Gwr 479 Titelseite

Liebe Leser:innen,
zwischen 1957 und 2004 wurden in Deutschland 110 „kerntechnische Anlagen“, also Atomkraftwerke und „Forschungsreaktoren“, in Betrieb genommen. Eigentlich wollte die Atomindustrie noch viel mehr AKWs bauen. Das konnte sie angesichts des Widerstands der Anti-AKW-Bewegung nicht durchsetzen.
Am 15. April 2023 sind Isar 2, Emsland und Neckarwestheim als letzte AKWs der BRD vom Netz gegangen. Ein toller Erfolg, für den die bundesweite Anti-AKW-Bewegung 50 Jahre gekämpft hat. Es ist auch ein Triumph der Direkten Gewaltfreien Aktion, die sich seit den erfolgreichen Protesten gegen den AKW-Bau in Whyl in den 1970ern in weiten Teilen der Sozialen Bewegungen als Selbstverständlichkeit etabliert hat. Dazu hat auch die Graswurzelrevolution beigetragen, die seit 51 Jahren als soziales Bewegungsorgan gewaltfreien Widerstand unterstützt und für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft agitiert.
Das Wetter am 15. April war schlecht, aber die Stimmung bei den Anti-Atom-Aktivist:innen war großartig. Freuen können wir uns auch über das Jammern der Atomlobby, die seit Monaten in den Massenmedien für eine erneute Verlängerung der Laufzeiten getrommelt hat – vergeblich. Erschreckend ist, dass viele Menschen angesichts der Propaganda-Offensive der Atomlobby vergessen haben, dass es keine sichere Endlagerung für den eine Million Jahre strahlenden Atommüll gibt. Auch der Beinahe-GAU 1979 im US-amerikanischen AKW Harrisburg, der Größte Anzunehmende Unfall (GAU) 1957 im sowjetischen AKW Majak und die Super-GAUs 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima sind vielen offenbar nicht mehr im Bewusstsein.
So erklärte Friedrich Merz den 15. April 2023 zum „schwarzen Tag für Deutschland“ und traf damit wahrscheinlich die Stimmung, die zuvor von Söder, BILD und Co. erzeugt worden war.
Schwarz hat für Anarchist:innen eine andere Bedeutung als für den CDU-Chef. Die schwarze Fahne des Anarchismus steht für Freiheit und drückt die Ablehnung von Herrschaft aus. Die meisten Anarchist:innen bevorzugen heute die schwarze-rote Fahne, die für Freiheitlichen Sozialismus steht.
Für Anarchist:innen war der 15. April also ein schwarz-roter Tag der Freude. Denn der Atomstaat wurde vor allem durch den Widerstand sozialer Bewegungen zurückgedrängt. Anarchist:innen hatten einen großen Anteil am erfolgreichen Kampf gegen den Atomstaat. Erinnern möchte ich hier an Jochen Stay, den ehemaligen GWR-Redakteur, Mit-Initiator der Anti-Atom-Kampagne x-1000mal-quer und der Organisation .ausgestrahlt. Jochen konnte den 15. April 2023 leider nicht mehr erleben. Unser Freund starb vor einem Jahr. (1)
Wir müssen ohne ihn weiter kämpfen. Die Atom-Mafia ist noch nicht am Ende, auch nicht in Deutschland. Eine sozial-ökologische Energiewende ist noch nicht durchgesetzt, der Klimakatastrophe zum Trotz. Auch die sofortige Stilllegung der Brennelementefabrik in Lingen und der Urananreicherungsanlage in Gronau gehören auf die Tagesordnung. Ein weltweiter Kohle- und Atomausstieg ist unabdingbar, um der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen.
Nur wenige Meter von dem jetzt abgeschalteten AKW Emsland will der französische Atomkonzern Framatome die Brennelementefabrik Lingen ausbauen, um gemeinsam mit Putins staatlichem Atomkonzern Rosatom Brennelemente für die AKWs russischer Bauart in Osteuropa herzustellen. Auch gegen diesen Wahnsinn haben am 15. April rund 500 Anti-Atom-Aktivist:innen in Lingen protestiert. Während die russische Armee seit Februar 2022 einen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, unterstützt Framatome den Kreml-Atomkonzern massiv. „Das nehmen wir nicht hin, weil es den Atomausstieg konterkariert und Lingen für die nächsten Jahrzehnte zur Außenstelle der französisch-russischen Atomindustrie machen würde“, so die Anti-Atomgruppe SofA. Eine Rede des russischen Öko-Aktivisten Vladimir Slivyak findet Ihr auf Seite 14. Für die GWR 480 planen wir ein Interview mit ihm, in dem es u.a. um den russisch-deutsch-französischen Atomdeal gehen soll.

Reaktionen auf die GWR

Die GWR löst unterschiedliche Reaktionen aus. (2) So rief am 28. März ein empörter Mann in der Redaktion an und beschimpfte uns: „Wegen eurer Hetze gegen Sahra Wagenknecht: Ihr seid CIA-Abschaum! Das werdet ihr bereuen! Wir werden euch kriegen!“ Hintergrund des surreal wirkenden Wut-Anrufs ist der Ukraine/Belarus/Russland-Schwerpunkt der GWR 477, in dem sich zwei Artikel kritisch aus einer antimilitaristischen Perspektive mit Wagenknecht und Co. auseinandersetzen. Würden wir nur solche Rückmeldungen bekommen, müssten wir uns wohl Sorgen machen. Aber wo Schatten ist, ist auch Licht. So äußerte sich ein anderer GWR-Leser auf rbb24 wie folgt: „Wer wissen will wie ‚linke‘ Friedenspolitik gehen kann, sollte die Zeitung Graswurzelrevolution abonnieren. Seit über 50 Jahren im ‚Kampf‘ für Frieden, Antimilitarismus, Pazifismus und Gewaltfreiheit. Unterstützer der WRI, der antimilitaristischen Internationalen.“ (3) Danke!

Ein Blick in die GWR 479

Die GWR 479 hat 28 statt 24 Seiten. Das liegt an der vierseitigen Aktionszeitung #OBJECT WAR Campaign, die Ihr auf den Seiten 21 ff. findet. Hier geht es um die Aktionswochen „Schutz und Asyl für alle aus Russland, Belarus und der Ukraine, die den Kriegsdienst verweigern! vom 8. bis zum 21. Mai“. Sie wurden von der DFG-VK und Connection e.V. initiiert und werden von der GWR und 30 weiteren Organisationen unterstützt. Antimilitarismus ist ebenfalls Thema in den Beiträgen über Kriegsdienstzwang in Österreich (S. 1 und 5) und anarchistischen Widerstand in Bulgarien (S. 2). Wie Thespina Lazaridu schildert (S. 3 f.) benötigt Solidarität auch Julian Assange, seit vier Jahren in Isolationshaft und von 175 Jahren Haft bedroht, weil er US-Kriegsverbrechen dokumentiert hat. Ein Schwerpunkt dieser Ausgabe ist das Thema „Arbeit“ (S. 1, 15–20), wobei wir die Situation der Arbeiter:innen in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ebenso thematisieren wie die Kämpfe gegen Union Busting und für den Vier-Stunden-Tag. Rosalia Krenn beschreibt in zwei bewegenden Artikeln wie in Wien mit Arbeitssuchenden umgegangen und im österreichischen Fernsehen die Menschenwürde angetastet wird.

Nie wieder Faschismus!

Ein weiterer Schwerpunkt ist antifaschistische Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit. Peter Kühn berichtet über den Protest gegen ein „Ehrenmal“ in Speyer, das seit 1932 zwei faschistische Auftragsmörder zu „Helden“ verklärt. (S. 6) 90 Jahre nach der Bücherverbrennung der Nazis im Mai 1933, erinnert Martin Baxmeyer an den verbrannten Dichter Max Hermann Neisse. Vorgestellt wird auch das antifaschistische Fritz Bauer Forum, das in Bochum als Ort für Menschenrechte entsteht. (S. 9) 1933 wurde aus der Weimarer Republik die Nazi-Diktatur. „Wird der bürgerlich-demokratische Parlamentarismus in heutiger Zeit erneut diktaturoffen?“, fragt Lou Marin (S. 7). Steffi Wassermann berichtet über die afro-indigenen Garífuna in Honduras. (S. 25) Wer sich durch gelebte Utopien inspirieren lassen möchte, wird auf den Seiten 10 bis 13 fündig, wo wir meinen Freiburger Vortrag und ein Interview mit der „Arbeitet nie!“-Autorin Hanna Mittelstädt zur Diskussion stellen. Sind die Toten Hosen eigentlich noch Punkrock? Antwort auf Seite 28. Ich halte es da lieber mit Ton, Steine, Scherben: „Arbeit macht das Leben süß, so süß wie Maschinenöl.“

Anarchie und Glück,
Bernd Drücke (GWR-Red.)

(1) Siehe Nachrufe auf Jochen Stay in GWR 467, https://www.
graswurzel.net/gwr/2022/02/jochen-stays-mitreissender-
optimismus-ein-nachruf/
(2) Siehe Leser:innenbriefe auf S. 26f.
(3) Ben Joda: Noch nicht im Himmel, Sonntag, 05.03.2023, 09:17 Uhr https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/03/brandenburg-linkspartei-linksjugend-parteiaustritt.html