Friedensnobelpreis der Peinlichkeit
Eine satirische Kritik von Jurij Scheljashenko (Ukrainische Pazifistische Bewegung)
Der Wahnsinn geht weiter: Der menschenverachtende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert schon über acht Monate an, und die ukrainischen Truppen und Milizen antworten mit großer Brutalität. Unaufhaltsam steigen die Zahlen der Toten und Verletzten, ukrainische Wohnviertel und ganze Ortschaften liegen nach Bombardierungen und Kämpfen in Trümmern, und ein normales Leben ist nirgends im Land mehr möglich. Mit jedem Tag eskaliert die Situation mehr, und die Gefahr eines Atomkriegs wächst.
Statt auf Verhandlungen setzen alle Seiten auf Konfrontation. Die Regierungen der maßgeblichen Länder scheinen nur noch Kriegslogik, Militarismus und Nationalismus zu kennen, und die früheren Verlautbarungen einer angeblich friedensorientierten Politik sind verstummt. Medien und breite Teile der Bevölkerung stimmen ein in das Loblied von militärischer Verteidigung, Aufrüstung und Waffenexporten in Kriegsgebiete. Parallel stehen die Armeen der NATO-Staaten schon in den Startlöchern, um sich ebenfalls an diesem Krieg um Ressourcen beteiligen zu können.
Während die russische Regierung Oppositionelle und Kriegsgegner*innen massiv verfolgt, nimmt auch in der Ukraine die Repression gegen Andersdenkende und vor allem gegen Kriegsgegner*innen zu. Die politische Stimmung zeigt sich nicht zuletzt in der „Derussifizierung“. So werden in Kiew Straßen umbenannt, deren Namen einen Russland-Bezug haben oder nicht ins politische Muster passen. Selbst Klassiker der Literatur, Politik und Philosophie – darunter Michail Bakunin und Leo Tolstoi – werden aus dem Stadtbild getilgt und durch meist militaristische und nationalistische Straßennamen ersetzt.
Viele Ukrainer*innen sind ins Ausland geflüchtet, doch während die Regierung von Wolodymyr Selenskyj Frauen* und Kinder dazu aufruft, das Land zu verlassen, werden alle Männer „im waffenfähigen Alter“ dazu verpflichtet, zu bleiben und sich für den Krieg zur Verfügung zu stellen. Das schon vorher sehr restriktiv gehandhabte Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ausgesetzt, und wer sich der drohenden Einberufung entziehen will, muss mit Haftstrafen rechnen.
Doch genau hier gilt es anzusetzen: Die Bevölkerung in Russland und in der Ukraine hat die Kriege der Herrschenden und den militaristischen Taumel zunehmend satt, und die Zahl der Deserteur*innen und Kriegsdienstentzieher steigt rapide an – bei russischen und ukrainischen Soldat*innen, aber auch in Belarus. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keine*r geht hin“: Neben den notwendigen Massenprotesten der Bevölkerung gegen die Kriegspolitik ihrer jeweiligen Regierungen sind es massenhafte Desertion und Kriegsdienstentziehung, die diesen Krieg beenden können.
Die mutigen Menschen, die sich dem militärischen Wahnsinn entgegenstellen und verweigern, brauchen unsere Unterstützung. Die EU-Regierungen tun sich schwer, Desertion und Kriegsdienstentziehung als legitime Fluchtgründe anzuerkennen.
Genau hier setzt die Object-War-Kampagne von Connection e. V. und befreundeten Organisationen an. Sie unterstützt die Betroffenen und hat eine Petition an die Europäische Union gestartet. Die drei zentralen Forderungen sind Schutz und Asyl in der EU auch für russische und belarussische Deserteur*innen und Verweigerer*innen, die Öffnung der Grenzen für verfolgte Antimilitarist*innen sowie der Appell an die EU, die ukrainische Regierung dazu zu bewegen, die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung zu beenden. Mehr Informationen zur Kampagne gibt es unter https://de.connection-ev.org.
Auch in der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution widmen sich mehrere Artikel dem Ukraine-Krieg und Antikriegsaktionen: Jurij Scheljashenko entlarvt die Instrumentalisierung des Friedensnobelpreises, und die Antimilitaristische Aktion Berlin berichtet über ihre eigenen Aktivitäten, aber auch über die Verirrungen von Teilen der Friedensbewegung. Peter Schadt kommentiert die Sabotage an den Pipelines Nord Stream 1 und 2.
Während in Europa alle Augen auf den Ukrainekrieg gerichtet sind, wollen wir auch Kämpfe in anderen Weltregionen nicht vergessen. In diesem Sinne wirkt Mahtab Mahboubs Artikel über die radikalen Proteste im Iran.
Doch der Schwerpunkt dieser Ausgabe gilt einer Diskriminierungsform, die allzu oft vergessen wird: Ableismus, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Viele Betroffene und Aktivist*innen bringen ihre je eigenen Erfahrungen ein: Cécile Lecomte kritisiert das Verhalten der Deutschen Bahn und insbesondere einen brutalen ableistischen Rauswurf, Joni schildert anschaulich den täglichen Kampf um eine angemessene Hilfsmittelversorgung, und im Interview stellt das BIBEZ seine selbstbestimmte Beratungsarbeit von behinderten Frauen* für behinderte Frauen* vor. Dass struktureller Ableismus Menschen überhaupt erst behindert, betont Emma Noordman. Mit Artikeln zum Konzept der Krüppelzeit und zum Festival „Queering the crip“ macht Lian Otter deutlich, dass es durchaus Alternativen zum ableistischen Normalzustand gibt, und Eichhörnchens Schilderung von inklusiven Klimacamps weckt ebenfalls Hoffnung auf Verbesserungen. Aus den Klimakämpfen berichtet auch die Unfreiwillige Feuerwehr, die am Beispiel der Blockade in Jänschwalde ableistische Polizeigewalt thematisiert. Dass diese sogar mörderische Formen annehmen kann, stellt Laila ausgehend vom tödlichen Polizeieinsatz gegen Mouhamed Lamine Dramé dar.
An dieser Stelle müssen wir leider ankündigen, dass wir zum Jahreswechsel eine Preiserhöhung nicht mehr vermeiden können: Der Abopreis muss Anfang 2023 auf 45 Euro jährlich angehoben werden, und das Einzelexemplar kostet künftig 4,50 Euro – und das ist nur das Allernötigste, um die rasant gestiegenen Kosten abzudecken. Zusätzlich sind wir nach wie vor auf eure Spenden angewiesen; mehr dazu auf Seite 24.
Doch jetzt wünschen wir euch erst mal interessante Lektüre!
Silke für die GWR-Redaktion
Menschen mit Sehbeeinträchtigungen können die Artikel des Schwerpunkts auch als Fließtexte ohne Layout über die Redaktion bekommen: redaktion@graswurzel.net
Eine satirische Kritik von Jurij Scheljashenko (Ukrainische Pazifistische Bewegung)
Interview mit Cécile Lecomte zu Ableismus bei der Deutschen Bahn
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Antikriegsaktionen der Antimilitaristischen Aktion Berlin (amab)
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