Gwrklein

Editorial

Liebe Leser:innen,
am 21. Oktober ist der evangelische Pfarrer Lothar König im Alter von 70 Jahren in Jena gestorben. Er wurde am 11. März 1954 in Leimbach geboren und war eine großartige Persönlichkeit. „Lothar hat viel und intensiv gelebt“, so seine Tochter Katharina. Bis zum Ende sei er „Fußballer, Punk und Langhaariger“ gewesen, dessen krasser Freiheitsdrang immer seinen Weg bestimmte.
Kennengelernt habe ich Lothar vor 25 Jahren. Nachdem meine Doktorarbeit über „Libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland“ 1998 erschienen ist, lud er mich in die von ihm seit 1990 geleitete Junge Gemeinde (JG) nach Jena ein, um dort über meine Forschungsergebnisse zu den anarchistischen Untergrundblättern der DDR zu berichten. Es war eine bewegende Veranstaltung, die mir auch durch die intensive Diskussion im Anschluss an den Vortrag in Erinnerung geblieben ist. Lothar hatte schon damals einen beeindruckenden Rauschebart und sah dem Genossen Bakunin ähnlich. Er erzählte von den Übergriffen von Neonazis auf die JG und ihn persönlich. Was in den Nachrufen von Spiegel, taz (1) und Co. auf diesen bundesweit bekannten Antifaschisten kaum erwähnt wird, ist, dass er schon in den 1980ern aktiv in der Graswurzelbewegung der DDR war. Deren Ziel war nicht die Einverleibung der DDR durch die BRD, sondern ein freiheitlicher Sozialismus auf dem Boden der DDR. Lothar war 1989/90 an der Organisation der Montagsdemos und an Aktionen der Oppositionsbewegung beteiligt. Es war kein Zufall, dass, abgesehen von der DDR-Untergrund-Anarchozeitung „Kopfsprung“, nahezu alle DDR-Oppositionsblätter mit dem Verweis „Nur zur innerkirchlichen Information“ erschienen sind. Innerhalb der evangelischen Strukturen konnten seit 1978 „kircheninterne“ Publikationen erscheinen, die der ansonsten strengen Zensur durch die Stasi nicht unterlagen. Die „Kirche von unten“ war stark. Unter dem Dach der Jungen Gemeinden organisierten sich auch atheistische, libertär-sozialistische Gruppen und anarchistisch verfasste Zeitschriften wie „MoAning Star“, „Umweltblätter“ und „telegraph“ (2). Die Umweltbibliothek in Ost-Berlin hatte ihre Räume in der Zionsgemeinde und war ein Zentrum des Anarchismus in der DDR. Der Einfluss dieser kleinen Graswurzelbewegung war für das Anwachsen der DDR-Oppositionsbewegung insgesamt von großer Bedeutung, was ich in meiner Dissertation (3) aufzeigen konnte.
Lothar habe ich zuletzt im Mai 2018 auf einer bundesweiten Antifa-Demo gegen die AfD getroffen (siehe Foto auf dieser Seite). Die Graswurzelrevolution wird in seinem Sinne weiter gegen das Aufkommen des Faschismus und für eine solidarische Gesellschaft jenseits von Staat, Herrschaft und Gewalt eintreten. Ruhe in Frieden, lieber Lothar!

Ein Blick in die GWR 495

Im Februar 2025 wird voraussichtlich der rechte CDU-Politiker Friedrich Merz zum Kanzler gewählt. Unter ihm droht ein weiterer Rechtsruck und die verstärkte Remilitarisierung der Gesellschaft. CDU/CSU planen die Wiedereinführung von Zwangsdiensten, einer „richtigen“ Militärdienstpflicht bzw. eines „Gesellschaftsjahres“. Dazu bieten wir Euch auf den Seiten zwei bis acht jede Menge Lesestoff. Themen dieses antimilitaristischen Schwerpunkts sind u.a.: „Neue“ Militärdienstpflicht und Kriegsdienstverweigerung, Adbusting gegen Bundeswehrpropaganda, Repression gegen Atom-Kriegsgegner*innen, Zuvieldienst in Österreich, der Krieg in der Ukraine und die geplanten Militärmessen in Essen und Hannover. Als akustische Ergänzung könnt Ihr euch die SWR-Radiosendung „Wie umgehen mit Deserteuren?“ (4) von GWR-Autor Rolf Cantzen und den A-Radio-Mitschnitt meines im Dezember 2024 im Black Pigeon Dortmund gehaltenen Diavortrags zum Thema „Anarchistischer Antimilitarismus“ (5) anhören.
Einen weiteren Schwerpunkt der GWR 495 bilden auf den Seiten 13 bis 19 die Themen Klima und Atommüll. Den Auftakt dazu liefert Chiara Oschikas Artikel „Klimakrise als Fluchtursache“ (S. 13 f.). Am 29. Februar 2024 besetzten Aktivist*innen den rodungsgefährdeten Wald in Grünheide und brachten somit den Widerstand gegen die Tesla-Fabrik direkt an den Ort der Zerstörung. Unter dem Titel „Tesla stoppen!“ reflektiert ein*e Besetzer*in: „Waldbesetzungen sind Orte, an denen wir die Natur mit unseren Körpern beschützen. Neun Monate haben wir mit und in der Natur gelebt und uns ein Stück Utopie, jenseits des Kapitalismus, aufgebaut.“ (S. 14)
In den „sozialen Medien“ wird die Hauptschuld an der Klimakatastrophe nicht den 100 kapitalistischen Konzernen zugewiesen, die für 71 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich sind, sondern oft der Boomer-Generation. „Zur Klimaschuld der Boomer“ lautet dazu der Zwischenruf von Heike Knops (S. 15). Wolfgang Ehmke macht auf Seite 16 f. mit seinem Artikel „Unwucht in der Endlagersuche“ klar, dass wir im Kampf gegen die Klimakatastrophe und in der Auseinandersetzung um die Atomkraft und deren dreckige Hinterlassenschaften „viele Brückenbauer:innen zwischen den Bewegungen brauchen, die eines eint: das Wissen um die Notwendigkeit außerparlamentarischen Protests“.

Die drei Berichte aus Griechenland (S. 20 f.) sind ähnlich spannend wie Pınar Seleks Artikel „Jenseits der Repression“ (S. 11). Kathina Müssig berichtet aus Italien über die Unterdrückung von Menschen auf der Flucht (S. 9) und Kemal Bozay analysiert in seinem Leitartikel „Graue Wölfe“ den türkischen Rechtsextremismus und seine Netzwerke in Deutschland.
Maurice Schuhmann erinnert an den 120. Todestag der anarchistischen Feministin Louise Michel (S. 22). Gisela Notz stellt uns die kaum bekannte Anarchistin Nathalie Lemel (S. 23) vor.
Das Interview mit dem irisch-mexikanischen Politikwissenschaftler John Holloway macht ebenfalls Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten (S. 1).
Gute Nachrichten erreichen uns aus Südkorea, wo vor allem die gewaltfreien Demonstrant*innen den Versuch des rechten Präsidenten, mit Hilfe des Kriegsrecht eine Diktatur zu installieren, abwehren konnten. Ob die Massenproteste in Georgien die dort neu installierte rechte Regierung von Putins Gnaden zu Neuwahlen drängen können, steht dagegen in den Sternen.

Ausblick

In der GWR 496 wollen wir auch die aktuellen Entwicklungen in Syrien unter die Lupe nehmen. Es ist ein Grund zum Feiern, dass die Assad-Diktatur gestürzt wurde. Allerdings droht den Menschen in Syrien nun eine islamistische Diktatur, in der Frauen entrechtet sind und Minderheiten um ihr Leben fürchten müssen. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit greifen derzeit die von der türkischen Autokratie aufgerüsteten Islamisten die kurdischen Autonomie-Gebiete in Syrien an. In dieser Situation ist Hilfe erforderlich. GWR-Autor Michael Wilk arbeitet regelmäßig als Arzt in Rojava. Er bittet um Spenden (6).

Ich wünsche Euch ein schönes Jahr 2025, Anarchie und Glück,
Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

((1)) https://taz.de/Jugendpfarrer-Lothar-Koenig-ist-tot/!6044444/
((2)) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2009/11/die-
beschleunigung-der-zeit-trat-ein/ ; https://www.graswurzel.net/gwr/2009/12/die-beschleunigung-der-zeit/ ; https://www.graswurzel.net/gwr/2009/06/anarchy-in-east-germany/
((3)) Siehe: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
((4)) https://www.swr.de/swrkultur/wissen/wie-umgehen-mit-deserteuren-das-wissen-2024-12-06-100.html
((5)) https://www.aradio-berlin.org/?s=Anarchistischer+Antimilitarismus
((6)) Michael: „Eure Spenden erreichen ihr Ziel und helfen den Menschen vor Ort. Jeder Beitrag ist willkommen: Dr. M. Wilk, „Gesundheitsaufbau“, IBAN DE77510500150173070939, BIC NASSDE55XXX. Ich kann keine steuerwirksame Quittung ausstellen. Dafür garantiere ich, dass 100% der Spenden für humanitäre Projekte in Rojava Verwendung finden.“