriegs sämtliche sozialen Errungenschaften zugunsten von großzügigen Rüstungsprogrammen einstampfen und die zarten Ansätze einer weniger klimazerstörerischen Politik zertreten wollen. Dieser reaktionäre Vorstoß bedeutet für die hiesige Bevölkerung eine Verschärfung aller sozialen Probleme, stürzt die Menschheit weltweit in noch größeres Elend und macht die Klimakatastrophe unausweichlich, während er den Krieg immer weiter eskalieren lässt – zum Schaden der ukrainischen Zivilbevölkerung und mit unabsehbaren Folgen für uns alle.
Umso dringender ist es, dass wir Wege aus der Kriegslogik aufzeigen, die Kriegsminister und Rüstungskonzerne wieder zurückdrängen und in Erinnerung rufen, dass die Menschheit andere Konfliktlösungsmodelle kennt als Bomben und Gewehre. Mit starken Antikriegsprotesten – unter anderem bei den Ostermärschen – konnten schon wichtige Zeichen gesetzt werden, doch es braucht langen Atem und massenhafte Beteiligung von Aktivist*innen unterschiedlicher Strömungen, um ein gesellschaftliches Gegengewicht zur Übermacht der Kriegstreiber*innen herzustellen.
In unserem Schwerpunkt zeigt Lukas von Rheinmetall Entwaffnen auf, wie eng Militarismus und Kriegspolitik, Patriarchat, Rassismus und Klimazerstörung miteinander verknüpft sind, aber auch, wie eine gemeinsame Bewegung dagegen entstehen kann, die alle diese Unterdrückungsformen zusammendenkt. Robert Krieg geht auf die bewussten Auslassungen und Irreführungen im medialen Kriegsdiskurs ein, während Dju die katastrophalen Auswirkungen der Sanktionspolitik auf die Menschen im globalen Süden beleuchtet. Die Situation von Frauen* in der Ukraine steht bei zwei Interviews im Mittelpunkt: Zunächst berichtet Tetiana Isaieva über die Genderbewegung am Beispiel des Gender-Museums in Charkiw und über die einschneidenden Veränderungen, die der Krieg für die Ukrainerinnen* bedeutet. Cornelia Grothe beleuchtet die geschlechtsspezifischen Kriegsfolgen aus Sicht des Vereins AMICA, der schon seit Jahren betroffene Frauen* in der Ostukraine betreut. Wie mühselig es ist, bis die Verweigerung des befohlenen Mordens nicht mehr diffamiert, sondern gesellschaftlich anerkannt wird, schildert der Artikel von Günter Knebel über Denkmäler für Wehrmachtsdeserteure.
Doch es gibt auch Lichtpunkte in dunklen Zeiten: Voller Freude können wir beobachten, dass die praktische Hilfsbereitschaft für ukrainische Flüchtende anhält, dass für all diese Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, staatliche und private Infrastruktur und Unterstützungsangebote bereitgestellt werden. Offene Grenzen und Bleiberecht für alle sind eben doch nicht unrealistische Forderungen, sondern durchaus machbar – es ist nur eine Frage des politischen Willens und des kollektiven Bewusstseins.
Zugleich erleben wir aber genau an dieser Stelle Heuchelei und vor allem offenen Antiziganismus und Rassismus, denn die notwendige Hilfe wird nicht allen zuteil, die aus der Ukraine fliehen: Rom*nja werden ebenso diskriminiert wie nicht-weiße Ukrainer*innen oder Menschen, die ohne ukrainische Staatsangehörigkeit dort lebten.
Und erst recht bleiben Menschen davon ausgeschlossen, die aus anderen Staaten, vor anderen Kriegen fliehen und hier Zuflucht suchen. Wie sie an den Außengrenzen der „Festung Europa“ ihr Leben riskieren müssen, thematisiert ein zusätzlicher Schwerpunkt dieser Ausgabe. Wasil Schauseil hat Hope Barker vom Border Violence Monitoring Network zur lebensgefährlichen Praxis der Pushbacks am Beispiel Griechenlands interviewt. Über die systematische Kriminalisierung von Flüchtenden, die von der griechischen Justiz zu jahrzehnte- oder gar jahrhundertelangen Haftstrafen verurteilt werden, berichtet die Kampagne You can‘t evict Solidarity. In ihrem Artikel über Fluchterfahrungen von Frauen* problematisiert Maria Braig das teils voyeuristische Interesse an diesem Thema und macht auf konkreten Handlungsbedarf für antirassistische Unterstützer*innen aufmerksam.
In Zeiten wie diesen ist es umso dringender geboten, neue Perspektiven zu eröffnen, uns zu vernetzen und gemeinsam Alternativen, Lösungswege und Utopien zu diskutieren. Diese Möglichkeit bietet sich bei der Anarchistischen Buchmesse vom 26. bis zum 29. Mai 2022 in Mannheim, der wir drei Sonderseiten gewidmet haben.
Und nicht zuletzt nutzen wir diese Gelegenheit, um mit euch allen am 28. Mai 2022 im zeitraumexit Mannheim das 50-jährige Bestehen der Graswurzelrevolution zu feiern! Auf ins nächste halbe Jahrhundert gewaltfrei-anarchistischer Theorie und Praxis!
Silke für die GWR-Redaktion
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