Klein

Liebe Leser*innen,
seit 1989 erscheint im Oktober zur Frankfurter Buchmesse mit einer 5.000er Auflage immer eine neue Ausgabe der Libertären Buchseiten (LiBu), die als Supplement der Graswurzelrevolution    beiliegt. Seit 2013 produzieren wir zudem zur Leipziger Buchmesse eine neue LiBu-Ausgabe.
Auch diesmal findet Ihr in der GWR wieder zwölf neue LiBu-Seiten, gefüllt mit spannenden Rezensionen.
Als die Libertären Buchseiten vor 35 Jahren ins Leben gerufen wurden, war klar, dass „libertär“ als Synonym für „anarchistisch“ und als Kurzform von „libertär-sozialistisch“ (freiheitlich-sozialistisch) gemeint ist.
Seit dem 19. Jahrhundert haben viele Anarchist*innen sich selbst als „Libertäre“ oder „Libertäre Sozialist*innen“ bezeichnet. Das diente der Abgrenzung zu den autoritären Sozialist*innen um Marx und weil „Anarchie“ allzu oft mit „Chaos und Terror“ gleichgesetzt wurde. Heute wird der Begriff in den Medien nur selten als Synonym für eine herrschaftslose, gewaltfreie und solidarische Gesellschaft genutzt, sondern immer wieder als Schmähbegriff missbraucht.
Es ist eine alte Strategie von Rechten, ursprünglich als links und emanzipatorisch besetzte Begriffe umzudeuten und sie so für sich nutzbar zu machen. Der in den 1970ern als links gelesene Begriff „alternativ“ ist dafür ein gutes Beispiel. Heute bezeichnet sich die größte extrem rechte Partei der Bundesrepublik als „Alternative für Deutschland“ und die meisten Leute denken beim Begriff „alternative Medien“ an die Publikationen von rechten Verschwörungsgläubigen und nicht mehr an ein Konzept linker Gegenöffentlichkeit.
Die rechten Umdeutungsversuche betreffen auch den Begriff „libertär“. Die Wurzeln dieses Vereinnahmungsversuchs sind in den USA zu finden. Dort wurde 1970 die extrem rechte, neoliberale und ultrakapitalistische Partei „Libertarians“ gegründet. Dadurch inspiriert produzieren deutsche „Anarcho-Kapitalisten“ seit 1998 die Monatszeitschrift „eigentümlich frei“.
Auftrieb bekommt dieser Flügel der extremen Rechten seit 2023 durch Argentiniens Präsidenten Javier Milei. Dieser ultra-neoliberale Rechtsextremist bezeichnet sich selbst als „Anarchokapitalist“ und „Libertärer“. Milei ist eine Katastrophe, für die Menschen in Argentinien und auch für alle, die sich als Anarchist*innen verstehen.
Anarchismus ist immer herrschaftsfrei orientiert. Das heißt auch, dass wir den Kapitalismus abschaffen wollen. „Anarchokapitalisten“ machen genau das Gegenteil. Sie wollen die totale Macht für Kapitalist*innen, soziale Errungenschaften sollen abgeschafft, Militär und Polizei ausgebaut werden, zum Schutz der Reichen. Diese extrem rechte Bewegung ist in Deutschland beim neoliberalen Flügel der AfD sowie am rechten Rand der FDP zu finden und international Teil des Neoliberalismus. Mit Anarchismus hat das nichts zu tun. Anarchismus ist klar definiert als freiheitlich-sozialistisch und herrschaftsfrei. Das ist das Gegenteil von dem, was Anarchokapitalisten wollen: die ungebremste Herrschaft des Kapitalismus. Das, was die Pinochet-Diktatur in Chile war, ist im Grunde auch das Ziel von Milei und anderen „Anarchokapitalisten“, eine neoliberal-faschistische Diktatur.
Kapitalismus und Herrschaftsfreiheit schließen sich aus. Daher ist der Begriff „Anarchokapitalismus“ eine Absurdität, ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Noam Chomsky, der wohl bekannteste lebende Anarchist, hat sich schon 1970 in den USA von den Libertarians abgegrenzt, indem er sinngemäß gesagt hat: „Ich bin libertär, libertärer Sozialist, Anarcho-Syndikalist.“
Wir sollten uns unsere Begriffe nicht klauen lassen.
Im Interview mit der Tageszeitung junge Welt habe ich mich am 6. Juli 2024 zu Milei geäußert:
„Dass Milei jetzt überall als Anarchist bezeichnet wird, da kommt mir die Galle hoch, wenn ich das höre. Milei geht es darum, Grundrechte abzubauen, Gewerkschaften und Sozialhilfe abzuschaffen. Gleichzeitig will er Gesetze abschaffen, die den Organhandel einschränken. Wenn man Sozialgesetze und die sozialen Strukturen zerschlägt, ist das der absolute Raubkapitalismus, eine menschenfeindliche Gesellschaft, wo die Armen gezwungen sind, ihre Organe an die Reichen zu verkaufen. Anarchismus will eine staatsfreie Gesellschaft, aber die wollen wir als Graswurzelrevolutionäre durch direkte, gewaltfreie Aktionen erreichen, eine Umwälzung von unten. Mileis Ziel ist es, die Errungenschaften, die die Arbeiterbewegung in vielen Jahrzehnten erkämpft hat, wieder rückgängig zu machen und dem Kapitalismus freie Hand zu geben. Da gilt es für jeden Anarchisten und jede Anarchistin, sich dem entgegenzustellen.“ (1)
Die Graswurzelrevolution versucht dem aufkommenden Faschismus und der rechten Begriffsverdrehung etwas entgegenzusetzen. Auch mit dem antifaschistischen Schwerpunkt der GWR 492 und indem wir klarmachen: Anarchie ist eine positive Utopie von einer herrschaftslosen, gewaltfreien Gesellschaft, die eben nicht auf Ausbeutung und Konkurrenz beruht, sondern auf gegenseitiger Hilfe und freier Vereinbarung; ein basisdemokratisch sozialistisches, egalitäres System.
Viel Spaß beim Lesen,
Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

(1) „Das hat mit Anarchismus nichts zu tun“ Argentiniens Präsident Milei pflegt Image als „Anarchokapitalist“. Medien übernehmen Selbstbezeichnung unkritisch. Ein Gespräch von Dominik Wetzel mit Bernd Drücke, in: junge Welt, Berlin, 06.07.2024, Seite 2, https://www.jungewelt.de/artikel/478820.pr%C3%A4sident-als-anarchokapitalist-das-hat-mit-anarchismus-nichts-zu-tun.html

Terminhinweis:
Vom 31.10. bis 3.11.2024 findet in Hamburg der re:FUSE-Kongress statt. Es beteiligen sich auch GWR-Autor*innen. Infos: https://www.re-fuse2024.org/de/index.html